Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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2

Um elf Uhr fuhr der Personenzug nach Prag, zwei Stunden später der Schnellzug. Ihn wollte Schandera nehmen. In dem Kaffeehauspavillon am Bahnring waren mehrere Tische besetzt. Bruchstücke dessen, was man hier und da sprach, fing er auf. Doch von Minute zu Minute wurden die Gesichter wesenloser, fortgelöscht, als wische man mit einem schmutzigen Schwamm über sie, und wesenloser die Worte. Trambahnwagen flogen mit kreischenden Bremsen hinein in die nächtliche Stadt, deren Rand hier war. Aus einem der Fenster drüben kam Lachen und Singen. Eine Frauensperson mit einer weißen Feder auf dem Hut strich, wie oft schon, an den Häusern vorbei; nun verschwand sie ohne Ziel, die Stufen hinauf nach der Neutorgasse. Alles das schien gleichgültig und tot. Und würde morgen, übermorgen, Abend für Abend hier weitergehn.

Schandera eilte zum Bahnhofsplatz, entschlossen, nicht bis ein Uhr zu warten. Ländliche Arbeiter schlummerten in der Halle, auf ihre Holzkisten und Bündel gekauert. Beizender Rauch schwamm im Saal, dessen Tür der Perronbeamte freigab. Mit alten, schlechten Wagen hielt schon der Zug. Im Kupee fand Schandera sich einem einzigen Passagier gegenüber. Die Glocke tönte, ein Ächzen erschütterte den Zug, die Stadt versank mit ihren Plätzen, ihren Straßen, ihren Vororten. Schandera wandte sich ihrem Lichtherd zu, bis nichts mehr draußen war als die feindliche Herbstnacht. Der Passagier, der im Eckpolster lehnte, hatte eine durch Knochenentartung abnorm große, wie versteinerte Kinnlade und einen 14 Blähhals. Er murmelte Gebete vor sich hin. Manchmal schnitt er eine Grimasse. In Boskowitz stieg er aus.

Bis kurz nach zwei Uhr dauerte Schanderas verstörter Halbschlaf. Die Bewegung des Zuges stockte, nun stand er plötzlich. Signale zerrissen das Schweigen. Rufe wurden laut, grelle und wirre Rufe. Die Schaffner kletterten auf die Trittbretter und geboten, den Zug mit einem anderen zu vertauschen. Die Böschung war steil und voll Unkrauts. Weiber und Kinder jammerten in Ratlosigkeit. Die Schaffner drehten ihre Handlaternen, und mühsam stolperten etwa hundert Menschen ihnen nach. Bald stießen sie zu einer größeren Versammlung. Gasflammen zischten aus Kompressoren, ein bewaldeter Hügel, an dem die Bahnstrecke eine Kurve machte, wurde sichtbar und unter Kiesgeröll zwei Lokomotiven, die wie beißende Tiere sich ineinander gezwängt hatten. Wagen und Wagentrümmer bedeckten die Erde. »Zwei sind noch nicht heraus, sie sollen noch leben«, sagte jemand auf deutsch. Schandera gewahrte mit Leinen überspannte Tragbahren, Sanitätsgehilfen, eine Wärterhütte.

Der Morgenwind strich über einen Kartoffelacker, Johanniswürmer glitzerten, ein Hund bellte, eine Frau neben dem Bahndamm, den Rücken gegen einen Baum, mit den Händen um sich schlagend, wimmerte in der Pein des Gebärens. Jenseits der Unheilstätte harrte ein Notzug, der bald weiterging. Bogenlampen schwebten über dem Bahnhof von Pardubitz. »Kolin«, meldete die heisere Stimme des Schaffners. Von grauen Schleiern waren die Gegenstände umzogen, die emportauchten. Schlote, Häuser, die Spitze des Bartholomäusdoms, 15 Plakate einer Zichorienfabrik, die Elbe. Um sieben Uhr fuhr der Zug in den Prager Staatsbahnhof ein.

Schandera war überwach und seltsam klar, wie von einer Halluzination umfangen. Er wußte: jetzt hatte er das Portal erreicht, jetzt fragten ihn die Leute mit den schwarzen, steifen Kappen, die Zöllner des städtischen Oktroi, nach Eßwaren, jetzt wich er den Lastwagen aus, die vom Porschitsch heranknarrten, jetzt saß er in einem Café mit blinden Spiegeln, zwischen Rauchenden und Gestikulierenden, jetzt sprach er in der Hibernergasse mit dem Zahlkellner des Hotels Europa. Im zweiten Stock nahm er ein rückwärtiges Zimmer, das wie eine Grube war. Sogleich legte er sich in das halbfeuchte Bett nieder. Aber auf den Korridoren und in den Zimmern nebenan hantierten die Stubenmädchen, unten wurde geklopft und mit Geschirr gelärmt. Ein Menschenschatten, riesenhaft, schien vom Fenster her zu drohen.

Gegen Abend machte sich Schandera zu einem Gang in die Stadt bereit. Nur wenige Lichter brannten im Treppenhaus, durch das ein Geruch von Ammoniak und Pleite irrte. Die Teppiche waren aufgerollt, Wäsche lag durcheinandergeworfen über verstaubten Plüschmöbeln. Eine magere Dame mit einem Totenkopf, hervortretenden Jochbeinen und kanariengelbem Haar drehte sich im Schlafrock zurück nach einem Raum, drin jemand auf einer Geige phantasierte. Jemand schrie unzüchtige Worte in ein Telefon. Schandera hatte nun eine blaue Brille; Dr. Schauer, so füllte er in der Kammer des Portiers den Zettel aus. Beim Barbier ließ er sich glatt rasieren, denn er scheute sich erkannt zu werden. Er mied noch die Straßen des großen Verkehrs. In einem Bierhaus auf der 16 Nordseite des Wenzelsplatzes, in dessen Torweg, mit der Buntheit des Jahrmarkts bemalt, Photographien des Königs Peter von Serbien und des Präsidenten Fallières hingen, aß er, was man ihm vorsetzte, ohne darauf zu achten. Dann trieb es ihn zur Ferdinandsstraße.

Er war an der Ursulinengasse, vor dem Gebäude der Polizeidirektion. Noch immer standen sechs Buchsbäume am Balkon des ersten Stockes, rankten sich im mittleren Büro des Erdgeschosses zwischen den Schreibtischen, an denen um diese Stunde niemand mehr arbeitete, die vom Gaslicht und der stickigen Luft verdorrten Schlingpflanzen. Noch immer tappte der Schritt eines Polizisten über die Steine des Trottoirs. Schandera ging weiter zum Anbau in der Bartholomäusgasse, entlang der dunklen Mauer, bis zu dem Holztor mit der Laterne. Ein Relief mit einem Beil, mit Rutenbündeln und einer Waage sah er, ganz wie damals. Und nur daß er seinen Arm wie gebrochen fühlte, entzog ihn dem tyrannischen Willen, der ihm an dem abgenutzten Messingknopf zu läuten befahl. Durch die Nacht hörte er von der Postgasse her das Klirren eines Säbels.

 


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