Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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In den Oktober fiel Eriks Geburtstag. Das Glück der Ferien verließ ihn; auch nachts hustete er, seit er gegen die Sonne von Kraljevec Regen und Kühle eingetauscht hatte. Weniger als zuvor hatte er Umgang mit Viktor Eisler. Tomek, der mit der Brille, der ihm Feind gewesen 169 war, forderte ihn zu abendlichen Konventikeln an der Moldau auf, und immer handelte es sich dabei um die Sache der Jugend und der Nation.

Erik wurde davon tief erregt und besonders von der Legende der Omladina. In der Brückengasse, zwischen dem Wälschen Hof und den Drei Glöckchen, wo unter dem Wappenturm des Bischofs Johann von Dražitz ein grinsender Pudelscherer seinen Arbeitsplatz hatte, lag das Haus, in dem einmal der bucklige Rudolf Mrva wohnte. Das Kurzwarengeschäft mit den Krawatten, Zephirhemden und Knöpfen war sein Handschuhmachergeschäft gewesen, der fensterlose Raum dahinter sein Zimmer, in das nur die Wirtschafterin des Verwaisten kam. In einem Keller der Nerudagasse hatte er als Neunzehnjähriger die Halbwüchsigen um sich geschart, das unterirdische Prag, den Kleinseitner Freimaurer-Verein, dessen Besitz Dolche waren, eine Pistole und ein altes Schwert. Tod durch den Dolch war die Strafe des Verräters. Die Polizei erfuhr von Plünderungszügen zu den Reichen, von Requisitionen zu Speisung und Tränkung der Enterbten; die Verhafteten schonte die Justiz. Rudolf Mrva wurde als Rigoletto von Toskana Chef der Omladina. Er führte, wenn die Adler auf den kaiserlichen Postkästen beschmutzt wurden, und in allen revolutionären Demonstrationen. Aber dann, als schon achtzig der Mitglieder in Untersuchung waren, entlockte ihm Mileva Waigert, die er liebte, die Schwester seines Freundes Bořivoj, sein Geheimbuch. Er hatte geprahlt, er werde das Statthaltereipalais mit Dynamit in die Luft sprengen; das Büchel, das der Dr. Herold von der Tribüne des Wiener Parlaments vorlas, war voll der Notizen eines Spions. Kein Tscheche hatte, so höhnte Tomek, 170 ihn hinfort für lebend angesehen, niemand hatte in seinem Geschäft gekauft. Er verkroch sich in der fensterlosen Stube; nur bei Nacht noch spazierte er um den menschenleeren Radetzkyplatz. Bis ihn am Weihnachtsabend auf seinem Flur Doležal und Dragoun, zwei Omladinisten, mit dem Instrument der Rache niederstreckten. Die Spitze durchbohrte ihm das Herz, er selbst hatte die Brust ihr dargeboten.

In der Erzählung Tomeks glomm ein unbestimmbarer Haß, aber er versicherte den jungen Schandera seiner Kameradschaft. Der Kummer der Kinderjahre brach in Erik wieder auf. Es strengte ihn an, fragen zu sollen, nun, da das Recht auf sanfte Torheit ihm, dem Sechzehnjährigen, genommen war. Er hatte Scheu, sich über Vergangenes mit dem Vater auszusprechen, für oder gegen ihn entscheiden zu müssen. Er bedauerte ihn, die Mutter und sich. So mied er ihn einige Tage; dann schloß er sich um so heftiger ihm wieder an. In der Bibliothek des Vaters, nach dem Hof zu, zwischen dem Kabinett, in dem Erik schlief und arbeitete, und der Küche, fand er Pappkartons mit politischen Broschüren und Reichsratsprotokollen. Blaue Striche markierten die Reden des Abgeordneten Schandera über das Wahlgesetz, das Budgetprovisorium, die Nationalitäten. In einer nicht gebundenen, zerrissenen deutschen Ausgabe des »Selbstmords« von Thomas Garrigue Masaryk stak eine Nummer eines Prager Mittagsblatts. Unvollständig war darin der Vorbericht über die Unterredung zweier Parteisekretäre mit dem belasteten Dr. Schandera. Er habe die Abgesandten, die ihn drängten, dem Präsidium seinen Mandatsverzicht mitzuteilen, mit Tränen in den Augen beschworen: »So verdammt 171 auch ihr mich? Wenn es eine Gerechtigkeit auf der Welt gibt, dann wird sich meine Schuldlosigkeit erweisen.« Einen Browning habe er einem Fach entnommen und gesagt: »Hätte ich nicht Frau und Kind, so würde ich nicht schwanken.« Der Bericht zeigte, wie sehr eine Minderheit in der Partei gezaudert hatte, Schandera zu opfern, und wie mörderisch das Schweigen der Polizeidirektion über die Person des Tersch gewesen war.

Manja hatte aus München geschrieben, daß sie wohl über Prag reisen werde. Dann traf ein Brief von ihr aus Stuttgart ein. Nur noch mit Widerwillen denke sie an ihre Jahre als Schauspielerin. Sie sei jetzt krank. Aber auf die Empfehlung des Professors Schindler hin und den Erfolg ihres ersten Konzerts sei sie für eine Tournee der Robertson, der Amerikanerin, durch rheinische Städte, vielleicht auch nach Belgien, verpflichtet worden; nur noch der Gatte der Robertson, von dessen schlechten Liedern die Virtuosin der Koloratur einige singen werde, gehe als Begleiter auf dem Flügel mit. Sie sandte Musikzeitungen. In einer hieß es, daß sie zugleich mit dem böhmischen Pianisten Jan Petera schon früher als eine Hoffnung des Wiener Konservatoriums gegolten habe.

Der Novembertermin beendete den Urlaub Ljubas. Von jetzt ab erhielt sie ein Viertel ihrer Gage als Pension, ohne Anrechnung ihrer Zugehörigkeit zur Oper. Sie hatte den Intendanten bei sich erwartet. Statt seiner erschienen Deport, feierlich und verlegen, und als Freunde Beran, Nejedly und die Randova. »Niemals«, so rief sie vor ihnen, »werde ich in dieses undankbare Theater einen Fuß mehr setzen.« Der Abend in dem kalten Empiresalon war niederdrückend, Ljuba deklamierte 172 »Hippodamias Tod«, den Monolog des vierten Aktes: »O Seelenfinsternis, wie furchtbar bist du! Gräßlicher Spuk in stets erneuerter Gestalt wird aus dem Schoß der schwarzen Nacht geboren!« Wieder sammelte sie die Worte. Beran blickte zum Plafond, die Randova lächelte ihr geschminktestes Lächeln. »Und doch«, sagte die Gjalska plötzlich weiter, »liebte ich Pelops so, daß ich aus Liebe Frevel tat.« Sie hatte vergessen, daß sie nicht auf der Bühne stand. »Stille«, sprach sie mit hohlem Ton, »es nahen Schritte, Pelops.« Sie warf sich, am Teppich entlangrutschend, vor Beran, ihrem Partner, auf die Knie. In seinem faltigen Gesicht bewegte er die Lippen, als parodiere er den Text: »Ich kenne dieses Weib nicht!« Aber er und die anderen erschraken; die Gjalska schlug besinnungslos an das Kamingitter.

Sie erholte sich schon tags darauf und beharrte, sie müsse mit Erik nach den Friedhöfen hinaus, zum Totenfest. Ölflämmchen in blauen, roten, gelben Gläsern leuchteten auf der Malvazinka von den Erdhügeln, Kerzen reihten sich zu Girlanden, Papierrosen umrahmten die Steinplatten, Tannenkränze oder auch Kränze von Blech hingen um die Kreuze oder die gipsernen Engel. Ganze Familien waren hier, um die von ihnen gepachteten Plätze zu begießen, wettermorsche Bänke zu nageln oder die emaillierten Abdrücke von Photographien ihrer Gestorbenen von Vogelspuren zu reinigen. Viele Frauen beteten am Boden. Oft waren es bezahlte Arme, die für Vermögende die Litaneien herunterplärrten. Die Malvazinka lag zwischen dem Motolbach und dem Weißen Berg, und Hunderte strömten zur äußeren Kirche von Maria de Victoria und ihren Muttergotteskapellen. Erik 173 hätte gern sie und die spätherbstliche Natur noch gesehen. Aber Stiche im Rücken folterten ihn, Stiche auch, wenn er atmete. So blieben sie an der Station der Elektrischen vor der Mauer der Klamovka, vor dem Park mit den adligen Pavillons, dem Kuppelbau des Himmelchens, dem Grabmal des gräflichen Leibpferdes Cassil, vor dem heute dunklen Tanzlokal der Arbeiter und der Fabrikmädchen; und als sie im Wagen saßen, im nassen Novemberfrost, war es für Erik eine Zuflucht.

Er hatte am Sonntag Nachmittag allein ein Billet zu der Aufführung der »Psohlavci« von Kovařovič. Nicht der Schöpfer der Musik dirigierte, Barhon, der Korrepetitor, vertrat ihn. Aber Kubla sang den Kozina, den Bauern von Aujezd, und Huml den Pribek, den tapfersten der chodischen Rebellen. Durch Tomek war Erik des historischen Stoffes kundig. Erhitzt beobachtete er die Verwandlung seiner Phantasie in farbige Dekorationsbilder. Im Übermut des Karnevals scharrten die freien Choden, die Hundsköpfe an der südwestlichen Grenze des Königreichs, unter närrischen Zeremonien den herrschaftlichen Knüttel ein, tanzten sie zur Sackpfeife des Jiskra, des Dudak, den Ackerertanz. Der kaiserliche Hauptmann Laminger von Albenreuth, den die Bauern Lomikar nannten, rückte mit seinen Soldaten an, um nach den Pergamenten, den Urkunden über die Privilegien, die bei Kozina verborgen waren, zu fahnden. Der weiche Kozina, dem seine Stammesbrüder mißtrauten, hinderte ein Gemetzel. Aber nicht er, sondern seine Mutter rettete die Urkunden; nur die wertlosen lieferte sie an Lomikar aus. Kozina in Ketten vor den kaiserlichen Beamten, im Gefängnis zu Pilsen, nach der Verurteilung durch das Prager 174 Appellationsgericht: durch die üppig malende Instrumentation hindurch empfand Erik das Theatralische der Wirkungen. Und dennoch, der Abschied Kozinas von dem getreuen Dudelsackpfeifer, von Mutter, Frau und Kindern spannte ihn unerträglich. Binnen Jahr und Tag bestellte Kozina den Lomikar, der ihm Gnade zugesichert hatte, wenn er sich beuge, vor den Thron des Ewigen. Kozinas Gespenst schritt in den Saal, in dem nach einer Jagd mit rauschender Lustbarkeit der kaiserliche Vogt triumphierte. Schreiend sank Lomikar um.

In derselben Minute quoll Blut in Eriks Hals hoch. Er glitt vom Sessel, dem zweiten von der Ecke aus. Sein Nachbar, ein dicker Mensch in übelriechenden Kleidern, der seine alkoholische Dumpfheit ausschwitzte und jedes Verklingen des Orchesters durch Rülpsen gestört hatte, stierte um sich. Eine Smichower Lehrerin und ein Friseur von Altbunzlau sprangen herzu und hoben Erik auf. Der Portier und ein Wachmann legten ihn im Rundgang auf einen Garderobentisch nieder. Der Portier sagte leise: »Es ist der Sohn der Frau Gjalska. Wieder ist der Machaty schon weg.« Sie brachten Erik, nachdem sie ihm mit einem essiggetränkten Tuch Kinn und Hände gewaschen hatten, durch das Kassenportal an der Theatergasse zum nächsten Arzt, jenseits der Stiege in der Ferdinandsstraße, im Mezzanin über dem Konzertbüro Mojmir Urbanek. »M. U. Dr. Körner« war die Inschrift auf dem Porzellanschild.

Dr. Körner, in hechtgrauer Bluse mit schwarzsamtnem Paroli, drehte in seinem Ordinationszimmer das Licht an, das auf Kopien nach Rembrandt und Brouwer, auf Porträts von Semmelweis und Billroth, massige Möbel, 175 Cuvetten und Zangen von Nickel fiel. Seine alte Schwester half ihm, den Patienten mit Schonung auf eine Chaiselongue zu betten und ihm den Rock, das blutige Hemd auszuziehen. Er forschte nicht, wer er sei, schob ihm Eispillen in den Mund und flößte ihm dann noch Kochsalz in Teelöffeln ein. Erik, dessen Verwirrung langsam wich, blickte ihn an. »Es war mir so übel«, sagte er, »ich wäre froh, könnte ich schlafen.« Seine Augenlider wurden schwer, er seufzte und wußte nichts mehr von sich. Der Militärarzt bat den Wachmann, der im Flur noch harrte, den Gymnasiasten oder Realschüler in einem Gummiradler, den er zahlen werde, zu den Eltern zu schaffen. »Die Mutter soll Frau Gjalksa sein«, erklärte der Polizist, »die Künstlerin vom Nationaltheater, sie wohnt neben der Myslikgasse am Riegerkai.« »Ich fahre mit Ihnen«, unterbrach ihn, blaß bis an die Schläfen, Dr. Körner.

Aber er entfernte sich, als der Fiaker den Hausmeister und dieser durch das elektrische Läutesignal den fünften Stock alarmiert hatte, noch bevor Ljuba die vielen steinernen Stufen hinunterhastete.

 


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