Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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30

Der April wurde warm; und da eine Luftveränderung den Zustand Eriks für sein eigenes Empfinden nur bessern könne, empfahl Dr. Brandeis, der wieder sein Arzt war, man solle bald mit ihm fortreisen. Es komme nicht darauf an, wohin man mit ihm gehe. Eine Natur, die dem Auge erfreulich sei, müsse es sein. Schandera dachte für Erik und Ljuba an Lussin oder Brioni. Doch die Adria war jetzt zu teuer. Die Erinnerung brachte Ljuba auf den Wunsch nach Baden bei Wien. Dr. Brandeis befreite den Patienten von dem Lederpanzer; der Schwund an den Rückgratspfannen habe sich nicht ausgedehnt. Erik, der die Wohltat wie ein fast schon Verdurstender genoß, lächelte alsbald in Zuversicht. Pepi spaßte mit ihm und lobte seine Haltung, als er zum ersten Mal nach seiner Gefangenschaft dem Balkon zustrebte, um das Bild der Ufer und des Hradschins in sich aufzunehmen. In der ersten Maiwoche fuhr Ljuba mit ihm vom Franz-Josefs-Bahnhof ab. Jedoch in der Nacht vorher hatte rauhes Wetter begonnen; schwärzliche Wolken hingen über dem Žižkahügel und den Höhen von Weinberge.

Schandera zögerte, in die leere Wohnung zurückzugehen; denn auch Pepi war für vierzehn Tage in ihrer Heimat. Aber er erwartete den Besuch des Hofrats Melichar, der sich bei ihm angesagt hatte, statt in den Räumen der Landesregierung mit ihm zu verhandeln. Der Hofrat kam, diskret und gönnerhaft, mit Worten des Beileids zu Schanderas Prüfungen in seiner Familie, betrachtete und pries das Ölporträt Ljubas von Sauerwein und entwickelte sein Angebot: »Wir sichern Ihnen, lieber 188 Herr Professor, eine Subvention für Ihr Rechtsarchiv zu, die Ihnen ermöglicht, es in der Form einer Monatsschrift wieder erscheinen zu lassen. Sie schreiben darin in einem Sinne, der ja ganz der Ihre ist, und worüber wir damals in unserem Gespräch uns schon verständigt haben. Ihre Zeitschrift wird das Organ einer Staatspartei. Sie arbeiten für sie und für sich, indem Sie uns über den Radikalismus und die Symptome einer Auflösung unterrichten. Hergestellt wird die Zeitschrift in der Uniondruckerei, deren Direktor, nicht wahr? unser volles Vertrauen hat, und von dem wir vor der Ausgabe die Bogen empfangen werden. Sie werden sehen, daß wir keine Zentralisten und keine Polizeibürokraten sind.« Schandera bejahte kurz; und Melichar erörterte die Einzelheiten. Er hatte sich so gesetzt, daß er im Schatten blieb und sein Gegenüber in rötlichem Licht der hinter dem Strom und dem Kinskypark dunstziehenden Sonne. Die Korridortür fiel zu. Schandera befestigte den Riegel; er war allein.

An diesem Abend entwarf er einen programmatischen Artikel: über das Wort Palackýs, daß Österreich geschaffen werden müßte, wenn es nicht existierte, über den historischen Trialismus, den das Jahr 1867 durch einen unhistorischen Dualismus beseitigt habe, über die Umwandlung des ererbten Völkerkonglomerats, die Notwendigkeit der Demokratisierung, in der unter den führenden Kräften die Dynastie ihren Platz haben werde. Am Vormittag sprach er in der Union, aus der man in den Hof des Bartholomäuskonvikts sah, bei dem Geschäftsleiter Vilimek vor, einem Herrn von flegelhaften Manieren; und er zuckte zusammen, so oft eine Stenotypistin mit Kalikoschonern und Schürze aus dem Nebenzimmer 189 hereinlief oder ein Metteur aus der Druckerei, in der eine Presse den Estrich erschütterte.

Am dritten Tag war ein Brief Ljubas aus Baden da. Sie hatte mit Erik Quartier in einem Häuschen unter dem Mitterberg, bei einem Fuhrwerksbesitzer mit einer Frau, die massierte, und vier nacktbeinigen Kindern; und um den Leuten jede Befürchtung zu ersparen, verließ Erik seine Kammer und den schmalen Vorgarten nicht. Aber es war regnerisch, und er hustete. Am fünften Tag ging Schandera über den Kai zurück. Hinter sich sah er einen Postbeamten mit roter Tasche, dessen Schritte an sein Ohr drangen. Die rote Tasche war vielleicht das Verhängnis. Doch er wagte nicht stillzustehen. Er drehte den Schlüssel im Schloß, der Postbeamte eilte ihm nach und gab ihm eine Depesche aus Wien, von Ljuba: »Erik schwer krank Spital Leesdorf. Komme sogleich.« Das Verhängnis legte die Hand auf ihn.

Er nahm den Nachtzug über Brünn. In den toten Straßen reparierten Arbeiter die Schwellen der Elektrischen mit zischenden Lötapparaten und Hammerhieben. Nur vor dem Café Edison war noch um zwei Weiber eine Menschenversammlung. Die Fäuste der einen trafen den Kopf der anderen, die lautlos sich mit ihrem Spitzenschirm verteidigte. Die Rächerin, schon bejahrt und plump, schrie: »Das ist die Hure meines Mannes.« Ein Polizist erschien und beide verschwanden. Tot war der Bahnhof; geisterhaft manipulierte das Personal. Tot waren die vorübertanzenden Stationen.

Bis Brünn saß Schandera in der zweiten Klasse neben einem Kupee der ersten, dessen verstaubte weiße Gardinen zugesteckt waren; ein Schild, hier sei reserviert, 190 klapperte daran. In Brünn trennte er sich gegen Morgen in dem bläulichen Halblicht von seinem Waggon. Er fand ihn nicht mehr, dann sah er, zwei Priester waren zu ihm eingestiegen und hatten sich auf die Plüschbänke gestreckt. Aus dem Kupee erster Klasse schritt eine Dame mit Reiseschleier, einer Flasche Eau de Cologne und Brillantboutons. Die lange Lokomotive stand im Wiener Staatsbahnhof. Es war sieben Uhr. Schandera bahnte sich einen Weg durch ruthenische Auswanderer, Bäuerinnen mit Säuglingen am Hals, Bauern, die mit wurzelbraunen Fingern ihre Schnupftücher umklammerten. Sie hatten darin ihr einziges Gut, den Paß und die Schiffskarte nach Amerika.

Vor dem Südbahnhof wurde Schandera inne, daß Sonntag war. Denn viele fröhliche junge Menschen warteten dort, alpin gerüstet zu einem Ausflug nach der Rax und dem Semmering. In etwa einer Stunde passierte man Pfaffstätten, den Rand der Weinberge vor dem Wiener Wald, und nun stampfte der Zug in Baden ein. An dem Viadukt schon begann Leesdorf. Aber Schandera mußte an den Hang des Mitterbergs, zu dem Fuhrwerksbesitzer Anton Gschwendner, zu Ljuba.

Sie kam ihm bis zur Mozartstraße entgegen, alt und tränenlos; er sah, daß sie niederzubrechen drohte. Sie erzählte von einem neuen Blutsturz Eriks. Er hörte, wie sehr sie am Ende ihrer Gedankenklarheit war. Er beschwichtigte sie, sie hatte den Gehorsam eines Kindes. Die Leesdorfer Hauptstraße fuhren sie hinab, vorüber an niederen Gebäuden, einem Magazin mit blinden Scheiben, einer Fabrik von Tonröhren, einem Zaun mit Kukuruz, einer Trafik. Zwischen Bäumen erhob sich das Spital. Ein Assistenzarzt wies 191 sie nach dem Rainer-Pavillon. In der Glasveranda lag Erik und lächelte sie schluchzend an. Er beklagte sich nicht, er bat nur: »Wann darf ich mit euch wieder nach Hause?«

Der Arzt hatte ihnen gestattet, ihn außerhalb der Besuchsstunde, die von drei bis vier Uhr sein werde, zu sehen. Die Veranda war gerade leer. Erik berichtete auf die leisen Fragen seines Vaters. Eine grauhaarige Schwester reichte ihm Tee und warnte ihn vor Erregung. So schwiegen sie zu drei. Der Tag wurde schön, in einer Linde zwitscherte ein Spatzenschwarm. Sie verabredeten sich für den Nachmittag. Eriks Sessel wurde wieder in den Saal gerollt. Schandera entfernte sich mit Ljuba. Von der Wiener Elektrischen kamen viele Sonntagsgäste. Die Glocken der Frauenkirche läuteten über die kleine, weiß und chromgelb getünchte Stadt; und nun auch die von Sankt Stefan. Um das Josefsbad und das Karolinenbad witterte man den Schwefelgeruch der Heilquellen. Vor dem Rathaus baute sich mit goldenem Stern über dem Barockgewölk die Pestsäule auf. Am Theater, in dessen Eingang ein Oberleutnant, in praller Uniform und mit kokettem Spazierstock, die muntere Liebhaberin Fräulein Tilla Pleininger begrüßte, luden rosa Zettel zu der Vorstellung dieses Abends, dem »Zigeunerbaron«.

In der Renngasse und der Theresiengasse häuften sich Autos und Kutschen vor den mit Blumen geschmückten Fassaden der Hotels. Das Kurhaus blinkte. Auf dem Undinenbrunnen schwang sich die Nixe in der Pose des Opernballets über Wassergott, Molche und Frösche. Im Park mähte vor dem Äskulaptempel ein Gärtner den Rasen, die Kellner falteten Servietten und putzten Bestecke für den Mittag und Jausengeschirr. Ljuba erkannte eine Bank bei der Bronzebüste Grillparzers. »Vor fast 192 genau zwanzig Jahren spielte die Kurmusik die Unvollendete«, sagte sie, »und dort kamst du.« Sie durchquerten die Allee, fremd und geschlagen.

Der Chefarzt Dr. Staudigl, straff, mit Kaiserbart, war am Nachmittag bereit, Erik noch dazulassen, bis ein Bett im Allgemeinen Krankenhaus ledig sei. Der Raum hier sei zu knapp und werde für die zu Operierenden gebraucht. »Helfen«, flüsterte er, indem er Schandera in die Augen blickte, »kann ich nicht mehr. Aber tun Sie etwas für Ihre Frau, die geht Ihnen in der Spitalsluft seelisch zu Grund.« Er küßte Ljuba die Hand und versicherte ihr, irgendwelche Sorge sei einstweilen, nach menschlichem Ermessen, noch unnötig. Er selbst werde die Vorkehrungen für die Aufnahme in Wien treffen. Der Rollstuhl Eriks streifte über die Fliesen. Ein großer Mensch von fast vierzig schob ihn in die Veranda. »Das ist mein Freund Palotay«, stellte Erik vor, »er war bei der Donaudampfschiffahrt und ist jetzt hier in Baden Diener im Franzensbad.« Palotay riß sich die linnene Mütze vom Kopf, dessen Haardecke eine Narbe durchzackte. Er hatte starke Glieder; aber er litt an Magenblutungen und sollte in den nächsten Tagen unter das Messer. In seinem harten Deutschungarisch sprach er von Gödöllö, wo er Ferencz Jozsef gesehen hatte, den König, von den Manövern, bei denen er als Honvedkorporal dekoriert worden war, von goldenem Badacsonyer und Kalbspörkölt, von Gewürzen und Brot der fetten, fruchtbaren Erde und schnitt Grimassen dazu. Aber Erik wollte nur wissen, wie die Donau flute und aus dem Schilf die Reiher aufflögen und in die Kronen der Bäume niederstießen bei Sonnenuntergang. Mit zarter Bewegung liebkoste er die 193 Mutter. »Jetzt müßt ihr fort, ich habe keine Angst allein zu sein.«

Schandera brachte Ljuba in die Pension Eden, zwischen grünen Hecken an der Schwechat. Hier sollte sie bleiben und bis zur gemeinsamen Abfahrt nach Wien sich erholen. Schandera übernachtete in ihrem Zimmer unter dem Mitterberg. Die Frau Gschwendner sagte ihm, der Bub erbarme sie; aber sie habe an ihre Kinder zu denken. Die blassen Kinder drückten sich in einer Laube um einen wackligen Tisch zusammen. Rot blühten mit steifen Blättern die Schwertlilien. Den Kalvarienberg und die Cholerakapelle beleuchtete der Mond.

 


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