Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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Auf der Rückfahrt von der sächsischen Grenzstadt über Reichenberg wußte Schandera nicht mehr, wann Erik das letzte Mal Patient bei Dr. Geyer in Duhanitz gewesen war. Aber er dachte an die Chrysanthemen und an die Gewehrschränke. Und sofort wieder an die telephonische Meldung des Chirurgen bei der Gendarmerie: »Ich werde mich in dreißig Sekunden erschießen. Ich habe eine Versicherung von hunderttausend Kronen für die Meinen aufgenommen und die Prämie dafür nach der Ordnung bezahlt. Ich will ohne Kränze durch Feuer bestattet werden.« Ein Beamter hatte den Primararzt der schlechten Finanzgebarung angeschuldigt. Er habe seine private 246 Kasse und die des Spitals zusammengeworfen, Kranke gratis verpflegt, die mit dem Bergwerk und Duhanitz nichts zu tun hatten, Defizits aufgefüllt und durch kostspielige Neuanschaffungen vergrößert. Von Revision und einer Disziplinierung bedroht, die Entlassung bedeutet haben würde, hatte Geyer, um die Rechte seiner Familie zu schützen, sich ausgeschaltet. Das einzige Krematorium, dem er testamentarisch sich zuweisen konnte, war jenseits der Grenze. Nie hätte Schandera diese mystische Möglichkeit, dem Toten für Erik und Ljuba noch zu danken, versäumt.

Er hatte sich hinbegeben, vom Bahnhof in den Weißen Engel, nahe der Johanniskirche. Ihre Glocken und die von Petri und Paul riefen, der Marsbrunnen mit dem Roland, der Schwanenbrunnen auf der Neustadt, der Herkulesbrunnen, der Brunnen der Samariterin flossen wie wohl vor Zeiten. In der Frühe hatte er durch die Komturstraße das Krematorium aufgesucht. Um die Mauern war er, da er niemanden sah, herumgegangen. Ein Keller, Aschenkästen, numerierte, gelötete Blechkapseln, die Ofenkammer von Schamotte, Roststäbe, auf denen Zinkoxyd war und phosphorsaurer Kalk; aber zugequetschte Särge in der düstern Vorhalle, mit Blutlachen und Gebeinresten, ein Souterrain des Grauens. Der Heizer, der Kaninchen gefüttert hatte, erschien, den Generator mit Koks zu bedienen. Er sagte, die Leiche aus Böhmen sei schon gestern verbrannt worden, mit anderen, denn kein Mensch habe sich zu der Trauerfeier avisiert. Ob man eine Urne für das Kolumbarium wolle? Das Grauen wich von Schandera erst, als in Grottau die Pässe geprüft wurden und der Jeschken im Sonnenlicht stand.

In Prag fand er eine Depesche Manjas aus Krakau, 247 Hotel de Saxe: »Bin hier ohne Mittel.« Das Rechtsarchiv war, da Schandera alle politischen Recherchen verweigert hatte, nach unwilligen Subventionen für noch ein Vierteljahr eingestellt worden. Die meisten Gläubiger waren befriedigt. Er hatte jetzt eine Summe für einen bis zwei Monate. Diese Frist konnte er erstrecken, wenn er das Mobiliar versteigern ließ, er konnte sie auch abkürzen. Noch am selben Tag begann er die Reise. Von Ruß verzehrt war der Himmel über Mährisch-Ostrau und Witkowitz, rotgelb von Naphthabrand über Trzebinia. Die Einfahrt nach Krakau blockierte ein Militärzug, rasselnd schleppte er sich vorbei, Kanonen waren angekettet und wiehernde Pferde.

Schandera betrat die Stadt der achtunddreißig Kirchen am Vormittag durch das Florianitor. Dohlen schrien, Bürgerinnen bekreuzigten sich vor einer Gottesmutter im Kerzengeflimmer, ganz wie vor der Agramer Majka Boska. Die Wagen bogen um das Rondell, die sarazenisch-gotische Barbakane. Hinter dem Museum Czartoryski lag die Slawkowska, lag das Hotel de Saxe. In der verglasten Pförtnerloge frage Schandera nach Manja. Der Pole sagte, die Gnädigste sei vorgestern nach Chabowka oder nach Zakopane und werde heute noch zurück sein. Sie habe sich von ihm, dem Portier, unter Verpfändung einer Damenuhr hundert Kronen geborgt; der Herr, vermutlich der Herr Onkel, werde die Gnädigste ja auslösen. Sie habe Nummer 27; wünsche der Herr Nummer 28, daneben? In dem einsamen Flur an der obersten Treppe moderten degradierte Barocksessel mit goldener Heraldik auf zerrissenem Leder. Niemand verirrte sich hierher. Eine Rabitzwand mit einer Tür verband beide Zimmer. 248 Die Bettwäsche war noch feucht vom Walken. In der Lade des mit Tinte beklecksten Schreibtischs knisterte Papier gegen Schanderas Hand, polnische Briefe einer Frau, intime Briefe, vergessen und verschmutzt.

Auf dem Ring, dem Glowny Bynek, um die Sukiennice, die auf Säulen wuchtende Tuchlaube mit den wie Schneckenhäuser gedrehten Zinnen, unter den Wappen der polnischen Städte war Tandelmarkt. Auf dem Pflaster spannten bloßfüßige Weiber ihre papageienbunten Schirme. Kinder bettelten vor einer Zuckerbäckerei, Burschen, kaum größer, fegten zwischen Karren und Bottichen die Straße. Unbewohnt schienen die florentinischen Adelspaläste, schien bei der Ulica Swiaty Anny der Palast der Potocki, das Haus Pod Barany, mit den Widdern. An einer Seite des Rings war aus roten Ziegeln die Basilika der Panna Marya erbaut. Der Altar von Veit Stoß mit dem ewigen Gottvater öffnete seine geschnitzten Flügel. Ein goldener Kronreif gleißte von der Turmspitze, eine Trompete, die wie die menschliche Stimme sang, blies das Hejnal, das Stundengebet für die Seelen der Toten. Vom Belfried des Rathauses schallten die österreichischen Wachkommandos, Adam Mickiewicz, der Romantiker, hob gramvoll seine hoffärtige Stirn. Ginster stak an der Pforte der kleinen Adalbertkirche, ein Malvenstrauß an der Tür der heiligen Barbara, frommes Weihgeschenk für den in der Qual von Gethsemane niederknienden Jesus.

Das Hejnal verklang zum sechsten Mal, als Schandera in der Hoteldiele Manja entgegenging. Sie lief schwankend auf ihn zu, in einem perlgrauen Cape, gealtert auch sie. Er hatte dunkle Empfindungen. Sie nahm ihn nach oben mit, und indessen in der Etage unter ihnen eine 249 Matratze geklopft wurde, sagte sie ihm alles. Im Adreßkalender war Stefans Name nicht. Sie erkundigte sich nach dem Komponisten im Theater, in dem Haus am Stadtpark mit der Marmorbüste des Grafen Fredro davor, des Lustspieldichters. Man erwiderte ihr, Pan Felinski sei auswärts, aber für diesen Abend, für die »Traviata«, habe er sich Plätze in einer Rangloge reservieren lassen. Manja kaufte ein Billet, saß gegenüber der römischen Dekorateurmalerei Siemiradzkis, und sie erwähnte nicht, wie sehr der halbnackte Musaget inmitten der halbnackten Musen und Satyrn für ihre getäuschten Sinne Stefan glich. Sie blieb und hörte die »Traviata«, aber er kam nicht. Von einer Kanzlistin erfuhr sie, er sei noch in der Sommerfrische in Zakopane in der Tatra. Sie hatte ihm geschrieben, keine Antwort. Nun war sie gestern in den Bergen gewesen, unter dem Giewont und dem Hawran, an den Quellen des Dunajec, in dem harzigen Fichtenwald um die Balkenhütte, die ein grauhaariger Goral in weißem Leinenmantel als die von der Frau Felinska, der Jüdin, gemietete Villa ihr zeigte. Es gab da keine Mieter aus Krakau mehr; eine Bäuerin in einem Wams von Schafpelz hatte die Fremde, deren Sprache sie kaum begriff, barsch weggejagt. Laut, dann immer schwächer, bellte ein Wolfshund. Geruch von Genzianen, Insektensummen, ängstigende Waldesstille. Manja redete wie eine Fieberkranke vor sich hin. Schandera dachte, daß diese Liebende und Verzweifelnde nicht Blut von seinem Blut war. Sie beharrte dabei, sie müsse Stefan nur noch einmal sehen. Gelinge es ihr morgen nicht, so reise sie ab nach Wien. Mit wieviel Geld Schandera sie unterstützen könne? Er beruhigte sie. 250

Auf dem Ring war Korso und Dröhnen der Straßenbahnen. Sie aßen in der Wirtschaft von Hawelka, an der Ecke der Szczepanska. Es war dort voll von jungen Offizieren, Infanterie mit Egalisierung von Amaranthrot bis Krapprot, Zitrongelb bis Kaisergelb, Meergrün bis Apfelgrün, Ulanen in lichtblauen Ulankas mit goldenen Achselschlingen, Leutnants der Festungsartillerie, Pioniere in hechtgrauen Blusen, Train in braunen Waffenröcken, und von Auditoren und Intendanturbeamten. Die jungen Offiziere, geschmeidig mit schmalen Hüften, elegant und verschuldet, sie waren eine Hekatombe, ausgewählt für die ersten Schlachten eines Krieges.

Am nächsten Tag führte Schandera die widerstrebende Manja durch die Grodzka hinauf zum Wawel. An das schwarzgelbe Tor war der zweiköpfige Adler geheftet. Aber das Militär räumte nach kaiserlichem Befehl die Burg der polnischen Könige. Jetzt wurde sie restauriert, Maurer schafften den Putz fort. Auf den verwitterten Stufen lungerten zahnlose Almosenempfängerinnen. Prunkkapellen umrahmten den Silbersarkophag des heiligen Stanislaus. Unter der Goldkuppel der Nische von Bartolomeo Berecci waren, erhabene Visionen, die roten Marmorleiber der beiden Sigismund und der Anna Jagiellonka ausgestreckt. Ein Küster geleitete zu der Gruft, in der eine Krone und ein von einer Schlange durchkrochener Schädel den schwarzen Sarg des Siegers Johann Sobieski zierten, und murmelte, dies seien die Särge von Thaddäus Kosciuszko und Josef Poniatowski. Struppige Hennen gackerten bei dem Drachenloch und im Gras der Böschung. Die Weichsel rollte ihre Wellen dahin, frohnende Tagelöhner schritten, die Planken biegend, mit 251 Steinen bepackt, von den Kähnen in den Staub des Ufers. Fern wurde ein Erdhügel sichtbar, die Kosciuszko-Höhe, die auch eine Schanze der Festung war. Manja schwieg; und wenn sie sich absteigend auf ihn lehnte, hegte Schandera die Illusion, daß sie Ljuba sei.

Sie wollte zu einem Polizeirevier und von da ins Hotel. Er trennte sich von ihr in der Ulica Swiaty Anny, vor der Universitätsbibliothek. In dem Arkadenhof nippten Sperlinge Regenwasser aus Steinmulden, von Spinnen umwoben waren die Instrumente der Kopernikusfigur, ein Student las an einem kleinen Tisch im Schatten des Kristallgewölbes. Noch grünten die Promenaden um den Teich, um das Chopin-Monument und die Heldin von Mickiewicz, die geharnischte Litauerin Grazyna. Schandera setzte sich auf eine Bank. Auf der dritten von ihr ab saß ein Weib in einem Frottékostüm, mit großen Füßen, männlich und doch erregend. Als ihre Augen ihn nicht losließen, ging Schandera fort zum Rondell und zur Kunstakademie. Auf granitnem Sockel hielt in Bronze Wladislaus Jagiello, unter sich den zerschmetterten Meister der deutschen Kreuzritter. Es war nicht weit zum Karmeliterkloster in der Vorstadt Piasek, der Maria-Schneekirche von Krakau. Der aussätzige König Wladyslaw Hermann stiftete sie der Madonna in dem beschneiten Sand, wo die Veilchen blühten, dem wunderwirkenden Sand, mit dem er seine Schwären sich wusch. Aber Schandera kehrte zum Ring um. Juden von Kazimierz in schwarzen Kaftanen, geringelte Locken über den Bärten, diskutierten an der Slawkowska.

Der Mann in der Glasloge tuschelte: »Es ist eine Dame bei dem Fräulein.« Schandera ging die Treppe hinauf in 252 sein Zimmer. Zwei Stimmen wechselten hinter der Rabitzwand in dem harten, einstudierten Deutsch der Slawinnen. Ohne daß es sein Plan gewesen wäre, lauschte er. Heftiger, schriller wurde die Stimme der Besucherin, ein Geflüster die Manjas. »Er hat Sie verlassen«, sagte die Besucherin, »und Sie belästigen ihn noch hier. In der Theaterkanzlei waren Sie und draußen bei der Staszeczkowka, um zu spionieren; ja, haben Sie nicht genug? Seit er Sie kennt, seit dem verfluchten Prag ist er ein anderer. Die Niederlage mit der Symphonie, daß er nicht besser daran arbeitete, geschah einzig durch Sie.« Manja entgegnete etwas, das sich ins Gestaltlose verlor. »Er ist mein Mann, der Vater meines Tadzio und meiner Rena«, jammerte, mit Heiserkeit kämpfend, die Stimme der Besucherin. »Wir haben zusammengelebt, schon als er noch bei seinen Piaristen studierte, als er noch katholischer Stipendiat in Lemberg war. Unsere Ehe ist glücklich.« »Er hat mir gesagt«, erwiderte überhastet Manjas Stimme, »er habe mit Ihnen keine Gemeinschaft mehr. Sie müßten sich scheiden lassen, denn Sie könnten ihm nicht mehr Frau sein, er hat ärztliche Zeugnisse gegen Sie.« Die Stimme der Felinska bebte und zersprang: »Elende! Von Ihnen hat er gesagt, daß er Sie verabscheut, daß er Ihren Körper nicht ertragen kann, daß ich ihn vor Ihnen retten soll, weil er hilflos ist in seiner Krankheit.« Manja fragte leise, wie in einem schlimmen Traum: »Er ist krank? Wo ist er? Nicht in Podgorze?« Die Felinska triumphierte: »In einem Nervensanatorium in der Stadt selbst, unerreichbar für Sie. Ein Freund seiner Kunst, ein großer polnischer Mediziner, wird ihn heilen. Ihre Briefe an ihn hat der Professor abgefangen, weil er das für seine 253 Pflicht hält. Das Verbot, das ausgegeben worden ist, werden Sie nicht durchbrechen können. Ich bin nicht da, um Sie zu bitten. Ruhe will ich für ihn. Mag sein, daß Sie mich sogar erbarmen, wenn Sie fort sind. Es muß furchtbar sein, ihn zu lieben und von ihm nicht geliebt zu werden.« Manja sagte überdeutlich, als beende sie einen Bühnendialog: »Entfernen Sie sich, entfernen Sie sich!«

Die Tür von Nummer 37 ächzte in der Angel. Jetzt fiel sie zu. Schandera trat auf den Hotelkorridor. Um die Barockmöbel schwirrten, silbrige Gespenster, die Motten. Er sah im Licht einer schiefen Glühlampe eine Vierzigjährige aus Manjas Zimmer kommen, jünger war sie kaum; und diese Vierzigjährige, brünett, mit kalten, stumpfen Pupillen, gichtisch gebückt, hatte den Unterkiefer vorgeschoben und lachte. In einer Besenkammer sang ein Hotelmädchen: »Dana, moja dana, weiß ist die Sukmana.« Schandera ging zu Manja hinein.

Es wurde Abend. Ein fahler Fleck nur, schimmerte Manjas von Tränen überronnenes Gesicht. Sie lag regungslos wie eine Tote. Durch die Mauern drang Orgelmusik, anschwellend und verhauchend; oder war es Musik über die Straße hinweg, aus einer der Kirchen? Schandera streichelte Manjas Wangen, ihr Haar. Die Orgel verstummte. Es wurde Nacht. Die Tränen Manjas rannen nicht mehr, und als er mit einer flehenden Bewegung nach ihr tastete, als er sie küßte, lockerten sich ihre Glieder. Nun war sie ihm Ljuba. 254

 


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