Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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18

Manja schrieb aus Berlin seltene Briefe. Nur soviel ging daraus hervor, daß sie in einer Pension in der Dorotheenstraße wohnte, und daß sie in fünf Monaten über erste Versuche an den Kammerspielen nicht hinausgelangt war. Eine Sommerdirektion gab dort den »Tugendwächter«, den »Gelbstern«, die »Schicke Auguste«. Jetzt hoffte Manja auf das Deutsche Theater, auf Janthe, die Freundin der Hero. Schandera wollte sie sprechen, ohne Ljuba vorzeitig zu erregen; vom Hauptpostamt meldete er abends eine Verbindung mit der Berliner Pension an. Er wartete an dem Apparat, der in einer der Kabinen befestigt war. Eine Lampe mit abgenutztem, rötlich glosendem Metallfaden erhellte das stickige Holzgehäuse. Die stählerne Schnalle um den Kopf gelegt, hörte er nach mehrfachem Umschalten sehr schwach Manjas Stimme.

Er sah die Moldau bei Selz, die kahlen Kirschbäume der Alleen, den gipsernen Elefanten im Garten einer Restauration, die Straßen von Raudnitz, unter dem Lobkowitzschen Schloß, das verrußte Stadtviertel am Bahnkörper von Aussig, die Elbe, die blassen Wolkenheere des Abendhimmels, die Station Bodenbach, Zollbeamte, über die Gleise hinwegkletternd, Güterwagen, die rangiert wurden und ihre Puffer gegeneinander klirrten, ein Fenster mit Weinranken, aus dem ein kleines Mädchen mit einer Puppe in das Halbdunkel lehnte, blinkende Signale, die Sterne. Die Stimme Manjas setzte aus, jetzt wurde sie ganz fern, als ob die Drähte auseinanderglitten. Nur noch einzelne Worte erfaßte er. Dann knackte es, ein wildes Wecken: »Ist dort Prag?« Die Stimme war 112 verstummt. Schandera rief endlos ins Telephon. Aber nur die Leere gähnte.

In den Morgenstunden des Sonntags besuchte er seine Schwester, die einstweilen in die Karpfengasse gezogen war, in einen Neubau des Assanierungsbezirks. Sein Weg führte ihn durch die Kreuzherrengasse, in der Alumnen des fürsterzbischöflichen Seminars, in schwarzen langen Röcken, mit veilchenblauen Schärpen, steife schwarze Hüte tragend, durch das Tor der Jesuitenkirche schritten, durch die enge Plattnergasse zum öden Marienplatz. Schutthaufen bezeichneten die Front der demolierten Armutsquartiere; doch ringsum drängte sich hinter löchrigen Scheiben noch immer das Elend. In der Karpfengasse hörte der Steinrand des Trottoirs auf, und der Fuß mußte über Barrikaden. Eine Kutsche der Radlitzer Molkerei hielt vor einer grünlich gestrichenen Zinskaserne.

Schandera läutete im Mezzanin, der nach frischer Ölfarbe roch, an der vierten Tür rechts. Mit einer quersitzenden Haube, zerknittert wie ihre wollene Strickjacke, kam eine alte Frau hervor, die Logiswirtin. In einem der Zimmer, das offen war, saß ein bärtiger Mann von etwa dreißig, ihr Sohn. Er hatte die brennenden, uralten, heimatlosen Augen eines talmudischen Grüblers, sein Bein, das er auf einen Sessel streckte, war umwickelt, als sei er kniekrank. Der Vater, ein Bettfedernhändler aus der Geistgasse, las am Ofen die Inserate des »Prager Tagblatts«.

Schandera klopfte am Zimmer von Frau Giacometti an. Kein Laut der Erwiderung; so trat er zögernd in das einfenstrige Kabinett. Über den Diwan geworfen, lag seine Schwester. Sie weinte, ihr Gesicht war verquollen, ihr 113 Haar zerzaust. Sie sträubte sich, als Schandera sie hochhob. Nach und nach beschwichtigte er sie. Das Geheimnis ihrer Ehe, das sie niemals bisher enthüllt hatte, gab sie nun preis. In hervorgestoßenen Andeutungen erzählte sie von dem Menschen, dessen Eigentum sie gewesen war und dessen Doppelnatur ihr in zehnjährigem Beisammensein unbekannt blieb. »Er war immer gut zu den Dienstboten. Dem Alois, seinem letzten Diener, und früher dem Schachinger hat er alles nachgelassen. Und auch ein großer Hundefreund war er. Beim Bierabend im Hotel beim Tarock war er oft der Lustigste. Aber dann, in der Nacht, fing er wüst und gemein zu reden an. Er setzte sich zum Tisch, er trank und tobte, er riß sich die Uniform auf, er wurde eine Bestie. Stets, wenn er nach Wien wollte, belog er mich. Ich glaubte, er hätte nur seine Weibergeschichten. Erst nachher hab' ich ahnen müssen, daß ich mit Leib und Seele einem Verbrecher ausgeliefert war. Nicht zurückgeschaut hat er nach mir, als sie ihn forttransportierten.« Sie war sehr häßlich, wie sie jetzt vom Diwan rutschte, ihr Taschentuch zum Ballen knetete und leise stöhnte. Schandera hatte den Wunsch sie abzulenken, indem er sie nach den Verwandten Giacomettis in Salzburg fragte und dem Erbschaftsprozeß, dessen gerichtliche Entscheidung begann. »Sechzigtausend Kronen und die Hypothek auf das Haus in Leitmeritz«, sagte Therese und raffte ihr wirres Haar. »Du mußt dorthin schreiben«, riet ihr Schandera. Sie machten aus, daß sie zum Mittag am Riegerkai sein und er heute noch ihre Papiere durchsehen werde.

Es war elf Uhr vorbei, als er sich von ihr trennte. Die matte Herbstsonne fiel auf die eine Seite der 114 Karpfengasse. Aber sie hing ohnmächtig über der krummen Meiselgasse und den nur halb zerstörten Straßen um den Turm des Jüdischen Rathauses, an dessen Uhr die Zeiger langsam rückwärts krochen. Ghettoluft war hier, Kinder in schäbigem Staat kreischten und verfettete Frauen mit zackigen Spitzen an der Stirn, dem Ersatz für das abgeschnittene Haar. Junge Männer, den Hut im Genick, in zu weiten Paletots, empfingen den Fremden mit einem Schwall von Worten und schlossen sich, fahrig und resigniert, einander bewitzelnd, den Gruppen der Eckensteher wieder an. Dies war die Mauer der Altneuschule, des finsteren, vom verwischten Lampenruß der Zeiten schwarzen Kellergewölbes, unter dessen Dach der Golem verborgen sein sollte. Am Langen Tag jammerten hier an den Pulten die Männer, in weißen Taftmützen, über den Röcken ihr Sterbehemd, um Hand und Arm die Gebetriemen, ungewaschen, mit ungespültem Mund, ohne Stiefel, Stroh unter den Füßen. Heiser sang der Chasen ihnen vor, und Hornrufe drangen durch die Pforte, die jetzt der Synagogendiener, mit rotem Haar und roten Wimpern, zuschloß. Schandera verweilte in der Hampasgasse, an dem Haus der Beerdigungsbrüder von der Chobharah Keduschah, deren Amt es war, die Toten zu säubern und über ihrem Haupt die Eier auszuklopfen, mit denen sie ihnen das Gesicht einrieben. Die Sonne beschien die geborstenen, schrägen Leichensteine des Judenfriedhofs, die, von den Stämmen der Fliederbäume umklammert, sich gegen den Aufstieg der Schollen wehrten, und das Tiersymbol eines grauen Sarkophags. Noch lag über dieser Wildnis ein harter, unversöhnlicher Trotz; doch sie war schon angetastet, gelichtet. Ein 115 Buchfink flog umher, eine Drossel, die Nahrung suchte, hüpfte zwischen dem Laub.

Schandera hatte das erzwungen fesche Antlitz Giacomettis vor sich. Umdrehend wandte er sich bis dahin, wo die Rabbinergasse der Niklasstraße gleichgeebnet war und die Zeile der protzigen Großstadtbauten begann. Die Elektrische fuhr über die neue Brücke, auf deren beiden Torhäuschen die korinthischen Säulen emporstiegen. Und jenseits des Flusses die Anhöhe des Belvedere, in grüner Patina das Renaissancedach des Ferdinandeischen Lustschlosses, der verkürzte Umriß des Hradschins. Von der Marienschanze hallte ein Schuß über die im Rauch der Kamine feiernde Stadt.

Der Oktober war regnerisch und kühl. Der November hatte milderes Wetter. Zwei Möbelwagen brachten die Einrichtung neuer Mieter heran. In der vierten Etage, gerade unter der Wohnung der Frau Gjalska wurden Kisten gewälzt und Nägel eingeschlagen. Auf den Bankdirektor Laurin folgte ein Industrieller, der Kaiserliche Rat Gregr, und dumpfe Geräusche pochten an die Zimmerböden. Stundenlang wurde hernach Klavier gespielt, der »Fidele Bauer«, der »Walzertraum«. In der Nebenwohnung, die jetzt von einer verwitweten Dame gemietet worden war, war es bei Tag still. Dann jedoch schrien Gäste, in der Regel sechs bis sieben Personen; auch Frauen mischten sich drein, und brutale Worte irrten durch die Wand herüber.

An einem dieser Abende kam Schandera allein nach Hause. Er wußte, daß der Knabe zu Viktor Eisler, seinem Freunde, gebeten war, aber er glaubte, daß Ljuba schon da sein werde. Er öffnete die Flurtür. Nichts bewegte 116 sich, auch in Miladas Küche war kein Licht. Er ging von Raum zu Raum. Dann zündete er die Lampe des Speisezimmers an. Er hatte noch immer den Druck auf der Herzgrube. Aber nach zehn Minuten verspürte er, daß unten und nebenan keiner der Menschen war, deren Tyrannei sonst seine Nerven folterte. Plötzlich lastete auf ihm eine Wahnidee oder eine niederbeugende, gespenstische Sicherheit. Irgend jemand mußte hier im Halbdunkel oder draußen schwer geatmet haben. Es war ihm nicht klar, warum er an Ljuba dachte, warum er sich vorstellte, daß sie sterbend oder tot im Schlafzimmer liege. Unmöglich wäre es ihm gewesen, das Sofa zu verlassen. »Ljuba«, rief er. Da klapperten Schlüssel auf dem Flur. Die Magd kehrte von Einkäufen zurück. Und bald darauf kam Ljuba. Die Slowakin streifte ihr die Gummigaloschen ab. In der unteren Wohnung wurde der Vilja-Walzer gepaukt, hinter der Wand wurde geschrien und gepfiffen.

In der letzten Novemberwoche hustete Erik. Am dritten Tag sah der Dr. Brandeis nach ihm. Er beklopfte ihn und forderte, er müsse einen, zwei Monate die Schule versäumen. Eriks Augen hatten einen seltsamen Glanz. Einmal gewahrte Schandera, daß Tränen in ihnen standen. Am neunten Tag spie Erik Blut.

 


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