Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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36

Stefan Felinski und Manja waren in Genf. Er hatte Proben für das Festival in der Victoria Hall, dem Musikpalast. Manja ging nach der Vorstadt Saint-Jean, nach der 230 Buchenallee des Chemin des Charmilles und nach der Campagne Jefreimow. Da war das Schlößchen des russischen Grafen, der mit einer Demimondäne in Nizza wohnte. Da war mit violettem Sonnenschirm in violettem Seidenmantel, der ihre Formen nicht mehr eindämmte, mit tizianblondem Haar und weißgepudert die Gräfin, die Tochter eines Kutschers, und zankte den Milchmann aus. Zur Rechten lag unter Tannen die Dépendance, die Isba, das Blockhaus, wie die Jefreimows sie genannt hatten, seit fünf Jahren Fremdenpension der Madame Monnier. Im Sommerkostüm döste auf dem Cricketrasen, den »Temps« zerknitternd, Monsieur Philippoteaux, der inaktive Oberst in Perpignan; in einer Hängematte schnarchte seine Gemahlin, die Engländerin, mit indignierten Lippen.

Manja knickte die Zweige eines Fliederstrauchs. Am Rand eines Artischockenbeets schimmerte ein zinnoberfarbenes Tuch. Unter einem Pfirsichbaum war eine Schlafende ausgestreckt, die junge Komtesse, mit trägem, schönem Tierantlitz und vollen Beinen; an dem linken hatte sich eine Naht des Strumpfes gelockert. Das Eisenbahnbrückchen überschreitend, ließ Manja sich vor der Linde des Point-de-Vue nieder. In der Ferne flaggte mit grünen Wimpeln das Bois de la Bâtie. Jenseits der Rhône ragten silberne Pappeln. Manja seufzte, ihr Herz war bedrängt, sie empfand, daß Stefan ihrer müde wurde. Täglich sagte er ihr, die Scheidung seiner Ehe stehe bevor. Sie wartete.

Um sechs Uhr war das Souper im Gartensaal des Erdgeschosses. In die Helligkeit des Augustabends draußen glänzten die elektrischen Lichter. Sie glänzten auf den 231 Scheitel der Madame Loubet, der Patriarchin, die die Zeitung der Pension war, bigott verkniffen, und auf die Ringe der Madame Rogeat von der Parfümerie Rogeat und Eggimann, der Matrone im Haarnetz. Die Mitte der Tafel hatte mit ihren Töchtern Jekaterina und Olga die Baronin Meyendorff inne, eine Baltin, die Witwe eines in einem finnischen Küstenort in Ungnade verstorbenen zaristischen Generals. Der Tischherr Olgas war ein Inder, der unter seiner blauen Samtkappe pechschwarze Herr So-Har. Häufiger wechselte die nächste Gruppe. Jetzt saßen dort der Tabakreisende Orendi aus Adrianopel, der Armenier Schahinian und der Journalist Metelka aus Prag, der mit Manja gern vertraut tat, obwohl er fast immer, der Heimatstadt fremd, im Ausland lebte. Die Philippoteaux speisten auf ihren Zimmern.

Der Fisch wurde serviert. Stefan Felinski erschien. Er war unruhig und gereizt, als er Manja die Hand küßte. Aber in frauenhaft weichem Französisch entgegnete er auf die Fragen nach seiner Litauischen Symphonie, die er in der Victoria Hall am Abend nach dem Konzert des Orchesters Lamoureux dirigieren werde. Er rauchte viele Zigaretten; Tabak klopfte er von dem Kragen seiner Smokingjacke. Nur wie in der Erinnerung betrachtete Manja seinen Johanneskopf. Beim Dessert sagte er, er esse keine Torte, allenfalls eine Orange. »Orangen sind nicht da«, bedauerte Madame Monnier. »Ich habe eine für Sie«, lächelte Jekaterina Meyendorff und suchte sie droben. Er wurde an das Klavier gebeten und spielte mit ungenauem Anschlag die Barcarole von Chopin. »Unsere Châtelaine«, sagte Madame Monnier. Irina Jefreimow applaudierte schon in der Gartentür. Tierhaft war wirklich ihr 232 trotz der abgeflachten Nase schönes Antlitz; ihre Augen funkelten. Girrend neigte sie sich zu Stefan; und Manja merkte, er spielte jetzt für die Russin.

Sie trat an ihn heran: »Wir haben Billets zum Kursaal, wir wollen hin.« Es war der Abend in dem Revuetheater an der breiten Terrasse, mit dem Saal, in dem es während der Pausen schrill zu den »petits chevaux« läutete und die Croupiers mechanisch die Fünffrancsstücke einharkten, mit bemalten Kokotten und den von Simili überrieselten Figurantinnen. Es war die Nacht im gemeinsamen Schlafraum; denn unter der interessierten Förderung der Madame Monnier galten sie als Ehepaar. Ein lauerndes Umeinandergehen, indessen sie sich auszogen, ein heftiger Streit, heftige Versöhnung, Liebesworte Stefans, dessen Sinne von Nacktheit erregt waren. Schon glühte durch die Tannen, deren Wipfel ein leiser Wind bog, der neue Tag herauf.

Die Probe werde bis fünf Uhr, sechs Uhr dauern, sagte Stefan. Manja saß im Tal der Rhône und blickte in die hohen Pappeln. Das war traumhaft, die Bergwand von Saint-Jean, die Drehungen des fließenden Wassers, die Erdbänke, auf denen Wildenten ihre Federn putzten und die krummschnäbligen, feisten Möven des Genfer Sees. Zwerghaft klein schienen die Gebäude über der Wand zwischen den Gärten, schien die Linde des Point-de-Vue. Hunde wurden gebadet. Mädchen in Musselin lagerten am Ufer. Dann wölbte sich das geheimnisvolle Dickicht des Quai des Saules. Der Fuß strauchelte zwischen den Wurzeln der Weiden. Durch ein Gitter, auf einem Brettersteg, vor dem ein morscher Nachen schwamm, kam man zur Jonction. Die eisige Arve ergoß sich in die 233 Rhône. Kämpfend vermischten sich die graue und die blaue Flut. Manja ahnte, daß sie Stefan Felinski nicht halten könne. Sie war heute achtundzwanzig Jahre alt, und er vergaß ihren Geburtstag.

An der Place Neuve, im Café Lyrique sollte sie sich mit ihm treffen. Beim Diner schilderte Herr So-Har, der nur Hammelfleisch verzehrte und dessen Französisch fast dasselbe war wie sein Englisch, die Ornamente der Pagode in Delhi und eine Elefantenjagd. Mit seiner schwarz besponnenen Hand reichte er Manja eine Photographie hinüber, auf der er in metallgleißender Nationaltracht thronte, umgeben von seinen zwei Gattinnen und einer Kinderschar. Er erklärte, zum Mißvergnügen der Damen Loubet und Rogeat, indes die Meyendorffs aufhorchten, Monsieur Felinski sei wohl untreu; und der Journalist flüsterte einen tschechischen Witz über Strohwitwen. Manja erhob sich und verließ die Pension. Ein Radfahrer flitzte an der efeubewachsenen Mauer des Clos Saint-Jean entlang, an dem Hause des Arztes Dr. Boissonaz. Vor der Tür der Brasserie lechzte im Schatten ein gelber Bernhardiner. Lastwagen trotteten vom Pont de la Couleuvrenière hinein in den Boulevard James Fazy. Über den Spiegel der Rhône quoll, vermengt mit der Beize von Gerbstoffen, der Dunst eines Wäschereiboots. In dem Elektrizitätswerk stampften die Turbinen. Flaschengrün und türkisblau wirbelte unter dem Pont de la Machine der gehemmte Anprall der schäumenden Kaskade. Um das Drahtgeflecht vor der Rousseauinsel sammelten sich die Schwäne.

Manja überquerte den Pont des Bergues und ging die schmale Zeile der Corraterie hinab. In die Kästen des 234 Theaters, an seiner ganzen Front waren Plakate der Tournee Réjane gekleistert: »La Douloureuse.« Vor dem Café Lyrique verstaubten südliche Oleander. Nur ein paar Bürger in Florjacken tranken Anisette oder Kirsch und klapperten mit Dominosteinen. Manja wollte nicht wieder das Opfer von Felinskis Unwahrhaftigkeit sein. Sie bezahlte, als es eben sieben schlug, ihre Grenadine und nahm die Richtung nach der Cité.

Katzen schrieen in den modrigen Gäßchen. Familien kauerten vor den Türen der Buden, in denen sie Kupferbecher feilboten und Bruyèrepfeifen, wurmstichige Schreine und Fauteuils, Ledertaschen und Klarinetten, Bibeln und den Contrat Social, Büsten Calvins, Rousseaus und Napoleons. Italienische Arbeiter in Manchesterplüsch sangen am Zinktisch einer Kneipe »Funicoli funicola«. Manja schritt an dem Säulentor der doppeltürmigen Kathedrale vorbei bis zum Spalier der Treille, über dem Universitätspark. Sie setzte sich unter die mit grünen Kugeln tief geneigten Äste der Kastanien. Fledermäuse strichen ihr ums Haar. Sie dachte an Stefans Symphonie und an die monotone Passacaglia des Allegro energico, an einen Fehler, den er korrigieren müsse, an ihre Reise hierher, die stechenden Pupillen einer unbekannten Frau in der Bahn, an einen Defekt ihres einzigen Gesellschaftskleids; und mit quälendem Vorwurf an Ljuba Gjalska, ihre tote Mutter.

Sie beschloß, mit der Tram in die Pension zurückzukehren, ohne bei dem Pförtner der Victoria Hall nach Stefan zu fragen. Aber sie verzögerte sich am Quai de la Poste; die Kapelle, die unter der Markise des Café du Nord konzertierte, Geigen, Cello, Flügel und Harfe, 235 zerdehnte »Quand l'amour meurt« von Crémieux. Da sah sie an dem letzten Marmortischchen Stefan und die junge Jefreimow. Er sprach auf die Russin ein; Irina faßte, die Augen zukneifend, ihm an das Kinn. Manja näherte sich, bestürzt eilte er ihr entgegen und gab ihr Schuld; er sei um halb sieben im Lyrique gewesen. »Teure«, rief die Jefreimow, »da Sie sich verspätet haben, fand der Meister ein bißchen Trost bei mir. Imaginez-vous, daß ich ihn um seinen Rat bat. Die Villa hat Gläubiger, Mama ist seit heute früh bei meinem frivolen Papa in Nizza.« Manja erwiderte ihr nicht. Morgen mittag war die Generalprobe des Werks, übermorgen wurde es aufgeführt; dann war diese Komödie unter Emigranten beendet. Stefan sagte, man solle ein paar Stunden zu dreien in der Stadt verbringen, in einem Café Chantant am Cours de Rive.

Es war eine Spelunke. Duettisten sangen »chansons Pompadour« und »chansons crinoline«, er ein Schmierentenor von tragischer Grazie, sie knochig und leichenhaft. Die »gommeuse« Liane de Chimay, ein Weib in pompösen Trikots mit flirrenden Pailetten ließ bei dem Couplet »C'est dans l' dos que ça me chatouille« das Monokel herabgleiten und kicherte in geheuchelten Krämpfen. Die Brüder Bontempelli ergötzten mit der Kunst ihres quiekenden Schweines, das auf einer Leiter balancierte und mit seinen gespaltenen Pfoten Kegel umstülpte. Ein Komiker brüllte eine Geschichte von einer Dame, die aus dem Omnibus will, aber von dem Kondukteur, der nicht feststellen kann, wo sie vorn und hinten hat, immer wieder in den Wagen gepackt wird. »Et la recogn' dans l'compartiment.« Nach jedem »recogn'« pochte ein Musiker gegen die Pauke. Irina Pawlowna schwatzte von 236 den Zigeunern in Grusiny, von den Steppen der Ukraine, von der Butterwoche, von dem Maraschino, den ihr Großvater Pjotr Arkadjewitsch, nicht der Kutscher, das sei eine Verleumdung, sondern der Gutsverwalter der Grafen Jefreimow, in Champagner geschüttet habe, und trank eine Consommation nach der andern. Jedoch sie erspähte einen Russen, einen livländischen Baron, den Flaneur vom Blumenmarkt auf der Place du Molard, der blond war und dünn wie sein Barsoi; unsicher tänzelte sie zu ihm hin. »Er ist der Verehrer von Mama«, lachte sie, »vielleicht rettet er uns«, und zu Manja auf tschechisch: »Dobrou noc!« Stumm fuhren Stefan und Manja in einer Autodroschke durch die Rue des Allemands. Ein französischer Deserteur hatte in einem der Häuser mit roter Laterne sein Bajonett entblößt und wurde draußen überwältigt. Stumm stiegen sie unter den Buchen der Charmilles aus.

Der Generalprobe blieb Manja fern, weil Stefan es wollte. Sie kritzelte mit ihrem Sonnenschirm Linien in den Sand des viereckigen Square hinter den Hotels des Quai du Montblanc. Chauffeure in getigerten Westen wuschen Limousinen, Diener striegelten Pferde, Mädchen in Hauben reinigten die Appartements. Ein zarter Sopran übte die Todesarie der Mimi. Die Löwen reckten sich vor dem Denkmal des Herzogs von Braunschweig. Das war das Beaurivage, das Hotel, in dem Elisabeth übernachtet hatte, die Kaiserin; dies hier vor der Dampferstation, neben den weiten Parterres mit Rhododendren und Buchsbäumen, der Landungssteg, dort der »Leman« vielleicht das Schiff, auf dem sie, wund vom Dolch des Mörders, nach innen verblutete. Die Mouches, 237 die Petroleumboote flogen den Granitblöcken der Pierres du Niton zu, über den See. Cirruswölkchen schmolzen, hell waren die weißen Gipfel. Manja überlegte mit einem finsteren Ernst, von dem ihr der Hinterkopf wehtat. Was wußte sie von Stefans Frau, als daß sie mit zwei Kindern in Krakau lebte, was von seiner Vergangenheit und seinen Geldmöglichkeiten, über die er ihr bald dies, bald jenes sagte? Nicht einmal die Höhe des Honorars wußte sie, das er von dem Komitee hier empfing. Er führte sie nicht in den internationalen Kreis der Komponisten und Dirigenten ein, die ihre Frauen in die Victoria Hall und in das Konservatorium mitnahmen. Sie hatte sich ihm bedingungslos ausgeliefert, er betrog sie. Sie schämte sich vor ihm und vor den Menschen.

Bis neun Uhr abends harrte sie bei sickerndem Regen auf der Freitreppe des Theaters. Er sollte seit einer Stunde kommen und kam, als die Schalter sich schlossen und auf den Marmorstufen nur noch die Letzten waren, dekolletierte Damen und Herren im Frack. Sie hatte eine heiße Stirn und – Stefan sagte es ihr – eine ungünstige Frisur. An der Ecke des Balkons im ersten Rang, an der ihre Sitze waren, versperrte ein amerikanisches Ehepaar ihnen den Durchblick. Aber fächelte sich nicht drüben in der Proszeniumsloge, Perlen auf der vollen Brust, die Jefreimow? Rauschend in Gold und Mattviolett, mit starken Hüften und schnippischem Clowngesicht, stand auf der Bühne, im Salon bei Ardan, die Réjane, in den Augen zärtliche List, die Angst und das Erschauern der Leidenschaft. Ein kurzer Zwischenakt, dreimal wurde mit dem Stab gepocht, wieder glomm es durch den Vorhang. Die Réjane hatte ihre große Szene, in der Helene Ardan mit Philippe 238 Lauberthie abrechnet. Sie heulte ins Taschentuch mit verschluckten Interjektionen; und Manja weinte mit. »C'est mon bonheur, mon pauvre bonheur qui s'effondre.« Die Réjane ordnete vor dem Spiegel die Bänder ihres Kapotthuts. Philippe hielt noch einmal die Lampe über sie. Das war das Sterben einer Liebe.

Gegen zwei Uhr berührte Manja Stefans Kissen. Sein Bett war leer. Schwalben schossen um die Tannen. Es hatte zu regnen aufgehört.

 


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