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Ob meinem Herzen die Bilder der großen alten Meister, die meinem Leben Andacht und Weihe, Ruhe und Schönheit verliehen, oder die Schöpfungen der jungen, nach Anerkennung ringenden Künstler näherstanden, die mich an der lebendigen Weiterentwickelung der Gegenwart mit ihren Aufregungen und Anregungen teilnehmen ließen, kann ich nicht entscheiden. Der alten Meister wegen hatte ich wohl den Beruf erwählt, in dem ich es zu einiger Anerkennung gebracht hatte; aber mit den jungen Künstlern, an deren Freuden und Leiden ich teilnahm, hatte schon mein Düsseldorfer Lehramt mich in engste Berührung gebracht; und in meiner Dresdner Stellung war einerseits freilich die Ergründung der Art und des Wesens der alten Maler aller Völker meine Hauptaufgabe, gehörte es aber anderseits im Hinblick auf die neuzeitliche Abteilung der Gemäldegalerie, die es so gut wie neu zu schaffen galt, zu meinen Lebensaufgaben, mich in das »Kunstwollen« der Gegenwart zu vertiefen.
Neuzeitliche Bilder zu erlangen, hatte ich reichlichere Mittel und bessere Gelegenheit, als Gemälde alter Meister zu erwerben; aber wenn sich mir ab und zu eine solche Gelegenheit bot, glaubte ich doch erst wirklich in meinem Elemente zu sein; und ich hatte es bei solchen Ankäufen in mancher Hinsicht auch leichter als bei den Kämpfen um die Werke lebender Künstler.
Daß ich für die Beurteilung alter Bilder besser vorbereitet war als die Künstler meiner Kommission, erkannten diese bereitwillig, wenn auch stillschweigend an. Bei der Beratung über gelegentlich zum Ankauf vorgeschlagene alte Bilder lehnte die Kommission mir zwar, wozu sie berechtigt war, einige Bilder ab, die, kunstgeschichtlich wertvoll, ihr, vom modernen Entwicklungsstandpunkt aus angesehen, künstlerisch nicht anziehend genug erschienen, ließ mir aber in den meisten Fällen freie Hand und befürwortete auch wiederholt, daß ich auswärts ein altes Bild, nachdem ich es gesehen, auf eigene Verantwortung kaufte.
Auf eine auswärtige Versteigerung wurde ich 1892, zehn Jahre nach meinem Amtsantritt, zum ersten Male geschickt. Es handelte sich um den Verkauf der Sammlung Habich in Kassel, die zwar kaum Bilder allerersten Ranges, wohl aber eine Reihe echter Bilder guter Meister enthielt, die mit Kenntnis und Geschmack zusammengetragen waren. Eduard Habich hatte es verstanden, sich unter den Sammlungsleitern und den jüngeren Vertretern der Kunstwissenschaft viele Freunde zu erwerben. Sie alle strömten zur Versteigerung seiner Galerie nach der schönen Hauptstadt des ehemaligen Kurhessens, deren ausgezeichnete Sammlungen und deren taufrische Umgebung den kleinen kunstgeschichtlichen Kongreß, der sich in ihr versammelte, prächtig umrahmten. Uns aufs gastliche zu empfangen, wetteiferte mit Eduard Habich selbst: Oskar Eisenmann, der Direktor der Kasseler Galerie, in dem wir einen der kenntnisreichsten und liebenswürdigsten Fachgenossen verehrten, und der jugendliche Kasseler Akademiedirektor Louis Kolitz, einer meiner Düsseldorfer Freunde, der, wenngleich er es bis zum Akademiedirektor gebracht hatte, als Maler von selbständigem Farbenempfinden nicht so bekannt ist, wie er es verdiente. Die erfolgreiche Versteigerung fand am 9. und 10. Mai im Hotel Royal statt. Ich erwarb für die Dresdener Galerie zwei gute altholländische Bilder, die »Musikalische Unterhaltung« von Jakob A. Duck, ein bezeichnetes und bezeichnendes Bild des seltenen Haarlemer Meisters, und den »Traum« Jakobs von Gerbrand van den Eeckhout, dem tüchtigen Amsterdamer Schüler Rembrandts, erstand aber auch einige Bilder für die Galerie Weber in Hamburg.
Verantwortungsvoller fühlte ich mich, als ich zwei Jahre später im Frühling 1894 zur Versteigerung der Sammlung Eastlake nach London geschickt wurde. Hier verschwanden die Fremden, die sich zu der Versteigerung eingefunden hatten, in dem Gewoge und Getriebe der Riesenstadt, die mir freilich von jung auf vertraut war. Da ich aber bei dem damaligen Keeper (Verwalter) der National Gallery, Charles Lock Eastlake, wohnte, einem Neffen des schon 1865 verstorbenen Direktors der National Gallery, Sir Charles Lock Eastlake, der die nunmehr verkäufliche Sammlung zusammengebracht hatte, wurde ich mit einer Reihe hervorragender englischer Künstler und Kenner bekannt, die mein Gastfreund mir einlud. Vor allem schloß ich mich indessen mit Wilhelm Bode, den stets von mir verehrten erfolgreichen Fachgenossen, der von Berlin herübergekommen war, an Jean Paul Richter, den bekannten deutschen Kunstgelehrten, an, der damals in London wohnte. Auch in dessen gastlichem Hause verlebten wir manche gemütliche und lehrreiche Stunde, und unter seiner Leitung besuchten wir eine Reihe der alten und der neu erstandenen Londoner Privatgalerien, von denen zunächst die Robert Bensons und Ludwig Monds, die ich noch nicht kannte, mich in hohem Grade fesselten.
Der Verkauf der Sammlung Eastlake fand in dem berühmten Versteigerungshause von Christies am 2. Juni statt. Da ihre guten Bilder, auf die London und Berlin boten, mir unerreichbar blieben, ich aber keins der minderwertigen mitbringen wollte, erwarb ich überhaupt keines. Richter führte mich aber auch in die Sammlung des Earl of Dudley, der im Begriff war, seine Bilder unter der Hand zu verkaufen. Die große frühe Kreuzigung Rafaels aus dem Besitz des Earl, die wie eine straffer in sich selbst zusammengezogene Wiederholung von Peruginos berühmtem Bilde in Florenz wirkt, hatte ich tags zuvor bei Herrn Mond bewundert. Das bedeutendste der noch unverkauften Bilder des Earl of Dudley aber war der bekannte, breitgestreckte »Tod der heiligen Klara«, der, ein Frühbild des Spaniers Murillo, aus dem Franziskanerkloster in Sevilla stammte, wo die »Engelküche« des Louvre sein Gegenstück war. Auf dieses Bild, das nicht allzu teuer sein sollte, richtete ich mein Augenmerk. Nach überaus angeregten weiteren Londoner Tagen nach Dresden zurückgekehrt, erhielt ich die Zustimmung der Galeriekommission, der Generaldirektion und des Königs, den Ankauf abzuschließen. Durch die Vermittlung Richters kam es rasch zu einer Einigung. Ich wunderte mich, daß die Engländer auch noch nach Wochen keine Miene machten, das Bild zu schicken, bis ich mich erinnerte, daß die Engländer, unseren Gepflogenheiten entgegen, erst die Zahlung verlangten, ehe sie lieferten. Als ich die Generaldirektion mit einiger Mühe hiervon überzeugt und sie die Zahlung geleistet hatte, wurde das Bild sofort geschickt. Der Ankauf fand allgemeine Zustimmung; und ich war froh, nicht mit leeren Händen von London zurückgekommen zu sein.
Als ich dann im Frühling 1896 eine Dienstreise nach Oberitalien machte, um Bildervergleiche für eine neue Auflage meines Katalogs anzustellen, sah ich mich auch nach käuflichen und uns erreichbaren Bildern um. Von Gustavo Frizzoni, dem trefflichen Sammler und Kenner in Mailand, der als Schüler und Freund Morellis auch mir befreundet war, konnte ich manches hören und lernen. Er machte mich auch auf einige käufliche Bilder aufmerksam, die mir jedoch teils nicht gefielen, teils für unsere Mittel zu kostbar waren. Erst in Venedig fand ich bei dem Kunsthändler M. Guggenheim ein Bild, das mir für uns geeignet und auch erschwinglich schien: den heiligen Sebastian des Cosimo Tura, der ein bekanntes und vielbesprochenes Bild der Galerie Costabile in Ferrara gewesen war. Da gerade die altferraresische Schule eine Besonderheit der Dresdner Galerie bildete, ihr aber ein Bild Turas fehlte, schien dieser heilige Sebastian, der früher dem Lorenzo Costa zugeschrieben, seit Morellis Ausführungen aber als sehr charakteristisches Werk Turas anerkannt worden war, mir eine willkommene Bereicherung unserer Galerie zu sein, die, als das Bild in Dresden hing, auch allgemein als solche empfunden wurde.
Das seinem Geldwert nach bedeutendste alte Gemälde, das unter meiner Leitung für die Dresdner Galerie erworben wurde, aber erstand ich 1899 auf der Versteigerung der Sammlung Martin Schubart-Czermak in München. Martin Schubart, dessen gastliches Haus in Dresden wir schon kennengelernt haben, war nach seiner Übersiedlung nach München hier viel zu früh für seine Familie und seine Freunde gestorben. Daß seine Sammlung jetzt im Helbigschen Kunsthause unter den Hammer kam, galt als ein Ereignis. Die besten Kenner Deutschlands und Hollands hatten sich zu der Versteigerung in München zusammengefunden. Auch Bayersdorfer lebte noch. Unvergeßlich sind mir die Abende, die ich in diesen Tagen mit ihm, Tschudi, Friedländer und Bredius verbrachte. Der Schlachttag war der 23. Oktober. Für uns kamen hauptsächlich die schöne Wassermühle des großen holländischen Landschafters Meindert Hobbema, die aller Wahrscheinlichkeit nach viel zu teuer für uns werden würde, und zwei schöne Bildnisse des altdeutschen Meisters Christoph Amberger in Betracht, die Martin Schubart eigentlich versprochen hatte, der Dresdner Galerie zu vermachen. Aber der Tod hatte ihn wohl überrascht, ehe er seine Absicht ausgeführt hatte. Diese beiden Bilder erzielten einen viel höheren Preis, als wir zahlen konnten. Wider alles Verhoffen aber gelang es mir – der bekannte Dresdner Kunsthändler Ludwig Gutbier bot für mich –, die Wassermühle Hobbemas für Dresden zu erwerben. Ein anerkannter Hobbema fehlte uns bis dahin, war aber gerade als Ergänzung unserer vielen Bilder Ruisdaels durchaus erwünscht. Daß es mir gelang, dieses Bild, das der beste holländische Kenner als »unstreitig das Hauptwerk« unter den in Deutschland befindlichen Gemälden Hobbemas bezeichnet hatte, für Dresden zu erwerben, betrachte ich als ein besonderes Glück. Als das Bild Gutbier zugeschlagen worden war und ich sagte, »es ist für die Dresdner Galerie«, ging ein Beifallsrufen und Händeklatschen durch den Saal; und ich wurde von allen Seiten beglückwünscht.
Außer den Reisen zu den Versteigerungen alter Bilder, an denen ich nicht entfernt in gleichem Maße teilnehmen konnte wie die Leiter der großen Sammlungen von Berlin, London und Paris, und außer einem alljährlichen Besuche der großen Kunstausstellungen Deutschlands, manchmal auch Frankreichs und Englands, auf denen die Weiterentwickelung der neuzeitlichen Kunst sich mir erschließen sollte, galten als Dienstreisen aber auch die Fahrten zu den Sammlungen alter Gemälde oder zu den Ausstellungen von Bildern einzelner Meister, die für die immer neuen Auflagen meiner Galeriekataloge zu vergleichen und eingehender zu erforschen waren; und seit ich in der Mitte der neunziger Jahre meine neue große Geschichte der Kunst zu schreiben begonnen, wurde natürlich jede Gelegenheit zu erneuten Kunstreisen mit oder ohne Zuschuß des Staates oder der Verlagsanstalt benutzt, die nötig waren, meine Kenntnisse auf allen Gebieten der Kunstgeschichte zu erneuern, zu erweitern und zu vertiefen.
Wie viele Kunststätten Deutschlands, der Schweiz, Italiens, Belgiens, Hollands, aber auch Frankreichs und Englands, ich zwischen 1888 und 1910 auf diese Weise allein, zu zweien und zu dreien wiederbesucht oder zum ersten Male gesehen habe, kann ich hier nicht aufzählen. Wie eine Offenbarung mutete uns 1896, als unsere Schwärmerei für Böcklin ihren Höhepunkt erreicht hatte, die Böcklinausstellung in Basel an. Wie ein festlicher Rausch liegt mir die Rembrandtausstellung von 1898 in Amsterdam in der Erinnerung. Ausblicke in ungeheure Weiten und Fernen eröffnete uns die Pariser Weltausstellung von 1900, Einblicke in geheimnisvolle Tiefen ungeahnter Zusammenhänge der nordwesteuropäischen Schulen des 15. und 16. Jahrhunderts gestattete 1902 die Ausstellung altflämischer Kunst in Brügge, der sich 1904 die Kunstgeschichtliche Ausstellung in Düsseldorf und die Exposition des Primitifs Français in Paris anschlossen. Alle diese Ausstellungen, die zugleich Zusammenkünfte von Künstlern, Kennern und Forschern ganz Europas zu sein pflegten, aber auch von breiten landschaftlichen und großstädtischen Rahmen umschlossen waren, bereicherten meine Kenntnisse auf allen Gebieten der Kunst und des Lebens und steigen als lichte, reich belebte Inseln aus dem Meer meiner Erinnerungen empor.
Die Sonderausstellungen zur Veranschaulichung gewisser Zeitabschnitte der neueren deutschen Kunstgeschichte eröffnete 1906 die Jahrhundertausstellung in Berlin, der es hauptsächlich um die Wiederbelebung halbvergessener deutscher Meister der Übergangszeit vom 18. ins 19. Jahrhundert zu tun war. Da ich die Geschäfte dieser Veranstaltung in Dresden geführt, auch 25 Gemälde unserer Galerie hingeschickt hatte, fühlte ich mich mit ihr besonders verwachsen. Ihretwegen hielt ich mich tagelang in Berlin auf. Namentlich die Hamburger Meister mit Philipp Otto Runge an der Spitze und die Dresdner mit Kaspar David Friedrich am Anfang und Ferdinand von Rayski in der Mitte des 19. Jahrhunderts erlebten hier eine glänzende Auferstehung; doch wurden auch manche Künstler an den Sternenhimmel versetzt, die man besser ihrem irdischen Halbdunkel überlassen hätte. Die Überschätzung örtlicher Größen war die natürliche Folge der ähnlichen Ausstellungen, die in den nächsten Jahren z. B. in München und in Darmstadt mit großer Zurüstung ins Leben gerufen wurden.
Von meinen Reisen zu bestimmten Kunstwerken stehen mir besonders zwei, die mich zugleich ans Herz der großen Natur führten, leuchtend in der Erinnerung.
Im Mai 1889 hatte ich mich wochenlang in Wien aufgehalten, um die alten Handzeichnungen der berühmten Sammlung der »Albertina« gründlicher als bisher kennenzulernen. Wien habe ich niemals so genossen wie damals. Auch Giovanni Morelli aus Mailand und Professor Hubert Janitschek aus Straßburg, mit denen ich längst befreundet war, hielten sich damals in Wien auf. Der Universitätskunsthistoriker Professor Franz Wickhoff, der geistvolle Dialektiker und feine Stilist, der, obgleich nur wenige der zahlreichen neuen Ansichten und Schlagworte, die er in die Welt setzte, ruhiger Forschung standhielten, als ein führender Meister unserer Wissenschaft galt, und Karl von Lützow, der Wiener Akademieprofessor, den jeder Fachgenosse kannte, nahmen sich meiner aufs freundlichste an. Alle Sammlungen Wiens und ihre berühmten Leiter lernte ich damals so gründlich schätzen wie nie vorher.
Von Wien aus aber unternahm ich den Ausflug über Villach nach Obervellach, dem kleinen Bergnest in den Kärntner Alpen, dessen gotische Pfarrkirche einen beglaubigten Flügelaltar von 1520 des alten niederländischen Meisters Jan van Scorel besitzt. Einige österreichische Kunstgelehrte vom Schlage Tomans und Alfred von Wurzbachs, denen sich merkwürdigerweise Hans Semper gesellte, hatten die Behauptung aufgestellt, dieses Bild beweise, daß der »Meister des Todes Mariä«, ein vielbesprochener frischer und feiner niederländischer Meister der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, der heute mit großer Wahrscheinlichkeit als Joos van Cleve der Ältere erkannt worden ist, kein anderer als Jan van Scorel sei. Obgleich nun schon die Photographien des Obervellacher Bildes die Unmöglichkeit dieser Annahme bewiesen, wollte ich mich doch von dem Bilde selbst belehren lassen. Eine schöne Bahnfahrt brachte mich von Villach nach Sachsenburg. Hier nahm ich mir einen ländlichen Einspänner und fuhr in zwei Stunden durch das herrliche Mölltal, dessen Größe mir unvergeßlich ist, nach Obervellach hinauf. Hier fand ich die Kirche offen und den Kirchendiener, der gerade mit ihrer Reinigung beschäftigt war, freundlichst bereit, meine Untersuchung des Bildes zu unterstützen. Er brachte eine Leiter, ließ mich steigen, so hoch ich wollte, drehte um, was ich umgedreht zu haben wünschte, und ließ mich untersuchen, was untersucht werden konnte. Übrigens bedurfte es nur eines Blickes, um die Unbegreiflichkeit der Annahme jener Gelehrten darzutun. Wenn das Bild zwischen Bilder des Meisters des Todes Mariä gehängt würde, würde kein Mensch auf den Gedanken kommen, daß sie von dem gleichen Meister herrührten. So grundverschieden ist es seiner Formensprache, seinen Farbenklängen und seiner malerischen Behandlung nach. »Wer solche Ansichten aufstellt«, fügte ich in meinem Tagebuch hinzu, »begibt sich dadurch des kunstwissenschaftlichen Stimmrechts.«
Ein anderes Mal galt es, die frühe Apostelfolge van Dycks in der Dresdner Galerie mit der ähnlichen Folge in der Galerie zu Burghausen im Salzachtal zu vergleichen; und auch diese Vergleichsreise trug mir die Bekanntschaft mit einem reizenden Fleckchen Erde ein, das ich sonst schwerlich aufgesucht hätte.
Nach der Jahrhundertwende machte ich, von Seidlitz unterstützt – oder vielleicht wäre es richtiger, zu sagen, machte Seidlitz, von mir unterstützt –, den zum Teil geglückten Versuch, einige Hauptbilder der tonangebenden französischen Schule der Mitte und der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu erwerben. Was wir bis dahin von neuzeitlichen französischen Gemälden besaßen, war kaum der Rede wert. Immerhin besaßen wir schon seit 1890 als Vermächtnis des Schauspielers Karl Sontag, der sich mir, sooft er mir begegnete, freundschaftlich gesinnt zeigte, das schöne Bildnis seiner Schwester, der berühmten Sängerin Henriette Sontag, von Paul Delaroche.
Von der großen Pariser Jahrhundertausstellung des Jahres 1900 gelang es mir, die lebensgroße Fischerfamilie von Puvis de Chavannes, dem großen Wandmaler, zu erwerben, der zu den Säulen der französischen Kunst jener Zeit gerechnet wurde. Im Jahre 1904 aber erwarb Seidlitz auf der Versteigerung Binant in Paris das berühmte Bild der Steinklopfer von Gustave Courbet, dem großen Begründer des vorimpressionistischen eigentlichen »Realismus«, das im Pariser »Salon« schon 1851 und 1855 Aufsehen erregt hatte. Es war eben eins der bahnbrechenden Bilder des bahnbrechenden Meisters.
Natürlich mußten wir nun aber auch den französischen Impressionismus vertreten sehen, dessen deutschen Anhängern wir schon lange nachgegangen waren. Auf meiner Reise im Frühling 1909 verabredete ich mit M. Durand-Ruel, dem bekannten Kunsthändler in Paris, daß er uns einige Bilder Claude Monets, des eigentlichen Altmeisters der Freilichtlandschaftsmalerei, zur Ansicht und Auswahl nach Dresden schicken sollte. Die Kommissionssitzung fand am 9. Juni statt. Ich hatte, da Hauschild, Prell und Kießling mir auf dem Wege der Anerkennung der neuzeitlichen Entwicklung der Malerei schon längst nur noch mit Widerstreben, wenn überhaupt noch, folgten, keinen leichten Stand. Schließlich wurde natürlich das älteste der eingeschickten Bilder des Meisters, eine Seinelandschaft, gewählt, die noch im sonnigen Goldlicht strahlt. Ich hätte lieber eines der späteren, charakteristischeren, von feinem Silberton getragenen Bilder Monets gehabt, war aber schließlich froh, wenigstens eines der Bilder durchgebracht zu haben. Manet, Degas und andere jüngere Franzosen wurden erst unter meinem Nachfolger erworben.
Daß gegen meine Erwerbungen französischer Bilder Widerspruch in der Dresdner Künstlerschaft erhoben worden wäre, ist mir nicht bekanntgeworden. Um so schärfer wandten die Dresdner Bildhauer sich schon zu Anfang des neuen Jahrhunderts gegen die angeblich übertriebene Franzosenfreundlichkeit meines Freundes Treu, des Direktors der Sammlung plastischer Bildwerke des Albertinums, der doch wiederholt das verständnisvollste Mitempfinden mit den deutschesten der deutschen Künstler, wie Ludwig Richter, bekundet hatte, aber mit Recht der Ansicht war, daß er die führenden französischen und belgischen Bildhauer seiner Zeit nicht vernachlässigen durfte; und wir sind ihm noch heute dankbar, daß er nach Kräften mit den bescheidenen Mitteln, die auch ihm nur zur Verfügung standen, dafür gesorgt hat, diese Meister mit charakteristischen Werken im Albertinum vertreten zu sehen.
Treu hatte allerdings das Glück oder das Unglück in seinen Ankäufen, da ihm weder eine Kommission zur Seite stand, noch der Akademische Rat ihm, wie mir durch die Pröll-Heuer-Stiftung, eine Fülle von Werken lebender Dresdner Künstler zuweisen konnte, ganz auf sich selbst gestellt zu sein. Die große Zahl der Dresdner Bildhauer hatte aber das Bedürfnis, ebenso leicht in die Skulpturensammlung zu gelangen, wie die Dresdner Durchschnittsmaler durch die Pröll-Heuer-Stiftung Einlaß in die Gemäldegalerie fanden. Daher wohl hauptsächlich der Sturm, der am 6. Januar 1901 in einer großen, im »Anzeiger« veröffentlichten Einspruchserklärung der Dresdner Bildhauer gegen die Franzosenfreundlichkeit der Reden, Schriften und Ankäufe Treus losbrach. Die Veröffentlichung fiel um so schwerer ins Gewicht, als die Vorstände der Dresdner Kunstgenossenschaft, von der die jungen Künstler sich bereits in einer Sezession getrennt hatten, des Dresdner Kunstgewerbevereins und des Dresdner Architektenvereins sich der Erklärung der Bildhauer angeschlossen hatten. Gleichwohl blieb diese, die auf einer völligen Verkennung Treus beruhte, ein Schlag ins Wasser. Treu selbst antwortete im amtlichen Dresdner Journal vom Abend des 7. Januar in so verständiger, ruhiger und vornehmer Weise, daß die öffentliche Meinung sich rasch zu seinen Gunsten entschied; und die besten Köpfe Dresdens stellten sich sofort entschieden auf seine Seite. Schon am 15. Januar erklärten die Dresdner Zeitungen, daß Treu als Sieger aus dem Streite hervorgegangen sei. Die Bildhauer aber erreichten tatsächlich doch, was sie erstrebt hatten. Der Staat bewilligte eine bestimmte Summe, aus der der Akademische Rat alljährlich Ankäufe kleinbildnerischer Werke von einem eigens zu diesem Zwecke ausgeschriebenen Wettbewerb Dresdener Bildhauer ankaufen sollte. Das war in der Tat so eine Art Pröll-Heuer-Stiftung für die Bildhauer, nur mit dem Unterschiede, daß Treu nicht verpflichtet war, die angekauften Werke ins Albertinum aufzunehmen. Die meisten von ihnen wurden anderen öffentlichen Stellen überwiesen.
Öffentliche Gebäude Dresdens und Sachsens wurden seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts aber auch in steigendem Maße zur Entlastung der überfüllten Räume der Gemäldegalerie mit ihr entlehnten, zum Teil großen und ganz großen Bildern ausgestattet, die ihrem raumkünstlerischen Wert nach in Einzelräumen vortrefflich wieder zur Geltung gebracht werden konnten.
Die Raumfrage hat mich während der ganzen Zeit meiner Dresdener Amtstätigkeit in Atem gehalten. Da die Anzahl der Gemälde der Galerie durch Schenkungen und Ankäufe von Jahr zu Jahr wuchs, die Säle und Kabinette des prächtigen, wenn auch in bezug auf die Anordnung und die Ausgestaltung seiner Innenräume keineswegs einwandfreien Semperschen Galeriegebäudes, von Anfang an, dem damaligen Gebrauche entsprechend, so voll gehängt waren, wie nur möglich, so reichten die Räume schon unter meinen Vorgängern Schnorr und Hübner nicht mehr aus, den Zuwachs an Gemälden aufzunehmen. Schon in ihrer Zeit war der Sempersche Bau durch den östlichen und den westlichen Zwingerpavillon erweitert worden, in die Brücken hinübergeführt wurden. Der einzige Raumzuwachs, den die Galerie während meines ersten Dresdner Jahrzehnts erfuhr, bildete das östliche Erdgeschoß des Museumsgebäudes, das bis dahin die Gipsabgüsse beherbergt hatte. Als diese um 1890 nach Vollendung des »Albertinums« mit den Originalbildwerken in diesem vereinigt wurden, fiel es der Galerie zu, erwies sich aber, zumal es keinen Zugang zu den übrigen Galerieräumen hatte, trotz allen Um- und Ausbauversuchen als wenig geeignet, Gemäldesäle zu entfalten. Schon in den neunziger Jahren hatte ich an den maßgebenden Stellen wiederholt darauf hingewiesen, daß ein Neubau für die Abteilung neuerer Bilder auch in Dresden unerläßlich sei. Die Regierung trat der Frage auch näher, forderte mich sogar auf, geeignete Bauplätze vorzuschlagen, konnte sich aber nicht entschließen, dem Landtag entsprechende Vorschläge zu unterbreiten.
Seidlitz und ich richteten unser Hauptaugenmerk seit 1896 daher auf die Entlastung der Galerie durch die Abgabe zahlreicher, nicht gerade erstklassiger Gemälde an andere öffentliche Bauten. Schon 1891 war ein Anfang damit gemacht worden, indem 22 große Bilder für das Ministerialgebäude an der Seestraße ausgesondert wurden, in dessen Gesellschaftsräumen manche von ihnen, die in der Galerie zu den viel zu vielen gehört hatten, hebend und gehoben, neu zur Geltung kamen. Aber das waren nur Tropfen aus der Fülle, die sie kaum merkbar verminderte.
Die Frage wurde von Jahr zu Jahr brennender, da, von den großen Ausstellungen ausgehend, die Bewegung, die nur ganz leicht und locker behängte Bilderwände duldete, von Jahr zu Jahr lebhafter wurde und schließlich zur Herrschaft gelangte. Oft wurde es schon verpönt, auch nur zwei Bilder übereinander zu hängen. Ja, man kam bald wenigstens grundsätzlich dazu, fast für jedes Bild eine besondere Wandabteilung zu fordern. Daß man in dieser Richtung bald zu weit ging, daß der neurasthenische Ästhetengeschmack, der behauptet, von zwei neben- oder übereinander hängenden Bildern keins genießen zu können, sich selbst im Wege steht, und daß eine Gemäldegalerie aus anderen Voraussetzungen andere Folgerungen ziehen muß als ein Wohnzimmer, wird anerkannt werden müssen. Mir wenigstens war es schon damals so klar wie noch heute. Aber daß die Pflasterung der ganzen Wände mit Gemälden geschmacklos war, bewies damals gerade die Dresdner Galerie, soviel weitläufiger ich sie auch schon gehängt hatte als meine Vorgänger.
Seidlitz und ich arbeiteten einen Plan aus, nach dem die Bilder unserer Galerie etwa so locker gehängt werden sollten, wie sie heute hängen. Da die Anzahl der Bilder, die aus der Galerie entfernt werden sollten, dadurch gewaltiger angeschwollen wäre, als die Öffentlichkeit ohne Einspruch hingenommen hätte, meinten wir, die Zustimmung der Galeriekommission, an der wir nicht zweifelten, einholen zu sollen. Da kamen wir aber übel an. Die Kommissionssitzung fand am 14. Januar 1897 statt. Am lebhaftesten sprach Prell sich gegen unseren Plan aus. Beredt riß er die übrigen Mitglieder der Kommission zu sich hinüber. Mit Entschiedenheit wurde ausgeführt, die Behängung der Wände bis oben hin, die ohne Zweifel auch in der Absicht Sempers, des Erbauers der Galerie und seiner künstlerischen Ratgeber gelegen habe, sei kein Nachteil, sondern ein Vorzug der Dresdener Galerie. Bilder untereinander gäben eine bessere Folie für einander ab als leere Wandstellen. Man würde es aufs lebhafteste bedauern, wenn wir von diesem Grundsatze abweichen würden.
Seidlitz und ich sahen ein, daß wir unsere Absicht, den großen Umsturz, der auch eine Neuausstattung aller Galeriesäle erfordert hätte, auf einmal zu machen und den erstaunten Augen Dresdens mit einem Schlage eine völlig erneuerte und erleichterte Galerie vorzuführen, aufgeben mußten. Nachdem wir die Angelegenheit eine Zeitlang ruhen gelassen, beschlossen wir, da ich mir bei meiner Berufung das Recht, die Bilder nach eigenem Gutdünken zu hängen, vorbehalten hatte, ohne die Kommission zu fragen, nach und nach vorzugehen, entbehrliche Bilder gruppenweise an staatliche und städtische Gebäude Dresdens und anderer Orte Sachsens abzugeben, die Galerie auf diese Weise halb unvermerkt zu erleichtern und Raum nach Raum neu ausstatten zu lassen.
Während des letzten Jahrzehnts meiner Amtstätigkeit wurden dementsprechend im ganzen 308 meistens große Bilder leihweise einerseits den Ministerialgebäuden, dem neuen Ständehaus Wallots, den Theatern, der Kunstakademie und der Dreikönigsschule in Dresden zu ihrer raumkünstlerischen Ausschmückung überwiesen, andererseits öffentliche Bauten und Sammlungen anderer sächsischer Städte, wie Bautzen, Chemnitz, Frankenberg, Freiberg, Grimma und Plauen im Vogtlande überlassen. Erst meinem Nachfolger blieb es vorbehalten, die mit feinem Verständnis für den gegenwärtigen Geschmack erleichterten Säle neugestaltet erstehen zu lassen.
Die Neuausstattung begann unter meiner Leitung mit dem Zimmer der Sixtinischen Madonna, das bis dahin mit einer gestreiften dunkelroten Papiertapete versehen war. Die rote Farbe, die bald mehr ins Bläuliche, bald mehr ins Bräunliche spielte, galt damals seit hundert Jahren, wohl seit man das »pompejanische« Rot der Bilderwände der vom Vesuv verschütteten Städte Campaniens kennengelernt hatte, als die zweckmäßigste und wirksamste Grundfarbe der Galeriewände. Man fand sie in London wie in Paris, in Dresden wie in Berlin, in Mailand wie in Parma. Von Parma ging der Rückschlag gegen sie aus. Corrado Ricci, der treffliche italienische Kunstforscher und Kenner, der, auch er ein Freund Morellis, damals Galeriedirektor in Parma, der Stadt Correggios, war, hatte die vier großen Altartafeln des Meisters in einem besonderen Zimmer vereinigt und auf einen angenehmen Elfenbeinton gestellt, der ihnen, wie ich mich in Parma selbst überzeugte, außerordentlich gut stand. Im Vorwort seines Bilderverzeichnisses erließ Ricci eine beißende Philippika gegen den bräunlichroten Modewandton, der die Farbe geronnenen Blutes habe. Solch ein Schlagwort wirkt gerade in Geschmacksfragen manchmal ansteckend. Ich verschrieb mir nun 1896 eine genaue Farbenprobe von Ricci und stattete nach ihr versuchsweise das Zimmer der Sixtina und ihre beiden größeren Nebenzimmer aus. In diesen beiden Zimmern erwies die Farbe sich auch in Dresden als angenehm. Auch unser Bild Rafaels hob sich hübsch von ihm ab. Aber den Dresdner Künstlern, auch denen, die sonst mit mir an einem Strange zogen, gefiel sie nicht; und es ließ sich auch nicht leugnen, daß sie die Kahlheit der Wand neben dem Bilde ausdrücklich zu betonen schien. Ich hatte sie hier auch nur als Versuch betrachtet.
Nun fanden in diesem und dem nächsten Jahre wiederholte Beratungen von Seidlitz und mir mit dem Vertreter des Landbauamtes, mit Hermann Prell von der Galeriekommission und mit Otto Gußmann, dem vor kurzem nach Dresden berufenen trefflichen Vertreter der Raumkunst vom Akademischen Rat über die Neuausstattung des Zimmers der Sixtina statt. Das Endergebnis war, daß Gußmann beauftragt wurde, das Zimmer mit der Decken- und Unterwandtäfelung, dem Engelknäbleinfries und der prachtvollen lachsrotfarbenen, mit einem Renaissancemuster geschmückten, eigens für diesen Zweck gewebten Seidendamasttapete auszustatten, die es als würdigen Schmuck noch heute trägt. Auf der roten Farbe bestanden die Künstler. Daß man das zarte Rot wählte, das sich übrigens auch aus dem Grunde empfahl, weil es sich im Bilde nirgends wiederholte, wurde als Zugeständnis an den Zeitgeschmack angesehen. Es fanden sich damals und finden sich vielleicht auch heute noch Stimmen, die diese Farbenwahl tadelten. Über Farben läßt sich bekanntlich schwer mit Gründen streiten. Doch scheint mir, daß die Zeit in diesem Falle ihren Segen zu der damaligen Wahl gegeben hat.
Es läßt sich in der Frage der Wandfarben von Gemäldesammlungen wirklich nicht sagen, daß eines sich für alles und für allemal schicke. Die Augen sehen sich an einer Farbe satt und verlangen dann nach einer anderen. Grundsätzlich schien mir ein neutraler Ton, von dem alle Farben sich gleichmäßig abheben, und ein ziemlich dunkler Ton, aus dem auch dunkle Bilder sich leuchtend herausheben, für am besten geeignet, Ölgemälde zur Geltung zu bringen. Für die Baseler Böcklinausstellung des Jahres 1897 hatte man geradezu einen schwarzen Grund gewählt, der den farbenkräftigen Bildern des Meisters außerordentlich gut stand. Allerdings setzt gerade ein schwarzer Grund voraus, daß die Wände großenteils bedeckt sind und die Zwischenräume zwischen den Bildern mehr als Umrahmungen wirken, als selbständige Wandgeltung beanspruchen wollen. Bald darauf aber wurden, ebenfalls von den Jahresausstellungen begünstigt, im Zusammenhang mit der lockeren Behängung der Wände und der herrschenden Freilichtmalerei hellere Wandfarben Mode, die bis zu reinem Weiß vorschritten. Als neues Schlagwort hörte man jetzt, daß helle Bilder auf dunklem Grunde wie Löcher in der Wand aussehen. Ich habe mich dieser Auffassung niemals anzuschließen vermocht. Die Wände sind der Bilder wegen, nicht die Bilder der Wände wegen da; und warum, wenn man sich jene Empfindung wirklich einredet, soll ein Bild nicht wie ein Blick zum Fenster hinaus in eine außerirdische Lichtwelt wirken? Die hellen Wandgründe erhielten nun auch verschiedene Farbentöne, von denen das süßliche Lila und weichliche Hellgrün, das vielfach Mode wurde, mir persönlich viel weniger behagten als das kräftige Gelb oder das zarte Blau, das in anderen Fällen gewählt wurde. Der Geschmack wechselt auch in Fragen dieser Art mit der Mode. Ich halte es keineswegs für ausgeschlossen, daß wir einmal wieder zu den roten Grundfarben zurückkehren, an denen der Geschmack von anderthalbhundert Jahren festgehalten hatte.
Auch im Kupferstichkabinett, indem es keine Kommission und daher auch keine nach außen hin wirkenden Kämpfe, sondern höchstens unter den wissenschaftlichen Mit- und Hilfsarbeitern, die mir hier im Gegensatz zur Gemäldegalerie zur Seite standen, einmal Sturm im Wasserglase gab, wurden neue Säle hinzugezogen und neue Schränke für die Blätter der Griffelkunst, wie Max Klinger sie genannt, die sich auch hier alljährlich vermehrten, angeschafft und aufgestellt. Im Kupferstichkabinett behielt ich mir die Abteilung der Handzeichnungen, deren Verzeichnis ich selbst zu fördern suchte, wie ich die besten von ihnen auch in einem großen Vervielfältigungswerk mit eingehendem Texte bei Fr. Hanfstaengl in München herausgab, als mein besonderes Ackerfeld vor. Die Abteilung der Kupferstiche und Holzschnitte konnte keinen besseren Händen anvertraut werden als denen Max Lehrs, dem ich nicht nur für die Katalogisierungsarbeiten, sondern auch für die Erwerbungen auf den Versteigerungen anderer Städte völlig freie Hand zu lassen pflegte. Namentlich von den Verkäufen der Boernerschen Kunsthandlung in Leipzig und der Gutekunstschen in Stuttgart, die Lehrs statt meiner besuchte, brachte er regelmäßig eine so reiche Beute mit heim, wie unsere auch auf diesem Gebiete schwachen Geldmittel es gestatteten.
An dem Fortkommen der wissenschaftlichen Mitarbeiter, die am Kupferstichkabinett noch unter meiner Leitung angestellt wurden, habe ich stets warmen Anteil genommen. Unter Lehrs' Augen tätig war Jean Louis Sponsel, dessen vortreffliche Arbeiten hauptsächlich auf dem Gebiete der Baugeschichte und des Kunstgewerbes liegen. Er fand später als Direktor der Münzsammlung und des Grünen Gewölbes in Dresden selbst eine seinen Neigungen und Kenntnissen entsprechende Wirksamkeit. Gustav Pauli, der eine Zeitlang Direktor der Sekundogenitursammlung von Kupferstichen und Handzeichnungen auf der Brühlschen Terrasse war, dann Direktor der Kunsthalle seiner Vaterstadt Bremen und schließlich Nachfolger Lichtwarks an der Kunsthalle in Hamburg wurde, entwickelte sich zu einem der feinfühligsten und kenntnisreichsten deutschen Kunstforscher, und seine frische Persönlichkeit wuchs mir umso rascher ans Herz, als unsere Frauen die Freundschaft teilten, die uns verband und noch verbindet. Der Holländer Cornelius Hofstede de Groot, der ein Jahr an unserem Kupferstichkabinett tätig war, wurde zu einem der allerbesten Kenner holländischer Meister und entfaltet noch heute vom Haag aus als Kunstgeschichtschreiber, Sammler und Berater von Sammlern eine überaus reiche und wirksame Tätigkeit. Hans Wolfgang Singer aber, der vielseitige, ehrlich-eigenwillig urteilende Kunstschriftsteller, widmet der Sammlung, von der er ausgegangen, noch heute seine besten Kräfte.
Die große Bedeutung Max Lehrs', die die Gefahr nahelegte, daß er von Dresden fortberufen werde, veranlaßte die Generaldirektion der Sammlungen übrigens schon 1896, mich zu fragen, wie ich mich zu dem Gedanken stellen würde, die Direktion des Kupferstichkabinetts Lehrs zu übertragen und mich, ohne daß mein Gehalt verringert würde, auf die Leitung der Gemäldegalerie zu beschränken. Natürlich sagte ich sowohl meinet- als Lehrs' und der beiden Sammlungen wegen mit Freuden ja. Seit dem 1. April 1896 hatte ich amtlich nichts mehr mit dem Kupferstichkabinett zu tun, das unter Lehrs' Leitung herrlich weiter gedieh. Kehrte Lehrs, als Lippmanns Nachfolger nach Berlin berufen, doch auch bald genug reuig nach Dresden zurück. Ich war um so zufriedener mit meiner Entlastung, als eine neue große schriftstellerische Aufgabe, die ich übernommen hatte, meine Arbeitskraft neben der Leitung der Gemäldegalerie völlig in Anspruch nahm.
Von dem Personenwechsel in den »allerhöchsten«, »höchsten« und »hohen« Kreisen Sachsens wurde die Verwaltung der königlichen Sammlungen, da Woldemar von Seidlitz während dieser ganzen Zeit als vortragender Rat sich ihrer mit gleichmäßiger Wärme annahm, verhältnismäßig wenig berührt. Als König Albert, der vorurteilsfreie, verständnisvolle, von allen geliebte Monarch im Juni 1903 gestorben und sein Bruder König Georg, der das Herrscherhaus im Akademischen Rat und in der Galeriekommission vertreten hatte, das Residenzschloß bezog, bestimmte dieser seinen zweiten Sohn, den Prinzen Johann Georg, zu seinem Nachfolger in seinen Kunstämtern. König Georg, dessen herber Gerechtigkeitssinn sich, als seine Schwiegertochter, die Kronprinzessin, aus dem Hause Parma mit dem Hauslehrer ihrer Kinder entflohen war, in der Veröffentlichung des überaus schroffen Erlasses aussprach, durch den er sich und sein Haus von ihr lossagte, hatte aber keineswegs die Absicht, sich seines Einflusses auf die Bildererwerbungen durch den Akademischen Rat und die Galeriekommission zu begeben. Er beschloß, von dem königlichen Einspruchsrecht, das er besaß, nach eigenem Gutdünken Gebrauch zu machen, und er ordnete an, daß die zum Ankauf vorgeschlagenen Bilder ihm vor den Abstimmungen mitgeteilt werden, damit er noch vor diesen sagen könne, welchen von ihnen er voraussichtlich seine Genehmigung versagen würde. Wie oft diese Verordnung befolgt worden, ist mir nicht erinnerlich. König Georg starb ja auch schon im Oktober 1904 auf seinem Landsitz zu Hosterwitz an der Elbe. Die Überführung seiner Leiche nach Dresden erfolgte spät abends in schwarz verhängtem, von Fackeln düster erleuchtetem Schiffe. Vom Ufer aus sahen wir es still und geisterhaft vorüberziehn. Es war ein unvergeßlicher Anblick.
König Georgs Nachfolger, König Friedrich August, eine in ihrer Art frische, natürliche und volkstümliche Persönlichkeit, hatte kein inneres Verhältnis zu den Künsten und gab auch nicht vor, ein solches zu haben. Wie König Albert die Fühlungnahme mit der Kunst und den Künstlern seinem Bruder Georg übertragen hatte, so überließ König Friedrich August sie völlig seinem Bruder, dem Prinzen Johann Georg, der, ein hochgewachsener, blauäugiger, blonder Germane, immer verständnisvoller, aber auch immer liebenswürdiger und umgänglicher wurde, je älter er ward. Die Beschäftigung mit der Kunst war ihm Herzenssache. Von seiner liebreizenden zweiten Gattin aus dem Hause Bourbon aufs anmutigste unterstützt, machte er sein Haus zu einem Mittelpunkt wissenschaftlichen und künstlerischen Verkehrs. Von dem Geist seines Großvaters König Johanns, des Danteforschers und -übersetzers, geführt, fühlte er sich selbst nicht so wohl als Soldat wie als Gelehrter und als Kunstverwandter. Die Kunstgeschichte verdankt ihm manchen hübschen schriftstellerischen Beitrag, und auch als Sammler, namentlich von Zeichnungen, trat er in Reih und Glied. Seine eigenartige, gerade und offenherzige Persönlichkeit aber tat das ihre dazu, daß unsereins sich bei ihm zu Hause fühlte. Meine Beziehungen zu ihm wie zu jedem mir sympathischen Fachgenossen haben nicht nur meine Amtstätigkeit an seiner Seite, sondern auch den Weltkrieg und die Revolution überdauert.
Den König Friedrich August habe ich nur einmal auf künstlerischem Gebiete Stellung nehmen sehen. Es war bei der Eröffnung der großen Dresdner Kunstausstellung am 2. Mai 1908. Kuehl hatte wieder einmal eine Muster- und Meisterausstellung geschaffen. Zu der Feier waren Künstler aus ganz Deutschland und einigen Nachbarländern in Dresden erschienen. Am 2. Mai gab der König ein großes Frühstück, zu dem an 100 Personen geladen waren. Von den namhaften auswärtigen und einheimischen Künstlern, die im Schlosse versammelt waren, ist mir namentlich die kleine, aber zierliche Gestalt Ferdinand Hodlers mit dem von dünnem, dunklem Barte umrahmten, nicht eben angenehmen, aber geistvollen Kopfe in der Erinnerung geblieben. Als wir nach der Tafel beim Kaffee umherstanden und der König »Cercle« machte, wandte er sich plötzlich erregt an Kuehl und überschüttete ihn mit einem Zornausbruch über die Nacktheiten, die auf manchen der ausgestellten Bilder zu sehen seien. Der König bediente sich dabei der stärksten Ausdrücke. Alle waren sprachlos. Alle meinten, Kuehl werde wohl zum letzen Male eine Dresdner Ausstellung geleitet haben. Meinerseits war ich überzeugt, daß die ausfallenden Bemerkungen des Königs nicht sowohl der Ausdruck monarchischen Einspruchs als der persönlichen Empfindung eines guten Hausvaters einem ihm wohlbekannten Künstler gegenüber waren, und weitere Folgen scheint der Vorfall auch nicht gehabt zu haben.
In bezug auf die Minister, die während dieser ganzen Zeit in ihrer Eigenschaft als Generaldirektoren der Sammlungen meine nächsten Vorgesetzten waren, ist zunächst bemerkenswert, daß nach dem Tode des trefflichen Kultusministers von Gerber, der am 23. Dezember 1891 starb, nicht wieder der Kultusminister, sondern der Finanzminisier von Thümmel die Generaldirektion der Sammlungen übernahm, und daß diese von nun an, solange ich im Amte war, – wohl einzig in Europa – mit dem Finanzministerium verbunden blieb. Wenn ein guter Generaldirektor der Sammlungen zugleich Finanzminister ist, so wird ihnen das sicher zum Segen gereichen. Wenn aber ein guter Finanzminister zugleich Sammlungsdirektor ist, so ist das entschieden zweifelhafter; und meiner Überzeugung nach ist die geringe geldliche Unterstützung, die die Sammlungen nach Gerbers Tode erfuhren, zum Teil wirklich darauf zurückzuführen, daß ihre Generaldirektoren, die durchweg kunstfremd waren, doch zuerst als Finanzminisier empfanden.
Gerbers erster Nachfolger, von Thümmel, war ein kluger, vornehmer, freundlicher Herr, der mir persönlich wohlwollte, aber mir gelegentlich in freundschaftlicher Weise zu verstehen gab, daß er die Wege, die Seidlitz und ich in der Kunst einschlugen, lieber nicht mitgegangen wäre. Thümmel starb am 12. Februar 1895. Unter seinem Nachfolger, dem außerordentlich liebenswürdigen und zuvorkommenden Minister Werner Rudolph Heinrich von Watzdorf hatten Seidlitz und ich es gut. Er ließ uns gewähren, ohne uns freilich auch nur so reichlich mit Mitteln zu bedenken wie seine Vorgänger. Ihm wurde damals von den »Ständen« hart zugesetzt, zu sparen; und als er dem Landtag darin immer noch nicht weit genug ging, erteilte dieser ihm im Februar 1902 ein Mißtrauenszeugnis, das ihn zwang, seine Ämter niederzulegen.
Sein Nachfolger wurde Konrad Wilhelm Rüger, dessen Sparsystem und Kunstfeindlichkeit, dem Landtag innerlich willkommen, schon nach einigen Jahren in der Broschüre eines jungen Studenten namens Peter Reinhold, der, kaum dreißigjährig, der erste sächsische Finanzminister nach dem Weltkrieg ward, scharf angegriffen und gegeißelt wurde. Rüger, ein so ehrenwerter und überzeugungstreuer Mann er war, erwies sich in der Tat nicht als vorteilhafter Generaldirektor der Sammlungen. Gegen Seidlitz, mich und die übrigen von auswärts berufenen Sammlungsdirektoren war er von entschiedenem Mißtrauen erfüllt, das er unseren Freund, den Direktor des Zoologischen und Ethnographischen Museums, Adolph Bernhard Meyer, der sich seiner mustergültig gestalteten Sammlungen zuliebe einige formelle Ungehörigkeiten zuschulden kommen gelassen hatte, auf die schärfste Weise fühlen ließ, indem er ihn durch den Disziplinargerichtshof, der wohl nicht anders konnte, ohne Ruhegehalt absetzen ließ. Aber auch seinem vortragenden Rat Woldemar von Seidlitz, der in jeder geistigen Beziehung hoch über ihm stand, gab er sein Mißtrauen dadurch zu verstehen, daß er ihm einen zweiten vortragenden Rat an die Seite setzte; und mir erteilte er, zum Erstaunen ganz Dresdens, dessen Meinung ich damals für mich hatte, in der Sitzung der Ersten Kammer vom 16. Februar 1904 wegen meiner modern gerichteten Ankäufe für die Galerie und namentlich der Erwerbung noch eines dritten Bildes von Böcklin ganz unumwunden eine öffentliche Rüge. Es war die umgekehrte Welt. Da der Minister den Ankauf dieses Bildes, dem einstimmigen Beschlusse der Kommission entsprechend, selbst mit seiner Unterschrift dem Könige zum Ankauf empfohlen hatte, nahm ich die Geschichte nicht besonders tragisch. Aber meine Freunde besuchten mich und regten mich auf; die ganze Stadt spräche von dem mir von meinem eigenen Minister öffentlich erteilten Verweise. Der weitsichtige Oberbürgermeister Gustav Otto Beutler, dem Dresden so viel verdankt, sprach mir seine Entrüstung über den Vorfall aus, und selbst der Prinz Johann Georg suchte mich zu trösten und gab seiner Verwunderung darüber Ausdruck, daß der Minister mich wegen des Vorschlags eines Bildes, für dessen Ankauf sein königlicher Vater zweimal in der Kommission mitgestimmt, öffentlich zur Rede gestellt habe. Am meisten außer sich war Seidlitz, der sich in einer Eingabe an den Minister gegen dessen Vorgehen verwahrte. Seidlitz schien sich also überzeugt zu haben, daß die seinerseits vor einigen Jahren gegen die Erwerbungen der Pröll-Heuer-Stiftung gerichteten öffentlichen Angriffe keineswegs wünschenswerte Folgen gezeitigt hatten.
Bald nach diesen Ereignissen, am 4. Juli 1904, feierte ich meinen 60. Geburtstag, an dem weite Kreise Dresdens und ganz Deutschlands mich mit kaum verdienten, mich herzlich bewegenden Beweisen ihres Mitempfindens überschütteten. Bei dem Festmahl, das meine Freunde mir im Belvedere gaben, hielt Henry Thode, der eigens zu dem Zwecke aus Heidelberg herübergekommen war, die Hauptrede, auf die ich viel zu lang und ausführlich antwortete. Für das Bild von Hans Thoma, das mir verehrt wurde, waren Beiträge von vielen Fachgenossen auch außerhalb Dresdens gespendet worden. Ich war auf so viel Freundschaftsbeweise, die sich in engerem Kreise 1907 aus Anlaß meines 25jährigen Dienstjubiläums wiederholten, gar nicht vorbereitet. Aber sie gaben mir doch die beruhigende Überzeugung, in den Augen meiner Mitmenschen nicht ganz umsonst gearbeitet, und mehr Freunde in der Welt zu haben, als ich vermutete.