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Schaffen und Kämpfen
Dresden, das ich in meinem 20. Lebensjahr zuerst besucht hatte, schwebte mir schon in meinen Knabenjahren als ein Erdenparadies vor Augen. Mein Tante Konstanze Weber, eine Schwester des nachmaligen Konsistorialpräsidenten von Uhde, war Dresdnerin. Sie war die Lieblingsschwägerin meines Vaters, der sie mit dem alten Scherzwort zu grüßen pflegte, sie sei ja aus »Sachsen, wo die schönen Mädchen auf den Bäumen wachsen«. Ließ dieser Spruch das anmutige, von der Elbe durchströmte Land in meiner kindlichen Einbildungskraft als Märchenreich erscheinen, so trugen die Erzählungen meiner Tante von den Herrlichkeiten ihrer Vaterstadt das ihre dazu bei, mich, als ich heranwuchs, mit Sehnsucht nach der Stadt zu erfüllen, die ihren heute etwas verbrauchten Namen »Elbflorenz« mit vollem Rechte trug. Von der schneeweißen Frühlingsblüte erzählte sie, die das ganze Elbtal von Pillnitz bis Meißen in einen zarten Brautschleier hülle, von der alten prächtigen Bogenbrücke, die die stattlichen sich links und rechts im Strome spiegelnden Bauten zu einer einzigen großen Stadt verbinde, von der Brühlschen Terrasse, von der der Blick über den von Dampfschiffen belebten Fluß hinweg auf ferne blaue Berge schweife, und vor allem von den Wundern der Dresdner Gemäldegalerie, von Rafaels Madonna und von Correggios heiliger Nacht, die dem religiösen Empfinden gläubiger Seelen neue Weihe verliehen.
Seit ich Dresden kennengelernt, hatte ich den stillen Wunsch gehegt, in ihm meine alten Tage zu verleben. Jetzt war mir vergönnt, noch im frischen Mannesalter in verantwortlicher Stellung in Dresden einzuziehen; und ich hatte nun gleich das Gefühl, daß eine Fortberufung in eine andere Stellung einer anderen Stadt, die mir lieber gewesen wäre, ausgeschlossen sei und ich meine alten Tage daher in der Tat in Dresden verleben würde. Ich fühlte mich von nun an als Dresdner und sah die schöne, waldumkränzte, an Kunst und Leben reiche Hauptstadt Sachsens als meine zweite Vaterstadt an.
Dresden war damals, so gut wie Düsseldorf, seinem bürgerlichen Zuschnitt und Gebaren nach eine Mittelstadt. Zur Großstadt entwickelte es sich, wie Düsseldorf, erst in dem nächsten Menschenalter. Aber freilich verlieh ihm schon der Königshof mit seinen glänzenden Überlieferungen, mit seinen köstlichen Bauschöpfungen aus Sachsens Großmachtstagen und mit seiner feingebildeten, zum Teil auch wohlhabenden Geburts- und Berufsadelsgesellschaft, mit seinen immer noch großmächtigen Kunstanstalten und Sammlungen und mit seinen allerdings auf die eng umgrenzten Hofkreise beschränkten Festen und Veranstaltungen einen selbstverständlichen Mittelpunkt, dessen Umkreis sozusagen eine Stadt in der Stadt bildete; und freilich konnte die schmucke Rheinstadt, die ich verlassen hatte, sich an künstlerisch wirkendem Zusammenschluß ihrer Bauanlagen in sich und mit der landschaftlichen Umgebung nicht mit der schönen Elbstadt vergleichen, die mich aufnahm. Aus der Ferne gesehen, von der vornehm ansteigenden Steinkuppel der Frauenkirche George Bährs in der Tat beherrscht, wie Florenz von der Kuppel Brunellescos, in ihrer Mitte in schönem Bogen von einem so breiten und rauschenden, malerisch überbrückten und reich belebten Strome durchflossen, wie keine zweite Stadt Deutschlands, bequem eingebettet in die breite Elbtalsohle, die am rechten Ufer von waldigen, den Stadtsaum einsaugenden Höhenzügen, am linken Ufer von fruchtbaren, obstreichen Hügeln begrenzt wird, wächst Dresden so unmittelbar aus seiner Landschaft heraus und in sie hinein wie keine andere mitteleuropäische Stadt gleicher Größe. Die Kunst, zugleich in der Stadt und auf dem Lande zu wohnen, von der der alte Römer Plinius sagt, Epikur habe sie der Welt beigebracht, war in Dresden früher zu Hause als in den meisten anderen Städten unseres Vaterlandes.
Ich war mir dieser Vorzüge Dresdens von Anfang an bewußt und gewillt, sie in vollem Maße auszunutzen. Die Wohnung an der Wiener Straße, die wir gemietet hatten, lag frei in ihrem Garten und nur wenig Schritte von den öffentlichen Parkanlagen entfernt. Für Fahrten auf der Elbe brachte ich mein Alsterboot vom Rheine mit. Für Fahrten zu Lande hatte ich mir einen hübschen Einspänner angeschafft. Radienweise durchfuhren wir den landschaftlichen Umkreis der Stadt, dem die verschiedenen Wald- und Wiesengründe, die von der Hochebene zum Elbtal hinabführen, eine seltene Mannigfaltigkeit landschaftlicher Einzelbilder verleihen. Daß Wanderungen unsere Fahrten ergänzten, versteht sich von selbst. Ich glaube, wir haben die reizvolle nähere Umgebung Dresdens in Jahresfrist besser kennengelernt als die meisten geborenen Dresdner. Nur ein tägliches Aufatmen in freier Natur hat mir von jeher großstädtische Pflichten erträglich gemacht.
An kunstgeschichtlich bedeutsamen Einzelbauten hatte Düsseldorf sich vollends nicht mit Dresden messen gekonnt. Musterbeispiele der großen mittelalterlichen Baukunst gab es freilich hier so wenig wie dort; aber von der deutschen Renaissance an ließ die Weiterentwickelung der deutschen Baukunst sich hier doch in Prachtbauten verfolgen. Wie frisch und zart schon die deutsche Frührenaissance im alten Residenzschloß in der Stadt! Wie fein gegliedert und reich geschmückt schon der Spätrenaissancebau des Schlosses im Großen Garten! Wie fest und groß auf dem Neumarkt die Frauenkirche, das Vorbild machtvoller protestantischer Kirchenbaukunst! Wie prächtig hingelagert und aufgebaut das schon fast klassizistische »Japanische Palais« in seinem Blütengarten jenseits der Elbe. Ich hatte die Empfindung, daß die künstlerisch durchempfundenen Bauwerke dieser Art, die ich in Dresden nun täglich vor Augen hatte, dem ästhetischen Gleichgewicht meines Seins und Wirkens Halt und Rückgrat verliehen.
Daß ich mich in Sempers vornehmem Museumsbau, der die italienische Frührenaissance im Äußeren freilich reizvoller und überzeugender verdeutscht als im Innern, als Herrn im Hause fühlen durfte, erfüllte mich mit stolzer, wenn auch halb zaghafter Freude. Vor allem aber waren es zwei Bauten Pöppelmanns, des großen Baumeisters der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die ich bei meinem Einzug in Dresden als alte, liebe Freunde begrüßte. Matthias Daniel Pöppelmann! Wenn ich damals gewußt hätte, was Sponsel vor kurzem entdeckt hat, daß der geistvolle Meister westfälischen Stammes war wie ich, ja, daß Herford, die anmutige Nachbarstadt Bielefelds, seine Heimat gewesen, hätte ich mich mit seinen Bauten noch enger verwachsen gefühlt, als es sowieso der Fall war. Daß Pöppelmann die herrliche, mit ihren eng und edel aufstrebenden Bogen fast mittelalterlich standfest dreinblickende Augustusbrücke, zugleich aber und vor allem den leichten, luftigen, reichgeschmückten Zierbau des Zwingers geschaffen hatte, ließ ihn mir als selbständigen, vielseitigen Meister erscheinen, der immer wußte, was er wollte, sein »Kunstwollen« aber in jedem Einzelfalle, frei von allen Schulvorurteilen, der Aufgabe anzupassen verstand, die ihm gestellt war. Die Augustusbrücke, der Zwinger und obendrein noch die klassizistisch strengste Seite des Japanischen Palais, wer, der es nicht wüßte, würde diese unter sich so verschiedenen Bauten für Schöpfungen desselben Genius halten, der jeden Stil so meisterte, als gehöre er ihm allein an?
Der Zwinger, dessen Name, der Stelle des alten Festungswalles entnommen, an der er errichtet wurde, nicht ahnen läßt, daß er dem heitersten, lichtesten Gartenfestbau der Welt gegeben ist, war, als ich Dresden in meiner Studentenzeit zum ersten Male betrat, als verwerflicher Barock- oder gar Rokokobau in der weiteren Öffentlichkeit noch verlästert und vernachlässigt, war seitdem aber, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt in den sich ändernden Zeitgeschmack hineinwachsend, in der Schätzung der Nachwelt wieder emporgestiegen. Jetzt war er längst als eines der großen Meisterwerke der Weltbaukunst anerkannt. Daß sein ältester Teil, der prächtige Pavillon- und Arkadenbau unter dem westlichen Zwingerwall, ursprünglich als Orangerie gedacht und aufgeführt war, daß sich erst allmählich, während man an seiner längeren Südseite in dem gleichen Schmuckstil weiterbaute, der Gedanke Bahn brach, ihn an Stelle der älteren Dresdner Amphitheater zu einer Arena für die aus den ritterlichen Turnieren des Mittelalters hervorgewachsenen Ringstech- und Karussellreitspiele auszubauen, und daß erst zu allerletzt, als auch die Ostseite schon geschlossen war und nur die Nordseite noch offen stand, die Pläne auftauchten, ihn als Vorhof großartiger, bis zur Elbe hinabreichender Schloßbauten zu benutzen, wußten wir damals noch nicht. Wir sahen ihn nur, wie er war, und bewunderten ihn, wie wir ihn sahen. Aber das einzig schöne, lebendig klare Ebenmaß der Gesamtanlage und ihrer Einzelgliederung im durchaus frei und selbständig behandelten Stile des römischen Spätbarocks mit den Wasserwerken, die den ganzen Bau durchzogen, mit den kraus spielenden barocken Einzelmotiven, die seiner klassischen Klarheit keinen Abbruch taten, mit den Blütenranken, die ihn umschlangen, und mit dem überaus reichen Schmuck an sprechendem plastischen Bildwerk, das keine leeren Flächen duldete, hatte es uns mächtig angetan.
Den Zwinger wiederzusehen hatte ich mich, als ich Dresden wieder betrat, besonders gefreut; und jetzt, da ich ihn, um zur Galerie zu gelangen, Tag für Tag durchschreiten mußte, wuchs der Märchenbau mir von Tag zu Tag fester ans Herz. Von Tag zu Tag kam es mir nun aber auch klarer zum Bewußtsein, wie bedauerlich es sei, daß Semper, vom sächsischen Landtag dazu gezwungen, den Edelbau seines neuen Museums dem Zwinger an dessen offengebliebener Nordseite so unorganisch hart und nahe auf den Leib gerückt hat, daß ihm der Atem ausgehen zu wollen scheint.
Aber sei dem, wie ihm wolle, wie einem jungen Gott war mir zumute, als ich nun Tag für Tag den weiten, so köstlich umrahmten Zwingerhof durchschritt und das immerhin vornehme Innere des Galeriegebäudes betrat, dessen östlichste und westlichste Säle durch Brücken mit dem Zwingerpavillon verbunden waren. Wie köstlich vom westlichen Pavillon der Blick hinunter in das »Dianabad«, das das malerischste Stück des Zwingers unter dem alten Festungswall bildet! Galerie und Zwinger waren dadurch ineinander übergeleitet und, wenn auch etwas äußerlich, miteinander verschmolzen.
Ich Glücklicher! Alles das war nun meiner Obhut anvertraut, und täglich durfte ich der Sixtinischen Madonna Rafaels und ihrem göttlichen Knaben in die tiefen, Welterlösungsgeheimnisse ausstrahlenden Augen blicken, täglich mich an den Gluten von Rembrandts großem alttestamentlichen Opferbild mit den vor der Opferflamme knienden Eltern Simsons berauschen und täglich an der Hand Goethes mich in die Gedanken- und Empfindungswelt Ruisdaels, des großen Landschaftsmalers, vor dessen »Judenkirchhof« vertiefen.
Gleich in den ersten Tagen nach meiner Ankunft in Dresden ließ der König mich zu sich entbieten. Daß ich von Haus aus, wenn auch nicht antimonarchisch, so doch auch nicht eben monarchisch gesinnt war, habe ich schon erwähnt. Schon lange vor dem Weltkrieg habe ich bei meinen Dresdner Freunden oft genug Anstoß erregt, wenn ich bekannte, daß der »monarchische Gedanke« als solcher mir wesensfremd sei; ich hielt und halte es lediglich für eine Frage der geschichtlichen Voraussetzungen und Entwicklungsrichtungen eines Landes, ob es Monarchie oder Republik ist; und selbstverständlich fiel es mir damals nicht im entferntesten ein, die Herrschaft der monarchischen Staatsform in den deutschen Ländern in Frage zu ziehen.
Ich hatte aber zum ersten Male eine Stellung angenommen, die mich in mehr oder weniger unmittelbare Berührung mit einem Monarchen brachte. Die »königlichen« Sammlungen Dresdens, die von Haus aus dem Monarchen unterstanden hatten, waren in Sachsen allerdings schon 1831 dem Staate zur Verwaltung und Vermehrung übergeben worden. Die Sammlungsbeamten waren nicht Hofbeamte, sondern Staatsdiener. Aber der große Grundstock aller sächsischen Staatssammlungen war doch königliches Hausfideikommiß geblieben. Daß die Herrscher Sachsens sich, ganz abgesehen von ihrer künstlerischen oder wissenschaftlichen Anteilnahme an den Sammlungen, mit ihnen verwachsen fühlten, versteht sich daher von selbst.
Nicht ganz ohne Beklemmung betrat ich das Residenzschloß und den großen Audienzsaal, in dessen Mitte König Albert mich stehend empfing. Ich wußte nur vom Hörensagen, in welchen Formen und Redewendungen der Verkehr mit »allerhöchsten« Herrschaften sich zu bewegen hatte. König Albert aber war, wenn auch nicht eben groß von Wuchs, eine so herzgewinnende Persönlichkeit, er schaute mich aus seinen klugen und guten blauen Augen so strahlend an, er sprach so verständnisvoll schlicht und natürlich mit mir, daß mir jede Befangenheit sofort vergehen gemußt hätte. Ganz muß das aber doch wohl nicht der Fall gewesen sein; denn ich hörte am nächsten Tage, der König habe gesagt, ich scheine ein recht zugeknöpfter Hamburger zu sein. Ihm näher zu treten aber war meine Hofrangklasse, wenigstens anfangs, nicht hoch genug. Im übrigen empfand ich es peinlich, so erklärlich es bei der Fülle »königlicher« Staatsbeamten schon aus räumlichen Gründen war, daß meine Frau, ohne die eingeladen zu werden, mir demütigend erschien, nicht hoffähig war. Die Hoffähigkeit der Frauen bürgerlicher Beamter begann wohl erst mit dem Titel »Exzellenz«. Ich mußte also ohne sie auf den Hoffesten erscheinen.
Natürlich hatte ich ein offenes Auge für die Pracht der Festräume des Schlosses mit den damals trotz ihrer Schwächlichkeit berühmten Bendemannschen Wandgemälden und dem blendend schimmernden Porzellan-Rundsaal, für die farbige Fülle schöner Frauen in weit ausgeschnittenen Seidenkleidern und wohlgestalteter Männer in glänzenden Militär- und Ziviluniformen, die in der blendenden Lichtfülle hin und her wogte, und für die köstlichen Gold- und Silbergeschirre aus dem Grünen Gewölbe, mit denen die Festtafeln bei solchen Gelegenheiten geschmückt waren, und ich hatte auch ein offenes Ohr für allen Wohlklang der rauschenden Hofmusik, der leicht dahinfliegenden Unterhaltung und der flüchtigen Worte, mit denen befreundete und bekannte Damen und Herren mich auf den Hoffesten begrüßten. Aber im Grunde meines Herzens habe ich mich in diesem höfischen Glanze niemals an meinem Platze gefühlt und mich ihm entzogen, sobald es erlaubt war. Die allein mögliche Art, wie die »allerhöchsten« Herrschaften, »Cercle« machend, auf den großen Festen mit den einzelnen einige Worte wechselten, brachten Wirt und Gäste einander natürlich nicht näher. Hier und da traf ich den König aber wohl in Ausstellungen, Konzerten und anderen Veranstaltungen oder gar, vorher angesagt, in den Räumen der Galerie; und dann würdigte er mich wohl längerer Unterhaltungen, die mir wohltuende Einblicke in sein reiches Wissen, seine ritterliche Gesinnung und sein menschliches Wohlwollen gestatteten. Es kennzeichnet seine Art, daß er, als er mir und meiner Frau einmal in einer Ausstellung begegnete, auf uns zukam und mich mit bürgerlicher Einfachheit und Liebenswürdigkeit bat, ihn meiner Frau vorzustellen. Ich habe ihm das nie vergessen.
Die Pflege der künstlerischen Interessen hatte König Albert amtlich seinem jüngeren Bruder, dem Prinzen Georg, übertragen, der schon längere Zeit Kurator der Akademie der bildenden Künste und Ehrenvorsitzender des Akademischen Rates mit beratender Stimme gewesen, jetzt aber, gerade zur Zeit meines Eintritts in das Kunstleben Dresdens, wie schon bemerkt, auch zum stimmberechtigten Mitglied und Ehrenvorsitzenden der Galeriekommission ernannt worden war. Daß der Prinz Georg innerlich nähere Beziehungen zur Kunst hatte als König Albert, glaube ich nicht; ihrem Vater, dem berühmten Danteforscher und -übersetzer, König Johann von Sachsen, tat es in dieser Hinsicht keiner der beiden Brüder gleich. Aber es gehörte zur Überlieferung des Königshauses, daß der Herrscher dem Thronfolger auf einem festumschriebenen Gebiete den Vortritt einräumte; und König Albert fühlte sich selbst in solchem Maße zunächst auf musikalischem Gebiete zu Hause, daß er es gern dem Prinzen überließ, sich in den bildenden Künsten zurechtzufinden. Dem Prinzen Georg fehlte wohl die natürliche Liebenswürdigkeit und Herzenswärme seines königlichen Bruders; er war strenger und herber veranlagt als dieser; aber er hatte mit ihm die Erziehung zu tadellosen Umgangsformen, zu peinlicher Gewissenhaftigkeit und unbeirrbarem Gerechtigkeitssinn geteilt. Es ist nie der Schatten eines Mißverständnisses zwischen uns gefallen. Wenn er in Kunstfragen von Haus aus anfänglich weiter rechts stand als ich, so war es sein gutes Recht, seinen Standpunkt auch mir gegenüber zu vertreten; aber er hat verhältnismäßig selten Gebrauch hiervon gemacht und noch seltener gegen meine Vorschläge gestimmt, wenn ich diese eingehend und ausreichend begründete.
Nachdem ich schon am 15. Oktober 1882 durch den Minister von Gerber und seinen vortragenden Rat, Wilhelm Roßmann, in meine Ämter eingewiesen worden war, wurden der Prinz und ich zugleich am 4. November in die Galeriekommission eingeführt. Das Vertrauen, das man mir entgegenzubringen schien, tröstete mich über die peinliche Empfindung der Beschränkung meiner Selbständigkeit durch die Befugnisse der Kommission, die mir allerdings in bezug auf die Wiederherstellung schadhafter Bilder willkommen genug war.
Die damaligen Mitglieder der Galeriekommission gehörten zu den angesehensten Dresdner Malern jener Tage, aber keiner von ihnen zu den Künstlern, die die Nachwelt feiert. Der Akademieprofessor Theodor Grosse (1829-91) war Bildhauer gewesen, ehe Bendemann ihn der Malerei zuführte. Er war, seiner äußeren Erscheinung nach klein und unbedeutend, eine liebenswürdige, feine Natur, als Maler aber, wie schon sein großes Bild der Seelenlandung im Büßerland Dantes in der Galerie zeigte, bei allem Schönheitsgefühl, das er anstrebte und erlernt hatte, ein Vertreter des regelrechten akademischen Stils im kältesten Sinne des Wortes. Am annehmbarsten war seine rafaelische Renaissancezierkunst, wie er sie z. B. in dem neuen Opernhause zur Geltung brachte. Friedrich Preller der Jüngere (1838 bis 1901), der Professor der Landschaftsmalerei an der Dresdner Akademie, war ein Sohn und Schüler Friedrich Prellers des Älteren, dessen bekannte »Odysseelandschaften« in der Leipziger Universitätsbibliothek und im Weimarer Museum trotz des Kochschen Klassizismus, an den sie anknüpfen, in ihrer Art klassische Geltung erhielten. Die Landschaftskunst unseres Dresdner Preller, der eine nicht minder feine und liebenswürdige menschliche Persönlichkeit war als Grosse, suchte sich über sein väterliches Erbteil hinaus durch die Annäherung an eine naturwahrere und farbeneinheitlichere Auffassung im Sinne der damaligen Jugend zu bereichern, blieb aber, so frische Naturskizzen seinen Bildern manchmal zugrunde lagen, doch in herkömmlicher Halbheit stecken.
Ernst Erwin Oehme der Jüngere (1831-1907), ein Sohn und Schüler seines Vaters Ernst Ferdinand Oehme, der zu den tüchtigen Nachfolgern des in seiner Art bahnbrechenden Landschafters Johann Christian Claussen Dahl in Dresden gehört hatte, bekannte sich zu der jüngeren, »koloristischeren« Richtung, die z. B. sein Deckenfries über Ferdinand Kellers Vorhang im Dresdner Opernhaus im Gegensatz zu Grosses Musen im Deckenrund erstrebte, war aber nicht schöpferisch genug veranlagt, um über ein anständiges Mittelmaß hinauszuragen. Frischer und derber als Grosse und Preller empfand er auch im Umgang mit Menschen. Paul Kießling (1836-1921) war Schüler Julius Schnorr von Carolsfelds an der Dresdner Akademie gewesen, hatte sich aber in Antwerpen und Paris der modernen realistisch-koloristischen Richtung angeschlossen. Sein bestes Bild dieser Richtung ist wohl seine elegante, Rot in Rot gestimmte Damenbildnisgruppe der Dresdner Galerie geblieben. In der Bildnismalerei brachte er es auch weiterhin zu Erfolgen. Als Mensch war er, spiritistisch und doch mißtrauisch veranlagt, ein geistvoller, auch poetisch begabter Freund seiner Freunde. Uns ist der warmherzige, edelempfindende Junggeselle vierzig Jahre lang ein lieber und treuer Hausfreund gewesen. Ich bewahre zahlreiche an mich gerichtete Sonette seiner Hand, in denen er mir sein Herz entdeckte.
Theodor von Goetz, Oberstleutnant a. D. (1826-92), war als Maler nur Liebhaber. Sein Bild der Dresdner Galerie, die Begegnung König Alberts nach der siegreichen Schlacht bei Beaumont mit seinem Bruder, dem Prinzen Georg, auf dem Schlachtfelde darstellend, beide Fürsten hoch zu Roß, hatte einen gewissen geschichtlich-gegenständlichen Wert, gehörte aber eigentlich nicht in die Gemäldegalerie, für die die Pröll-Heuer-Stiftung es 1887 erwarb. Wegen dieses Bildes war Theodor von Goetz, übrigens ein Ehrenmann vom Scheitel zu den Zehen, gerade kurz vor meiner Übernahme der Geschäftsleitung in die Galeriekommission berufen worden. Wohl nicht in seiner Eigenschaft als Maler, so hübsche Aquarelle er auch für seine Freunde malte, sondern als Vertreter der kunstsinnigen Bürgerschaft Dresdens gehörte der feinbegabte Architekt Max Hauschild, ein vielseitig ausgezeichneter Mann, mit dem und dessen Familie mich heute noch treue Freundschaft verbindet, der Kommission an. Für Bilderherstellungsfragen aber war der Leipziger Chemiker und Hygieniker, Universitätsprofessor Dr. Franz Hofmann, ein Schüler des berühmten Münchner Professors Max von Pettenkofer, zum Mitglied der Galeriekommission ernannt worden. Doch wurde er nur zu den Sitzungen eingeladen, wenn besondere, mehr chemische als künstlerische Fragen auf der Tagesordnung standen.
Mit dem Prinzen und den übrigen sechs Mitgliedern der Kommission, von denen keines eine ausgesprochen künstlerische Persönlichkeit war, keines sich irgendeiner Kennerschaft auf dem Gebiete der alten Gemäldekunde rühmen konnte, hatte ich mich bei Bilderankäufen und Bilderrestaurationen sowie in allen Hauptfragen, die die Galerie betrafen, auseinanderzusetzen. Persönlich stand ich zu allen in den freundschaftlichsten Verhältnissen. Hatten die meisten von ihnen doch liebenswürdige Frauen, die sich mit der meinen freundlichst verstanden, und gehörten ihre Häuser doch zu den ersten in Dresden, die sich mir und meiner Frau gastfrei öffneten. Amtlich aber waren wir nicht selten verschiedener Meinung.
Als »modern« galten damals noch jene Meister mit mehr oder weniger realistischer Auffassung und saftig malerischer Pinselführung, die auf den Schultern der Belgier und Franzosen der Mitte des 19. Jahrhunderts standen. Bis zu ihnen reichte auch die neuzeitliche Gesinnung der Dresdner Galeriekommission. Schon vor meinem Amtsantritt hatte sie Bilder wie Pauwels' »Graf Philipp vom Elsaß im Marienhospital zu Ypern«, Defreggers »Abschied von der Sennerin«, Knaus' »Hinter dem Vorhang«, Friedrich August Kaulbachs »Maitag« und Karl Hoffs »Des Sohnes letzter Gruß« erworben; Menzel, Lenbach und andere aber fehlten noch.
Noch gab es keine »Sezessionen« von den Kunstgenossenschaften. Noch drang die Kunde von der jungen »impressionistischen« Freilichtmalerei der Franzosen und ihren ersten Anhängern in Deutschland, wie Max Liebermann und Fritz von Uhde, dessen Vater der Konsistorialpräsident in Dresden war, wie eine Mär aus der Fremde ins Dresdner Kunstleben herein; aber schon in den allernächsten Jahren nahm diese Mär, näher und näher kommend, eine greifbare Gestalt an. Hatte Uhde doch schon 1883 in München seine prächtigen, ganz vom Freilicht umflossenen »Trommler« gemalt, für deren Ankauf für Dresden ich damals vergebens eintrat und erst 24 Jahre später die Zustimmung der Kommission fand. Und neben den Freilichtmalern standen die ausgesprochenen Vertreter einer neuen deutschen Eigenkunst, wie Arnold Böcklin, Max Klinger und Hans Thoma, denen die jüngere deutsche Kunstwissenschaft damals huldigte. Meine Versuche, Bilder von jenen ersten deutschen Freilichtmalern und diesen jungdeutschen Phantasiekünstlern für die Galerie zu erwerben, stießen noch ein Jahrzehnt lang auf lebhaften Widerstand der Kommission. In den ersten drei Jahren meiner Amtstätigkeit konnte ich daher von neueren deutschen Meistern aus Staatsmitteln nur den Ankauf von Bildern wie Andreas Achenbachs »Wassermühle«, Eduard von Gebhardts »Pflege des Leichnams Christi«, Franz von Defreggers »Sensenschmiede«, Gabriel Max' »Vaterunser« und Karl Spitzwegs »Kirchgang bei Dachau« durchsetzen. Gebhardts »Waschung des Leichnams Christi« war übrigens das letzte Bild, das durch den aus der französischen Kriegsentschädigung 1873 bewilligten, nicht unbedeutenden »Kunstfonds« erworben werden konnte. Seit 1884 war die Galerieverwaltung für die Erwerbung von Gemälden auf die in der Regel sehr geringen Mittel angewiesen, die ihr für jede der zweijährigen sächsischen Finanzperioden bewilligt wurden.
Übrigens traten rechtlich und tatsächlich weder die Kommission noch die Direktion als Käufer auf. Wir konnten nur Vorschläge machen. Käuferin war die Generaldirektion der königlichen Sammlungen, also der Minister Karl von Gerber mit seinem Vortragenden Rate Wilhelm Roßmann, die ihrerseits für die Erwerbung jeden Bildes die Genehmigung des Königs einzuholen hatten. Wie sehr dem Direktor durch dieses umständliche Verfahren die Hände gebunden waren, bedarf keiner weiteren Erörterung. Natürlich suchte ich zunächst die mit uns an einem Strange ziehende Ecke der Galeriekommission zu verstärken. Unter den damals in Dresden lebenden Malern gab es kaum einen, der sich eines wirklich europäischen Rufes zu erfreuen gehabt hätte, wie doch die Dresdner Bildhauer vom Schlage Julius Hähnels, Johannes Schillings und Robert Diez'. Ferdinand von Rayski (1806-90), der sich nicht träumen ließ, daß er, durch die Berliner Jahrhundertausstellung von 1906 wieder ans Licht gezogen, 1920 den Hauptsaal der neuen Abteilung der Dresdener Galerie mit seinen Bildern füllen würde, lebte damals noch einsam und vergessen in Dresden. Ich glaube, ich habe ihn nie kennengelernt. Der Düsseldorfer Schadowschüler und Dresdner Akademieprofessor Heinrich Hofmann (1824-1911), dessen »Jesusknabe im Tempel«, sein kurz vor meiner Berufung für die Galerie erworbenes süßliches Hauptbild, das meistkopierte Bild der Abteilung neuerer Maler wurde, erfreute sich zwar einer großen Beliebtheit, namentlich im angelsächsischen Ausland, war aber doch, ein so liebenswürdiger Mensch er war, kein Künstler nach meinem Herzen. Julius Scholtz (1825-93), der aus der Schule Julius Hübners stammte, sich aber in Belgien und Frankreich die geschmeidigere Pinselführung und einheitlichere Farbengebung der Mitte des 19. Jahrhunderts erworben hatte, war in malerischem Sinne wohl der stärkste der damaligen Dresdner. Ich hätte ihn gern in der Galeriekommission gesehen, wenn nicht schließlich der Belgier Ferdinand Pauwels (1830 bis 1904), der als Originalvertreter der guten belgisch-französischen Durchschnittskunst des dritten Viertels des 19. Jahrhunderts 1876 zur Auffrischung der Dresdner Malerei an die Dresdner Kunstakademie berufen worden war, als der gegebene Meister erschienen wäre, auch der Galeriekommission neues Leben zuzuführen. Auf meinen Antrag wurde er 1884 zum Mitglied der Galeriekommission ernannt; und er wurde offenbar eines ihrer verständnisvollsten und tüchtigsten Mitglieder; aber es zeigte sich bald, daß er, wie manche tüchtige Meister, nur ungern aus seiner eigenen Haut herausblicken mochte und weder für die französisch-deutsche Lichtmalerei noch für die neudeutsche Eigenkunst das Herz besaß, das ich mir gewünscht hatte.
Die Hauptquelle der Erwerbung neuerer deutscher Bilder für die Gemäldegalerie aber wurde, namentlich seit der Erschöpfung des »Kunstfonds« von 1873, die vielbesprochene Pröll-Heuer-Stiftung, deren Satzungen freilich ein zweischneidiges Schwert waren. Sie war erst 1880, zwei Jahre ehe ich nach Dresden kam, ins Leben getreten. Der Maler Max Heinrich Eduard Pröll (1804-79), der sich nach seinem Pflegevater, dem Farbenfabrikanten Anton Heuer, Pröll-Heuer nannte, hinterließ nicht etwa der Galerie, sondern dem Akademischen Rat sein für die damalige Zeit nicht unbedeutendes Vermögen als Stiftung, aus deren Zinsen nach Auswahl nicht etwa der Galerieverwaltung, sondern des Akademischen Rates Gemälde lebender deutscher Künstler, womöglich auf Dresdner Kunstausstellungen, für die Dresdner Galerie erworben werden sollten. Es war dem Stifter offenbar noch mehr darum zu tun gewesen, das Dresdner Ausstellungswesen und die jungen deutschen Künstler als die Galerie zu fördern.
Die Dresdner Kunstausstellungen, die damals in völlig ungenügenden Räumen des alten unscheinbaren Akademiegebäudes auf der Brühlschen Terrasse stattfanden, waren bis dahin fast nur von Dresdner Künstlern beschickt worden. Die Aussicht, für die Dresdner Galerie angekauft zu werden, führte ihnen von nun an freilich zahlreichere und bessere Gemälde aus ganz Deutschland zu; und wenn man die stattliche Reihe guter Bilder damals lebender deutscher Künstler überblickt, die durch die Pröll-Heuer-Stiftung erworben worden, so wird man die Vorwürfe, die ihren Ankäufen, wenn auch zum Teil mit Recht, gemacht worden sind, doch nicht so verallgemeinern dürfen, wie es hier und da geschieht.
Die Gefahren, die das Ankaufssystem der Stiftung für einen gesunden Zuwachs der Galerie in sich trug, liegen freilich auf der Hand. Selten erschienen die besten Gemälde, die in Deutschland gemalt worden waren, gerade auf den akademischen Ausstellungen Dresdens. Da aber jeder Künstler sich und seine Schüler in voller Ehrlichkeit für die besten hält, suchten die Dresdner Meister, die dem Akademischen Rate angehörten, selbstverständlich sich und ihre Schüler oder doch ihre Richtungsgenossen durch die Ankäufe zu fördern; und natürlich kam es dabei oft zu Kompromissen, die mehr im Interesse der lebenden Künstlerschaft als der Galerie lagen. Jedenfalls wurden die Mittel, um allen gerecht zu werden, öfters zersplittert als für wirklich bedeutende Erwerbungen zusammengehalten.
Die Galerie alter Meister in einer ihrer würdigen Weise zu bereichern, fehlte es in Dresden nach Erschöpfung des Kunstfonds von 1873 völlig an Mitteln. Die Fäden des Weltmarktes alter Bilder, die damals, dank Bodes Verdienst, in Berlin zusammenliefen, berührten Dresden daher auch kaum. Ich war in bezug auf Gemälde alter Meister nur auf Gelegenheitsankäufe angewiesen. Leider hatte ich gleich mit meinem ersten Ankauf auf diesem Gebiete Unglück. Eine Madonna von Lorenzo Lotto war von zwei deutschen Kennern ersten Ranges, die sie bei einem bekannten Kunsthändler in Florenz gesehen hatten, zum Ankauf für die Galerie empfohlen worden. Da dies Bild nicht wohl zur Ansicht geschickt werden konnte, schlug ich der Kommission im Vertrauen auf jene beiden Kenner vor, das Bild, das nicht teuer sein sollte, der Generaldirektion ausnahmsweise zum Ankauf zu empfehlen, ohne es gesehen zu haben. Es wurde gekauft. Nach seiner Ankunft aber stellte es sich bald heraus, daß es doch nur eine gute alte Kopie sei. Ich lernte daraus, daß auch die besten Kenner, selbst zu zweien, nicht unfehlbar sind, und habe natürlich nie wieder ein Bild zum Ankauf vorgeschlagen, das ich nicht selbst geprüft hatte. Gute alte holländische Bilder, die in meiner ersten Dresdner Zeit erworben wurden, waren eine Landschaft von Jan Vermeer van Haarlem d. Ä. und ein Seestück von Hendrik Dubbels. Dann konnten acht Jahre lang überhaupt keine alten Bilder für die Galerie mehr erworben werden.
Die Sorge für die Vermehrung der berühmten Galerie, deren Leitung ich übernommen, stand wegen der Geringfügigkeit der mir zur Verfügung stehenden Mittel hinter der Sorge für die Erhaltung ihrer unvergleichlichen Schätze zurück. Ein neues Verfahren, trüb und undurchsichtig gewordene Firnisse wieder aufzuhellen und ganzen Galerien dadurch ein frisches, erneutes Ansehen zu verleihen, das von Pettenkofer erfundene » Regenerationsverfahren«, war von München ausgegangen. Solange Pettenkofer das Geheimnis seines Verfahrens wahrte, wurde es von manchen Seiten als schwere Gefährdung der Bilder aufs heftigste bekämpft. Seit Pettenkofer das Geheimnis gelüftet und sich herausstellte, daß nichts anderes hinter ihm steckte als die Erfahrung, daß die natürlichen kalten Ausdünstungen des Weingeistes trübe Firnisse wieder aufhellten, nahm eine Galerie Europas nach der anderen es an.
Unser Dresdner Restaurationsatelier und die Künstler unserer Galeriekommission sträubten sich immer noch dagegen, die Bilder der angeblichen Gefahr dieses Verfahrens auszusetzen. Erst in der Kommissionssitzung vom 6. Juni 1883, zu der ich unseren Chemiker Professor Hofmann aus Leipzig hinzugezogen, überzeugte die Kommission sich von der Unschädlichkeit und Nützlichkeit des Verfahrens, das nunmehr auch in Dresden nach und nach auf alle Bilder angewandt wurde, die seiner bedurften.
Dagegen war die Dresdner Galerie die erste auf dem Festlande gewesen, die das bei Wasserfarbenbildern und Pastellen überall übliche, für Ölgemälde zuerst in der Rauch- und Nebelluft Londons für nötig erachtete Verfahren angewandt hatte, die Galeriebilder mit Schutzgläsern zu versehen. Der Braunkohlenruß der Dresdner Luft mochte meine Vorgänger auch hier dazu veranlaßt haben.
Fand ich doch selbst die Sixtinische Madonna mit einer großen Spiegelglasscheibe und manche der kleineren Bilder der kleineren Galeriezimmer mit kleineren Glasscheiben bedeckt. Folgerichtig und allgemein fand ich das Verfahren aber nicht durchgeführt. Ich mußte mich also entscheiden, ob ich es als zwecklos oder gar schädlich oder doch störend beseitigen oder in welchem Umfange ich es fortsetzen wollte. Daß die Glasscheiben, obgleich solche von manchen neuzeitigen Malern des trügerischen Glanzes wegen, die sie ihren Bildern verliehen, wieder bevorzugt wurden, im allgemeinen störend für die Betrachtung wirkten, schien mir unzweifelhaft. Ebenso unzweifelhaft aber bestätigte mir der Vergleich von Bildern, die mit Schutzgläsern versehen worden waren, mit den anderen, die Ansicht der meisten Gemäldehygieniker, daß die Verglasung auch auf den Erhaltungszustand von Ölgemälden günstig einwirke. Besonders schädlich schien mir die nahe Berührung der Bilder mit den Kleidern, den Fingern und dem Atem der Beschauer in den engen kleinen Kabinetten unserer Galerie, wogegen ich mich von einer besonderen Schädlichkeit der Dresdner Luft auf die großen Bilder der großen Säle, die nur in gewissem Abstand gesehen werden konnten, nicht überzeugte. Ich ließ daher die niedrig hängenden kleinen Bilder der Kabinette durchweg mit Glasscheiben bedecken, diese aber mit Scharnieren versehen, damit sie für Forscher und Kenner leicht geöffnet werden konnten, war aber froh, die großen Säle mit den Glasscheiben verschonen zu können. Selbstverständlich aber wagte ich nicht, die Sixtinische Madonna, die ich unter Glas vorgefunden, von diesem zu befreien.
Eine andere wichtige Frage, in der ich mir ein selbständiges Vorgehen vorbehalten hatte, war die Art der Hängung der Bilder. Man nahm damals durchaus keinen Anstoß daran, daß in der Dresdner Galerie, wie in fast allen anderen, die Wände der Säle bis oben hin, nur mit geringen Zwischenräumen, mit Bildern gleichsam wie gepflastert waren. Hatte doch Semper die großen, hohen Oberlichtsäle eigens für diese Art der Bilderhängung gebaut! Wußte man doch aus Abbildungen alter Galeriewände, daß man schon seit dem 17. Jahrhundert diese vollständige Bedeckung der Wände mit Gemälden bei größeren oder geringeren Zwischenräumen als selbstverständlich angesehen hatte! Sprachen aber auch die maßgebenden Künstler es damals doch offen aus, daß die Harmonie des Gesamteindrucks eines Bildersaales größere unbedeckte Wandflächen nicht zuließe. Erst ein Menschenalter später war der Geschmack in dieser Beziehung ins volle Gegenteil umgeschlagen.
Wenn ich die Wände auch durch etwas größere Zwischenräume zwischen den einzelnen Bildern zu erleichtern trachtete, so dachte auch ich im ersten Jahrfünft meiner Dresdner Tätigkeit doch keineswegs daran, den als natürlich geltenden Grundsatz der völligen Bedeckung der Wände mit Bildern aufzugeben. Aber den Hauptübelstand dieser Hängungsweise, daß die Zusammenordnung der Bilder von ungleicher Größe innerhalb derselben Schulen, die doch zusammengehalten wurden, weniger nach inneren Gründen, als, wie bei einem Geduldsspiel, ihrer geometrischen Aneinanderpassung gemäß vorgenommen wurde, empfand ich schon damals; und ich empfand diese Art gerade in Dresden besonders unangenehm; besonders unerfreulich oder doch ermüdend aber erschien mir die Pflasterung ganzer Zimmer oder doch Wände mit gegenständlich gleichartigen Bildern, wie Landschaften oder Stilleben, die ich zum Teil vorfand.
Die Bilder derselben Jahrhunderte und derselben Schulen nach Möglichkeit beieinander zu lassen, empfahl sich freilich nicht nur aus wissenschaftlichen, sondern auch aus künstlerischen Gründen; denn in der Tat pflegen die Bilder, die derselben Zeit und demselben Volke ihre Entstehung verdanken, sich auch raumkünstlerisch am besten miteinander zu vertragen. Die raumkünstlerische Forderung stellte ich aber entschieden in den Vordergrund. Einerseits mußte jede Wand dem Gesetze der Symmetrie und des Formen- und Farbengleichgewichts entsprechend ein raumkünstlerisches Ganzes bilden; anderseits mußte der Geist und das Auge des Beschauers, ohne zu sehr zu ermüden, von einem Bilde zum anderen geleitet werden. Daß der Wechsel von Landschaften und Stilleben mit Figurenbildern, die sich naturgemäß voneinander abheben, der Würdigung der Einzelbilder zugute komme, war eine Erfahrung, die man auf den damals ebenfalls noch mit überfüllten Wänden arbeitenden Jahresausstellungen gemacht hatte. Ich suchte diesen Wechsel, der zugleich raumkünstlerisch wirksam war, vor allem in den kleinen Kabinetten durchzuführen, mit denen ich meine Umordnung begann; und ich erinnere mich, von kunstwissenschaftlicher wie von künstlerischer Seite in meiner Methode der Bilderhängung, die dem damaligen Geschmack entsprach, bestärkt worden zu sein.
Als die Hauptaufgabe, die mir meiner ganzen Entwickelung nach am meisten am Herzen lag, aber betrachtete ich es, der Dresdner Galerie ein neues wissenschaftliches Verzeichnis seiner Gemälde, vor allem seiner alten Gemälde, zu geben. Der damals aufliegende Hübnersche Katalog war seiner Zeit recht annehmbar gewesen, war aber auch in seiner letzten Auflage weit hinter den neuen vergleichenden Bilderstudien und der Urkundenforschung in bezug auf das Leben der einzelnen Künstler zurückgeblieben, auch nicht umfangreich genug, um als wissenschaftliches Verzeichnis gelten zu können. Neben einem großen wissenschaftlichen Katalog, der in bezug auf die Lebensverhältnisse der Künstler sowie auf die wissenschaftlich-künstlerische Beschreibung jedes Einzelbildes und die »Bestimmung« seines Meisters oder doch, wo dieses unmöglich war, seiner Schule, auf der Höhe der Zeit stehen und seine Angaben auch wissenschaftlich zu begründen hatte, sollte ein kleiner Katalog die Ergebnisse des großen ohne deren Begründung enthalten und sollten von dem kleinen Katalog auch eine englische und eine französische Ausgabe veranstaltet werden. Eine große Aufgabe, für die ich völlig vorbereitet zu sein hoffen durfte, lag vor mir. Ich ging mit großem Eifer und innerlicher Befriedigung an ihre Ausführung.
Aber freilich, so einfach, wie mancher es sich vorstellen mag, war es selbst für einen so viel gereisten Mann wie mich nicht, über jedes der mehr als 2000 alten Bilder der Dresdner Galerie ins klare zu kommen. Daß ich alles aus eigener Erinnerung ohne weiteres entscheiden könne, kam mir natürlich nicht in den Sinn. Über jedes einzelne Bild mußten zuerst die Ansichten der maßgebenden Sonderkenner, die sich in Schriften über sie geäußert hatten, wie Morellis und Crowe und Cavalcaselles über die italienischen, wie Waagens, Bodes und Bredins' über die niederländischen Bilder, verglichen werden. Die Photographien der fraglichen Dresdner Bilder mußten mit den beglaubigten Hauptschöpfungen der Meister, denen sie zugeschrieben werden sollten, auch in fernen Ländern verglichen werden. Weite neue Reisen, die die Generaldirektion der königlichen Sammlungen mich verständnisvoll genug auf Staatskosten machen ließ, mußten unternommen werden. Über einzelne fragliche Bilder wurden oft genug Briefe mit Kennern, wie Morelli in Mailand oder wie Bredius in Amsterdam, gewechselt. Auch gab der Besuch dieser und anderer Kenner in Dresden oft genug Gelegenheit zu eingehender Aussprache über dieses oder jenes Bild. Für die altdeutschen und altniederländischen Bilder lag mir vor allem an einer Aussprache mit Ludwig Scheibler, über dessen uneigennützige Teilnahme an meiner Fortsetzung von Woltmanns Geschichte der Malerei ich schon berichtet habe. Ludwig Scheibler wurde zu dem Zwecke eingehender Prüfung der altdeutschen und altniederländischen Bilder der Galerie und gründlicher Aussprache mit mir über sie im Mai 1883 auf einige Wochen amtlich nach Dresden berufen. Er wohnte während dieser Zeit bei uns in der Wiener Straße; und die Aussprache und das Zusammenleben mit dem jüngeren, kenntnisreichen, offenherzigen, wenn auch in seinen eigenwilligen Umgangsformen nicht immer bequemen Freunde verschaffte mir und meiner Frau anregende und unvergeßliche Stunden. Langsam aber sicher schritt die Arbeit an dem großen Katalog, der als eine Hauptschöpfung meines Lebens gewürdigt sein will, voran.
Etwas größer als die Anzahl der Bilder, die durch ihre neuen Benennungen gewannen, war freilich die der Bilder, die durch sie verloren. Dem Verlust der Holbeinschen Madonna mit dem Bürgermeister Meyer z. B. aber stand der Gewinn der liegenden Venus eines Hauptbildes von Giorgione, des Großmeisters der venezianischen Schule, gegenüber. Es kostete den trefflichen Minister von Gerber einen harten inneren Kampf, seine Genehmigung dazu zu geben, daß die Holbeinsche Madonna offen für eine Nachbildung nach dem Darmstädter Urbilde bezeichnet wurde, wie das infolge der Holbeinausstellung von 1872 schon der damalige kunstwissenschaftliche Vertreter der Generaldirektion, Alb. von Zahn, öffentlich zugegeben hatte. Erst nach meinen Ausführungen im Texte zu Ad. Brauns großem photographischen Galeriewerke, das in 15 Heften zu je 40 großen Blättern 600 der wichtigsten Bilder der Galerie vereinigte, erklärte der Minister sich überzeugt.
Die Arbeit an diesem großen Galeriewerke, in dem jedes Bild noch ausführlicher beschrieben und besprochen wurde als im Kataloge, ging neben meiner Arbeit an diesem her. Eine große Ausgabe der Dresdner Galerie in Lichtbildblättern gab es bei meinem Amtsantritt noch nicht. Die Generaldirektion hegte Zweifel, ob sie dem unter ihrer eigenen Leitung in der Galerie selbst zum Verkauf im ganzen und in Einzelblättern ausgelegten großen Galeriewerk in Kupferstichen von den berufensten Meistern der Mitte des 18. Jahrhunderts, deren erster Band 1753, deren zweiter 1757 erschienen war, während der dritte noch fortgesetzt wurde, durch ein neues photographisches Galeriewerk den Rang streitig machen lassen dürfte. Als aber gleich nach meinem Amtsantritt die große photographische Kunstanstalt von Ad. Braun & Co. zu Dornach im Elsaß, die in der ganzen Welt, ehe Franz Hanfstaengl in München den Wettbewerb auch auf diesem Gebiete mit ihr aufnahm, als die vornehmste ihrer Art anerkannt war, sich um die Erlaubnis bewarb, ein großes Dresdner Galeriewerk in Photographien herauszugeben, trat ich, von der Notwendigkeit eines solchen Werkes überzeugt, warm für ihr Gesuch ein, dessen Genehmigung ich denn auch durchsetzte. Bei mir aber setzte der Verlag es ohne sonderliche Mühe durch, daß ich selbst den Text zu der Ausgabe schrieb. Ergänzten die Arbeit am Katalog und die am Galeriewerk einander doch vielfach in willkommener Weise und konnte ich im Texte des Galeriewerks doch manche meiner Umtaufen im voraus eingehend begründen. Die ersten Lieferungen des Galeriewerks erschienen schon 1884, die letzten gleichzeitig mit der ersten Auflage des neuen Katalogs, der nach fünfjähriger angestrengter Arbeit erst 1887 ausgegeben wurde.
Meine amtliche Tätigkeit beschränkte sich nun aber keineswegs auf meine Leitung der königlichen Gemäldegalerie. Auch das königliche Kupferstichkabinett mit seiner reichen Sammlung von Handzeichnungen, Wasserfarbenblättern, Holzschnitten, Kupferstichen und Blättern jeder anderen graphischen Technik war meiner Obhut anvertraut. Schon in Düsseldorf war die dortige kleine Akademiesammlung dieser Art mir kurz vor meiner Abberufung von dort unterstellt worden. Ich hatte keine Zeit gefunden, mich ihrer in besonderem Maße anzunehmen, hatte aber auch auf meinen großen Kunstreisen mein Hauptaugenmerk in solchem Maße auf die Schöpfungen der Malerei gerichtet, daß ich mich zwar zu einem Kenner alter Gemälde, nicht aber zu einem eigentlichen Kenner alter Holzschnitte, Kupferstiche und Radierungen entwickelt hatte. Dies suchte ich erst in den nächsten Dresdner Jahren nachzuholen. Ich war mir daher von vornherein darüber klar, daß ich als Direktor des Kupferstichkabinetts einen jungen Kenner auf diesen Gebieten als Assistenten haben müsse, was mir von Anfang an auch von der Generaldirektion der königlichen Sammlungen zugesagt worden war. Es gelang mir, in Max Lehrs, der in gleicher Stellung am Breslauer Museum tätig gewesen war, einen jungen Forscher auf dem Gebiete der Graphik zu gewinnen, der sich rasch zu der anerkannt ersten Kraft dieses Faches in Deutschland entwickelte. Am 1. April 1883 trat er sein Amt im Dresdner Kupferstichkabinett an, das er schon als mein treuer Mitarbeiter, später aber auch als mein Nachfolger zu hoher Blüte brachte. Im Kupferstichkabinett galt es ähnliche Aufgaben zu lösen wie in der Galerie. Der besseren Erhaltung wegen wurden die einzelnen Blätter im Berliner Kupferstichkabinett in Kartons mit vertieftem Boden eingelegt, die merkwürdigerweise als Passepartouts bezeichnet wurden. Der Berliner Konservator Haubenreißer galt als Autorität auf diesem Gebiet. Das Verfahren kennenzulernen, besuchte ich Haubenreißer, noch ehe Lehrs sein Amt in Dresden antrat, in Berlin, ließ ihn aber auch nach Dresden kommen, unsere Beamten zu unterweisen.
Die regelmäßigen graphischen Ausstellungen wurden durch den Ausbau eines neuen Ausstellungssaales neben dem malerischen alten Zwingerhof, der unter dem Namen des Dianabades bekannt ist, in neuen Fluß gebracht, der eine lebendigere Fühlungnahme der Öffentlichkeit mit unserem stillen Kupferstichkabinett und seinen Schätzen bewirkte. Für die Ordnung der den beiden Sammlungen gemeinsamen Handbücherei wurde ein Bibliothekar der großen öffentlichen Bibliothek herangezogen. Die Katalogisierung der Stiche, Holzschnitte und Zeichnungen wurde nach Möglichkeit gefördert. Der alte Inspektor M. B. Lindau, der eine Geschichte der Stadt Dresden und ein Buch über Lukas Cranach geschrieben hatte, aber keine besondere Kenntnis alter Holzschnitte und Kupferstiche besaß, wurde als Erbstück der guten alten Zeit in Ehren gehalten; aber Max Lehrs wurde rasch zur Seele des Kupferstichkabinetts. Rastlos und restlos half er uns, die wertvolle Sammlung zu fördern und zu heben.
An Arbeit im Dienste der mir unterstellten Sammlungen fehlte es mir in meinen ersten Dresdner Jahren wahrlich nicht. Nach öffentlicher Anerkennung verlangte ich nicht. Daß die öffentliche Meinung Dresdens, namentlich in dem am Hergebrachten hängenden Teil der Tagesblätter, alles, was ich tat oder unterließ, mit kritischen Augen verfolgte, nahm ich als selbstverständlich hin. Sie lobten mich, wenn ich hübsch im alten Gleise blieb, und fielen über mich her, wenn ich fortschrittlichen Regungen nachgab. Als ich gleich 1883 von der Internationalen Münchner Ausstellung die große Sensenschmiede Defreggers mit heimbrachte, wurde ich allgemein beglückwünscht. Wäre es mir aber schon damals gelungen, wie ich versuchte, Uhdes Trommler oder gar Bastien Le Pages großen Bettler durchzubringen, so hätte die öffentliche Meinung mich gesteinigt.
Im Landtag wurde mir der Vorwurf gemacht, daß ich der Dresdener Galerie noch kein Bild von Karl Piloty, dem Abgott der »Modernen« von gestern, zugeführt habe. Hätte ich damals eines jener großen, durchaus unpersönlich und theatralisch empfundenen, aber »weich« und »malerisch« in der Art seines Lehrers Delaroche gemalten Schaustücke des Meisters, für dessen Erwerbung unsere Mittel freilich nicht ausgereicht hätten, nach Dresden verpflanzt, so hätte man mir zugejubelt. Heute aber hätte man das Bild sicher »bis auf weiteres« aus den Sälen der Galerie verschwinden lassen.
Als ich bald nach meiner Ankunft in Dresden die Bilder einiger Säle in einer Weise neu gehängt hatte, zu der die Künstler mich beglückwünschten, mußte ich in einem angesehenen Blatte lesen, ich wagte es, Bilder umzuhängen, denen ein Mann, wie mein Vorgänger, Julius Hübner, ihren Platz angewiesen habe. Als ich, wie schon erwähnt, Ludwig Scheibler nach Dresden berufen hatte, um seine Sonderkenntnisse altdeutscher und altniederdeutscher Bilder meinem wissenschaftlichen Verzeichnis der Gemälde zugute kommen zu lassen, hieß es, ein Galeriedirektor, der seinem Amte gewachsen sei, müsse so etwas allein verstehen. Als ich Eduard von Gebhardts tief empfundene »Waschung des Leichnams Christi« erworben hatte, wurde mir einseitige Begünstigung meiner Düsseldorfer Freunde nachgesagt.
Doch hörten die Angriffe dieser Art nach den ersten Landtagsverhandlungen, in denen Gerber und Roßmann meine Berufung verteidigten, plötzlich auf.
Gerade im Landtag wußte Wilhelm Roßmann sich als vortragendes Mitglied der Generaldirektion der Sammlungen mit Geschick und Glück zur Geltung zu bringen. War ich sein Nachfolger in Düsseldorf gewesen, so verdankte ich seiner Anregung jedenfalls auch meine Berufung nach Dresden. Von der großen Veränderung, die sein früher Tod dem Dresdner Sammlungswesen brachte, fühlte ich mich daher auch in besonderem Maße betroffen. Am 6. Februar 1885 erlag er einem Schlaganfall, den er während der Verhandlungen im Landtagsgebäude erlitt. Obgleich er, 1832 geboren, nur 53 Lebensjahre erreichte, hatte Roßmann ein reich bewegtes Leben hinter sich. Als Braunschweiger Pfarrerssohn hatte er ursprünglich Theologie studiert und als Predigtamtskandidat schon glänzende Proben geistlicher Beredsamkeit abgelegt, als er zur Universität zurückging, um sich dem Geschichtsstudium zu widmen. Nacheinander war er Privatdozent in Jena, Erzieher des Erbprinzen von Meiningen, der mit einer Schwester Kaiser Wilhelms II. verheiratet war, Sekretär und Professor der Kunstgeschichte an der Weimarer Kunstschule und Professor der Kunst- und Literaturgeschichte an der Düsseldorfer Kunstakademie gewesen, als er im Herbst 1873 in seine verantwortliche Stellung nach Dresden berufen wurde. Seine stattliche, vornehme und liebenswürdige Persönlichkeit hatte ihm in der Dresdner Gesellschaft rasch aller Herzen gewonnen. Das Theaterleben am meiningischen Hofe hatte ihn angeregt, sich selbst als dramatischer Dichter zu versuchen. Seine Bearbeitung des Orestes des Äschylos und einige freundliche Lustspiele seiner Hand sind über die Bretter verschiedener Bühnen gegangen. Auf geschichtlichem Gebiete blieben die »Betrachtungen aus dem Zeitalter der Reformation«, die schon 1858 erschienen waren, sein Hauptwerk. Den größten schriftstellerischen Erfolg hatten seine Schilderungen der Reisen, die er als Begleiter des Erbprinzen von Meiningen mitgemacht hatte. Namentlich seine »Gastfahrten« wurden in weiteren Kreisen mit Vergnügen gelesen.
Allseitig gebildet und welterfahren, suchte Roßmann sich in Dresden auch künstlerisch zu betätigen. Die malerische Ausschmückung der Albrechtsburg in Meißen mit Freskobildern Dresdner Maler, die ein Denkmal, wenn auch nicht eben ein glänzendes Denkmal der Dresdner Malerei der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts bleibt, war ihrem Plane, ihrer Anordnung, ihrer Schmuckformen und der Auswahl jeder einzelnen Darstellung nach seine eigenste Schöpfung; und wie die Albrechtsburg verdankt auch das neue Sempersche Opernhaus in Dresden seine ganze künstlerische Ausstattung den Angaben und den Anordnungen Roßmanns. In der Dresdner Kunstgenossenschaft erwarb er sich dadurch natürlich treue Freunde bei den von ihm ausgewählten Künstlern, Gegner bei den übergangenen. Wenn er in den Kreisen der Dresdner Sammlungsdirektoren und der weiteren Dresdner Kennerkreise mehr Gegner als Freunde hatte, so lag das wohl daran, daß er sich in Einzelfragen, wie z. B. beim Ankauf von Gemälden alter Meister, größere Einzelkenntnisse zutraute, als er seinem Bildungsgange nach besitzen konnte. Sein beklagenswerter Zwist mit Hettner, der meiner Frau bei unserem ersten gemeinsamen Besuche Dresdens so peinlich aufgefallen war, war davon ausgegangen, daß Roßmann amtlich das Recht in Anspruch genommen hatte, hervorragende Fremde durch die Antikensäle zu führen, obgleich Hettner als Direktor der Antikensammlung dies als sein Vorrecht ansah. Als Hettner sein Ende nahen fühlte, ließ er Roßmann zu sich bitten; und an seinem Sterbebette versöhnten die Gegner sich.
Ich habe von Roßmann und seiner verehrungswürdigen Gattin nur Gutes und Liebes und auch manche geistige Anregung empfangen. Seinen Tod, mit dem ein neuer Abschnitt meines Dresdener Lebens begann, empfand ich schlechthin als Verlust.
Denke ich heute an jene ersten Jahre meiner Wirksamkeit in Dresden zurück, so wird es mir nicht ganz leicht, mir die widerspruchsvollen Empfindungen zu vergegenwärtigen, die damals mein Innerstes erfüllten. Ich war auch amtlich und gesellig viel zu sehr in Anspruch genommen, um an Selbstbespiegelungen zu denken. Als ich aber vor kurzem die Briefe wieder las, die ich in jenen Tagen an meine liebe zweite Mutter in Hamburg schrieb, der ich nach wie vor mein Empfinden zu beichten pflegte, trat mir wieder deutlich vor die Augen, wie mir damals zumute gewesen. Sie müsse nicht glauben, schrieb ich ihr, daß ich mich im Strudel der mir von Haus aus wesensfremden Verwaltungsgeschäfte und Verantwortlichkeitskämpfe so wohl fühle wie ein Fisch im Wasser; in meiner Düsseldorfer Tätigkeit, die mich von meinem Schreibtisch auf meinen Lehrstuhl und von meinem Lehrstuhl vor den frischen Gesichtern andächtig lauschender junger Hörer wieder an meinen Schreibtisch im friedlichen Heim geführt, sei ich unzweifelhaft mehr in meinem eigensten Elemente gewesen als hier; aber das habe ich ja vorausgesehen und vorher gewußt und es trotzdem für meine Pflicht gehalten, dem Rufe zu folgen. Und ich bereue es durchaus nicht, es getan zu haben; fühlte ich doch, wie meine Kräfte im abwechselnden Schwimmen gegen den Strom und mit ihm sich stählten. Hatte ich doch auch vormittags in meiner Amtsstube, in der ich an den Katalogen und Aufsätzen aus dem Gebiete der Galerie und des Kupferstichkabinetts schrieb, und nachmittags zu Hause, wo ich, von der Fürsorge einer geliebten Frau umgeben, für mich und meine Verleger arbeitete, doch stille Stunden genug, mich zu meinem eigentlichsten Selbst zurückzufinden!