Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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Die Litauische Symphonie war verklungen. Spärlicher, niedergezischter Beifall, als Stefan Felinski seinen Taktstock wegschleuderte und vortrat, ein Durcheinander in den Gängen, das Portal mit der nur von unten beleuchteten Statue der Harmonie, die einsame Straße, eine Benzindroschke, deren Auspuff das Pflaster mit klebrigem Öl bedeckte. Dann huschten die Lichter des Pont du Montblanc über Stefans erzürntes Gesicht, und er schrie dem Fahrer irgend etwas zu, ohne Manja zu antworten. Sie war von Schreck betäubt; so kalt erschien ihr jetzt das Andante, so seelenlos das Allegro energico, so uneigen in den Gedanken das ganze Werk. Die Musikpresse würde urteilen, es sei die Krise eines Ruhmes. Nie konnte Stefan das überwinden. Manja hatte brennendes Mitleid mit ihm.

Als sie die Délices erreicht hatten, zuckte ein Blitz über das Rhônetal. In der Isba herrschte die Verwirrung einer Soiree mit vielen Gästen aus benachbarten Pensionen. 239 Nachlässig Glück wünschend, denn das Festival sei sicher ein wunderbarer Erfolg gewesen, begrüßte sie Madame Monnier. »Die Jefreimows sind bankrott«, klagte sie. »Das Gut wird subhastiert. Ich habe die Villa noch für drei Monate, für die Dauer meines Mietsvertrags. Die Köchin und der Lakai der Gräfin sind auf und davon. Die Tochter wohnt bei uns. Sie hat heute den Platz zu Ihrer Rechten, Monsieur Felinski. Schade, Sie reisen morgen schon ab, nicht wahr?« Aus der Tür zum Office sprang die Enkelin des Kutschers, in einer grünen Ballrobe, mit aufgelösten Bändern an ihren silbernen Schuhen. Sie bespritzte sich mit Eau de Cologne, und Manja gewahrte, daß Stefan nach der Rundung ihres Busens sah. So-Har, auf seinen fettigen Strähnen einen Turban mit einem Goldknauf, machte Irina aufdringliche Komplimente. Sie richtete russische Fragen an die Meyendorffs. »Elles sont détestables, ces vieilles filles«, höhnte sie dann, wütend über Jekaterinas verächtliche Manierlosigkeit.

Die Fenster des Saals waren offen, und dennoch war die Luft zum Ersticken dumpf. Nach dem Obst und dem Sorbet goß Madame Monnier in eine Silberterrine eine Bowle. Ein Blitz spaltete das schwarze Dunkel, nun krachte Donner, an die Scheiben rannen Wasserlawinen. Das ganze Viertel von Saint-Jean hatte keine Elektrizität mehr; es wurden Wachskerzen angezündet. In dem allgemeinen Trubel walzte Stefan mit Irina über das Parkett des kleinen Salons von Madame Rogeat. Manja fing eine Unterhaltung zwischen Monsieur Philippoteaux und Herrn Metelka auf; der Journalist behauptete, diese Felinskis seien gar nicht verheiratet, er habe es in Prag ausgeforscht. Sie ging, ohne sich nach Stefan 240 umzuwenden. Tot fühlte sie sich und dabei wehrlos gegen den furchtbarsten Traum.

Einmal war ihr, als breche der Lärm plötzlich ab. Schritte hallten dicht vor der Küche. Die Gitterpforte zum Chemin des Charmilles rieb sich an den Kieseln des Sandes. Eines der Mädchen führte einen Mann im Paletot in die Villa Isba. Beim Flackern einer Laterne unterschied Manja, daß es der Dr. Boissonaz war, der greise Arzt mit dem Spitzbart. Die Gummiräder eines Transportwagens drückten die Gartenerde. Stefan schlich sich in den Schlafraum. Als Manja sich zwang, ihn anzureden, sagte er: »Die junge Jefreimow ist weggeschafft worden. Sie ist erkrankt, vielleicht Typhus.«

Es wurde Tag, die Sonne verschickte durch Nebelgewölk kupfrige Streifen. »Byrrh« und »Lessive Phénix« las Manja, hohläugig wie Stefan, an den Schildern der Tram, die das Auto erst an der Gare de Cornavin überholte. Blechmusik erscholl; mit Fahnen und Emblemen kamen die Schützen der Vorstadt Carouge von einem Tir Cantonal nach Hause. Die Eisenbahn, ein sehr langer, sehr voller Zug, schnob rüttelnd durch die Anmut der Seeufer auf Lausanne zu. Sie wollten, so hatte Stefan noch vorgestern Manja mitgeteilt, nach Zürich; das Theater dort gebe im Oktober den »Irydion«. Nur in Unrast, wie mit schlechtem Gewissen, besichtigten sie die Place Saint-François und vom Grand Pont die alte Cité in der Tiefe.

Die Drahtseilbahn sauste nach Ouchy. Die Möven flogen von den Pflöcken der Station in den Horizont aus und stießen ins Wasser nach Beute. Durch die Wellen hob sich von Genf her der Dampfer nach Montreux. Stefan und 241 Manja waren mit einer amerikanischen Familie in Gummimänteln und mit Kodaks, bebrillten Engländerinnen, die imitierte Kirschen oder gestanzte Rosen auf den Hüten hatten, Schweizer Leutnants und Zofinger Studenten an Bord. Die Sonne hing über der blauen Küste von Savoyen.

In Montreux gingen sie an Land. Der Gérant des bürgerlichen Hotels wies ihnen zwei getrennte Zimmer zu. Sie fuhren durch Clarens und Vevey, über gepflasterte Stadtmärkte und enge Gassen nach Territet. Das Wetter war lau und mild; Oliven gediehen hier und Palmen. Eine Wirtschaft lag gegenüber der Burg von Chillon, ein Bretterbau, der den Felsen in drei Etagen entlangkletterte. In einer von Gaisblatt umwucherten Laube schwärmten die Wespen, toll vor Gier. Stefan begann ein gleichgültiges Gespräch mit Manja. Sie glaubte, sie könne ihn wiedergewinnen. Aber sie schliefen im Splendid-Hotel jeder für sich, bis in den Vormittag.

Die Gebirgsbahn trug sie in steilen Windungen zu den Narzissenfeldern von Les Avants und durch die Tunnels des Col de Jaman, nach einer Rückschau auf den Genfer See, in das Tal des Hongrin, hoch über den Waldschluchten der Saane. Pfarrdörfer waren eingesprengt und Chalets, Almen und Heumahden, Bäche tropften von geborstenen Graten, Neuschnee und Eiszungen beleckten Kare und Firnen. Es kamen die schiefe Kuppe des Rüblihorns, die Zacke der Gummifluh und der Geltengletscher, Viadukte, Kehren, Tunnels. Man fuhr zwischen der Simme und der grauen Pyramide des Niesen abwärts.

Sie ruhten sich in Spiez aus und blickten über den Thuner See, nach Beatenberg und den Beatusgrotten. Die 242 Kellnerin im Kaffeegarten des Spiezerhofs, die einen der braunen Finken Hansi rief und ihm erlaubte, die Zuckerwaren anzufressen, sagte in ihrem gutturalen Bernerisch, der Hansi sei ein Türk mit mehreren Weibern im Busch, die er zu ernähren habe. Die Dame scheine sehr bekümmert, meinte sie, als Stefan aufstand; ob es Liebesleid sei durch den Herrn Gemahl. Hinter einer Jasminhecke erzählte jemand von einem Touristen, der auf dem Weg von der Blümlisalp zum Kanderfirn durch Steinschlag verunglückt sei; nach zwölf Stunden habe man ihn befreit, aber in der Hütte habe ihn vor den Augen seiner Frau eine Herzlähmung weggenommen. Kinder von Äschi warteten mit ihren Lehrerinnen und sangen. Stefan kam wieder, von Schweiß das Haar zerzaust. Er hatte sich nach den Ortschaften auf der andern Seite erkundigt. »Hier sind mir noch zu viel Menschen«, sagte er. »Wir haben eine Woche Zeit bis Interlaken und Zürich. Am stillsten soll es in Gunten sein. Da drüben liegt es, unter Sigriswil und dem Rothorn.« Wesenlos lächelnd folgte ihm Manja. Der Dampfer steuerte auf Spiez zu. Manja sah nach der besonnten Dreiheit von Ebenfluh, Jungfrau und Mönch.

Im Hirschen in Gunten war Konzert und Tanz. Ein Portier mit doppelter Tresse um die Mütze schnallte ihre Koffer an sein Motorrad und geleitete sie über die Uferstraße in das Hotel Victoria. Es sei schon Nachsaison, man habe die Wahl; er empfehle das Obergeschoß. Vor einem Privatgrundstück blühten im Rasen die Herbstzeitlosen. In der Hotelhalle schrieb Stefan sich ein: Felinski, Komponist, geboren in Dembica; nichts sonst. Als Schanderova-Lucerna, Künstlerin aus Prag, bezeichnete sich Manja. 243 Der Direktor gab ihr, da sie es wünschte, ein Zimmer im dritten Stock, unter dem Giebel, dem Herrn eins im zweiten, nach dem Berg zu. Beim Abendessen war ein einzelnes Tischchen für sie reserviert, wie für alle andern zehn oder elf Paare. Sieben oder acht Saaltöchter schwenkten um eine Rollwand und besorgten das Service, überwacht von dem unerschütterlichen Direktor. Weiß strahlte die Wäsche, die Glaskelche und das Geschirr glitzerten, es war für zwanzig Personen die Table d'hôte eines Kurhauses.

Man stellte sich vor das Portal. Die Jungfrau, den Mönch, den Eiger überströmte der Sonnenuntergang mit himbeerfarbener Glut. Sie verblaßten. Auf einer der Bänke rauchte Stefan ein Dutzend Zigaretten, während drinnen vier Musiker ihre Instrumente zu den »Mädels von Davos« stimmten und zur »Pauvre Butterfly«. Er müsse schlafen, sagte Stefan und küßte Manjas erzitternde Hand. Sie trieb allein den See entlang, der an die Quadern plätscherte. Die Berge des Jura, in spitzen und geschwungenen Linien, wogten violett gegen das dünne Gold des Himmels. Es verlosch, und sie waren eine unbelebte, riesige Vorwelt, eine Todeswelt. Vom Kulm des Niesen glänzte ein Signallicht.

Aus grauem Blau, das immer reiner wurde, stieg die Sonne wieder empor, rosa, purpurn, orange und gelb über den Fluten schwebend. Manja sank aufs neue in wohltätige Unbewußtheit. Es war spät, als sie nach einem Bad in dem kleinen Saal Kaffee trank. Der große war durch Stores verhängt. Sie fragte die Saaltochter; man würde ihn dieses Jahr nicht mehr öffnen. Das Quartett hatte gestern seinen Abschied gehabt. Der Portier war mit den Koffern von zwölf 244 der Herrschaften am Landungsplatz; nicht unmöglich, daß er Nachzügler einfing. Manja suchte Stefan in dem Hotelgarten am See. Schwäne ruderten, Syringen raschelten, niemand war hier als der Knabe des Direktors, der einen Federball auffischte. Grashalme sprossen zwischen den Schienen der Uferbahn von Thun nach Interlaken, die selten mit Geklingel sich heranwälzte. Im Hirschen wurden Leintücher gespannt, ein Hausknecht putzte Stiefel, der Händler mit Karten und Photopapier, der auch Holzschnitzereien, Edelweißbuketts und Glöckchen zu verkaufen hatte, grüßte unlustig aus seinem Laden.

Stefan trat aus dem Laden des Friseurs. So wie er jetzt lächelte, hatte Manja einmal gelächelt, als sie überrascht worden war. Er sagte, er gehe voran zum Omnibus, nach Sigriswil. Die Expedientin im Postbüro winkte. Nur Manja sah es. Die Beamtin forderte noch 90 Rappen für das Telegramm, das der Herr aufgegeben habe; sie habe sich bei der Gebührenrechnung geirrt, Zakopane sei ja ein Ort in Galizien, in Österreich.

Niemand war heute mit den Dampfern oder der Uferbahn eingetroffen. Die Läufer in den Korridoren verschwanden und in der Halle die Stapel von Büchern und Zeitungen. In dem kleinen Saal war mittags für acht, des Abends für sechs Personen gedeckt. Aber noch immer schwenkten die Servierfräulein um die Rollwand und schwieg gebietend der Direktor. Er hatte Geschäfte in Thun. Die Mädchen, der Portier und der junge Valet aus Yverdon, der Deutsch lernte, spazierten im Mondschein unter den Rüstern. Manja begegnete nur sich selbst im Lift zum dritten Stock. War sie diese Frau, die da im erblindenden Spiegel sie musterte? Sie flüchtete wieder 245 hinab und blätterte in Heften mit allerlei Unsinn über Handschrift und Ehe, über Philanthropie und Homöopathie, in Prospekten über Davos und Pontresina, in Fremdenlisten mit den Namen von Mrs. William Brisbane und maid, New York, Onorevole Conte Origoni aus Genova, Mr. Etchpareborda aus Buenos Aires, Mr. Manioukhine aus Odessa, Schwester Elise Hunziker aus Wädenswil. Ein Holländer und ein Franzose spielten gähnend Billard, ein Zimmerkellner vom ersten Stock kurbelte das Grammophon an, die Seguidilla der Carmen tönte mit schleifender Nadel in die Mitternacht.

Vom See her kam Stefan. Im Lift schon umarmte er Manja. Zwei Stunden blieb sie bei ihm. Als sie morgens an seine Tür klopfte, war er mit dem Sechsuhrdampfer ohne Nachricht abgereist.

 


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