Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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Am sechzehnten September traf er in Prag ein. Die Wohnung am Riegerkai hatte er nach dem Kontrakt bis zum ersten November, dem Vierteljahrstermin. Er prallte zurück, als er sie aufsperrte, so vernachlässigt war sie. Doch es war ein Unding, noch irgend etwas zu ihrer Instandsetzung zu tun. Die Hausmeisterin, die Prokupek, hatte die Zeit benutzt, um die Daunen der herrschaftlichen Betten, die sie sich für ihre Kammer nahm, mit schlechten Federkielen zu vertauschen. Er redete nichts zu ihr; sie und ihr Mann mißachteten wohl den Narren, der ihnen Reinigungsgeld zahlte. In einer Ecke lagen Ljubas und Eriks Bilder. In einer Truhe Ljubas Briefe, ihr ausgefallenes Haar, ein Taschentuch von ihr; ihre Ohrringe fehlten. Schandera ging an den Abenden den Kai entlang, hin und her vor der Schitkauer Mühle. Durch das der Gardinen beraubte Fenster des Balkonzimmers leuchtete die einzige Lampe, die er noch gebrauchte, eine Petroleumlampe. Er vergaß sie zu löschen; und um die Flamme war ein Rund wie von Eisblumen. 261

Er hätte mit der Versteigerung in seiner Willenlosigkeit gezögert. Eine Bankschuld, mit der er nicht mehr gerechnet hatte, zwang ihn dazu. Der Auktionator erschien. Die Taxen für die unmodernen Möbel waren niedrig. Anzeigen in den Blättern verhießen die Einrichtung der Künstlerin L. G., dann auch ein gelbes Plakat am Haustor. Interessenten besichtigten sie. Jedoch nur ein paar Trödler der Gilde, aus der Michaelsgasse, der Melantrichgasse, dem Schwefelgäßchen boten bei der Auktion, zu abgemachten Preisen. Sie schleppten die Teppiche fort, den Empiresalon, den Flügel, die Schränke des Schlafraums, alles, was Ljubas Eigentum gewesen war. Schandera wurde Zeuge, wie Stück um Stück ihres gemeinsamen Daseins abbrach. Der Auktionator sagte: »Eine beschädigte Truhe von Polisander.« Mit Mühe rettete Schandera den Inhalt in einen Koffer.

Aus der leeren Wohnung zog er nach Karolinenthal zu der Palkoska. Ihr Sohn war jetzt Monteur in Belgrad und schrieb ihr Briefe über den slawischen Freiheitskrieg. Die Palkoska bekannte sich zum Antimilitarimus. In Königgrätz hatte, wie vor drei Jahren, Infanterie zur bosnischen Grenze einwaggoniert werden sollen. Die Frauen aus den Fabriken hatten sich vor der Kaserne zu einer undurchdringlichen Kette vereinigt. Der Oberst hatte eine Salve geben lassen, die Auditoren taten in einem langen Prozeß das übrige. Die Palkoska wurde mit der Vormundschaft über ein zehnjähriges Mädchen beauftragt, das Kind ihrer durch eine Patrone getöteten Schwester, die blonde Andula. Sie kam am ersten Oktober. Im Kaizlpark spielte sie, in dem die Invaliden saßen. Schandera beschenkte sie, in der Erinnerung an Erik; sie dankte niemals. Die 262 Kranke mit dem schwarzen Gesichtsschleier hatte man abgeholt. Wieder plärrte vor dem Haus ein Werkel den Walzer der Musette. Es war ein Haus der Namenlosen, vom Keller bis zu den Mansarden. Schandera verließ es heimlich, nachdem er bei der Palkoska für vier weitere Wochen den Mietzins erlegt hatte. Er übersiedelte nochmals in die Hibernergasse, in das Europa, und nochmals schrieb er auf den Zettel: Dr. Schauer. Es war der erste Abend einer zweitägigen letzten Frist.

Auf dem Wenzelsplatz standen im Regen Tausende vor dem Zeitungsgebäude, vor den dort befestigten Abzügen von Depeschen über die Kämpfe bei Kirkkilisse. Auf einem turmhohen Gerüst klatschte ein Transparent von Leinwand. Das Licht eines Scheinwerfers zuckte, sprang ab und behauptete sich. Die Menschen buchstabierten, ratend, dann in dem Enthusiasmus der Gewißheit, die Türken unter Abdullah Pascha seien auf Bunar Hissar zurückgetrieben worden. Und ein anderes Bulletin flackerte: Sieg der Serben bei Kumanovo. Die nationalen Lieder wurden angestimmt. Frauen mit Armbinden, mit dem weißen Kreuz in rotem Feld, dem Abzeichen des Slovansky Klub pro ranené jihoslovany, sammelten für die Verwundeten. Schandera las: »Im slawischen Süden sind nach fünfhundert Jahren Rächer und Befreier aufgestanden, die, wie einst ihre Väter, ihr Blut für ihre Nächstenliebe, für die Freiheit des Herrn und für die teure slawische Sprache opfern. Tschechisches Volk, von alters her Verteidiger der Leitideen von Menschlichkeit und Brüderlichkeit, eile den ringenden Brüdern zu Hilfe! Zeige dich in diesem geschichtlichen Augenblick des Vertrauens und der Verehrung des gesamten Slawentums 263 würdig!« Die weißblauroten Fahnen des Sokolkongresses wehten bis zu dem aus der Tiefe umloderten Nachtgewölk.

Schandera schlief auch diesmal nicht. Staubsauger rasselten im grauen Morgen unter ihm mit Kreiselgeräusch und winselten mit Sirenengeheul. Er fuhr hinaus nach Wolschan. Die polierte Platte an Eriks Grab war von einer grünen Pilzschicht überwachsen; seine Hände wischten sie ab. Das Grab Ljubas versteckten die beiden Taxusbäume, die man gepflanzt hatte; der braune Obelisk senkte sich schon nach links. »Ljuba Gjalska Šanderová, člen národného divadla«, war die Inschrift. Das dritte Wort, Schanderas Namen, hatte irgendwer mit Mennigstrichen besudelt. Das Gitter war verkrümmt. Ein zerbrochenes Ölfläschchen lag da und ein einziger Kranz, der Kranz, den er im August gebracht hatte, an Ljubas Geburtstag. Die Blüten waren in den Rasen niedergestampft, noch weiß gezackt, mit gelblichen Sternen. Aber unter seinen Fingern lösten sie sich in Schleim auf. Das Monument der Trauernden an der Kiesallee war noch erschütternder in seiner Maskenhaftigkeit, der Ruf des Glöckchens über den Friedhof noch heiserer. Einem Krüppel am Tor gab Schandera das Silbergeld aus seinem Portemonnaie.

Um acht Uhr war er am Riegerkai, vor seinem gewesenen Hause. Prokupek schaufelte Kohlen. Der Schlüssel, den Schandera nicht abgeliefert hatte, war nun entbehrlich. Niemand begegnete ihm auf den hunderten von Stufen. Über seiner Wohnung, im Dachgeschoß, hatte ein Dienstmädchen eine Tür zum Boden nur angelehnt. Nur angelehnt war die zu der Waschküche. Sie hatte ein 264 Fenster, vielfach größer als die Luken daneben, mit dem gotischen Spitzbogen der Fenster in den Etagen, dicht unter den Wasserspeiern. Das Bleirohr, bis zu dem Schandera sich hätte schwingen können, endete in eine der Teufelsfratzen von Notre Dame. Er neigte sich über die Fensterbrüstung. Am Rechen des Wehrs staute sich die Flut der Moldau. Die Kathedrale auf dem Hradschin verdunkelte sich, der Kinskypark, der Petřin.

Tot war die Stadt mit allem, was er durchlebt hatte. Doch nun sah er gerade unter sich das Trottoir. Wie an jenem Septemberabend glaubte er, in derselben Ebene mit der Straße, zwischen den müden Passanten zu sein. Und lächelnd, als habe er einen glücklichen Einfall, trat er in das Bodenlose hinaus. 265

 


 


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