Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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Sie fuhr nach Wien allein im Frauenkupee, mit einer Ruthenin und polnischen Kaufmannsgattinnen. In der Halle des Nordbahnhofs sorgte sie dafür, daß das Menschengewühl sie schnell hinaustrug. Sie verschwand in das Römische Bad in der Kleinen Stadtgutgasse. Nach einer Stunde, gegen neun Uhr morgens, stand sie am Praterstern, unter den Schiffsschnäbeln der Tegethoffsäule. Die Kronprinz-Rudolf-Straße dehnte sich mit dem Getöse des Lastenverkehrs zur Reichsbrücke und neben ihr ein Zinskasernenviertel am Praterrand.

In der Ybbsstraße mietete Manja ein Kabinett bei der Kellnersgattin Hoffaneder. Das Haus war verwahrlost und übervölkert. Bei der Hoffaneder lebten sechs Kinder, erwerbsfähig nur der eine Sohn, der älteste, der, am Lagerplatz der Donaudampfschiffahrt entlassen, vazierte. Drei Töchter und zwei Burschen gingen noch in die Lehre, bei einer Modistin, in einem Mariahilfer Warenhaus, bei einem Bäcker, einem Herrenschneider. Aber Mizzi, Gusti, Risa schienen Flitscherln, Schurl und Ferdl hatten Bräute für das Strandbad am Gänsehäufel und für Bootspartien auf der Alten Donau. Hoffaneder ließ sich wenig blicken. Die Frau handelte in Venedig in Wien, dem Kaisergarten, mit Rosen. Ein Buschen stak in der Küche unter dem Wasserausguß, bräunlich gesprenkelt, in faulendem Duft.

Manja zählte im Kabinett den Rest des Geldes, über das sie nun verfügte. Die Frau hatte bis Ende September nur noch für Kaffee, Semmeln und Nachtmahl von ihr zu fordern; aber nicht mehr als dreißig Kronen war ihre 255 Barschaft. Sie sagte sich immerzu ein lächerliches Wort vor, mit dem sie in der emaillierten Zinkwanne des Römischen Bades sich verlockt hatte: »Untertauchen, untertauchen.« Sie ging aus. Im Parterre zwitscherte hinter den beuligen Scheiben ein Kanari; die Fensterpolster waren verschmutzt von ihm. Über der Ybbsgasse flatterten Tauben in goldenem Blau. Manja überflog die Aufschriften der Läden: ein behördlich konzessionierter Installateur, eine Fleischschwemme, die Seifensiederei des Gedeon Fülöp, eine Kragenputzerei, ein Barbier, dessen Schild mit dem Kopf des Walzerkönigs Johann Strauß bemalt war, eine Chocolaterie, ein Gemischtwarenverschleiß, eine Filiale der Alpenmilch-Zentrale, eine Pferdeselcherei, der Weinspezialitätenschank des Josef Kainz zum Ölberg. In der Venedigerau, neben dem Café Abbazia, frisierte sich auf ihrem Balkon eine Private, entblößten Busens in ihrer Spitzenmatinee.

Wiederum schritt Manja durch das Gewirr um den Tegethoff und die bronzenen Schiffsschnäbel. Die Praterstraße brauste der Taborstraße und dem Donaukanal zu. Im Telefonbuch des Cafés hatte sie die Adresse einer Musikerbörse gefunden, zwischen der Johanniskirche und dem Carltheater. Dort, im Mezzanin eines winkligen Gebäudes, oberhalb des Schuhhauses Anatol und einer Schossenfabrik, legte sie ihr Wiener Diplom vor. Sie fragte den schwerhörigen, erstaunten Vermittler nach irgend einer Stellung. Ein Kino in der Porzellangasse, fünf Minuten zu Fuß vom Franz-Josefs-Bahnhof, brauchte eine Geigerin. Dort konnte sie heute in einer Woche, nächsten Samstag anfangen.

Sie aß ein Gulasch in einer Wirtschaft an der 256 Novaragasse und wandte sich nach dem Eingang des Praters zurück. Im Zirkus Busch war eine amerikanische Truppe. Indianer, grell tätowiert, und lohfarbene Cowboys in Lederjacken ritten auf zottigen Mustangs vor dem Viadukt Parade. Durch die Hauptallee ließen die Fiaker ihre Gespanne traben oder schlendern; weich glitten die Gummiräder dahin. Manja rastete auf einem der eisernen Sessel vor dem dritten Kaffeehaus, unter einer breiten Kastanie. Das Militärkonzert begann; es pausierte, es schloß mit der Stefanie-Gavotte. Herbstlich früh verringerte sich schon das Licht. Von der Rotunde, dem Ort des Eucharistischen Kongresses, nach dem Wurstlprater strömte über die Wege die Menge. Das war ihr Traumland mit dem Chineser und dem Watschenmann, den romantischen Karussels und den anderen, von denen Schweine oder Potschambers schaukelten, mit Würfelbuden und Lukassen, mit Wachsfigurenmagie und blaurotem Feuer der Grottenbahn, mit den Tschinellen und Pauken der Orchestrions und ranzigem Geruch zwischen welkenden Bäumen. Das Riesenrad drehte sich, stockend, mit armdicken Kabeltauen, dann wieder vorwärts getrieben, ein Teil der trüberhellten Wagen droben am schwarzen Himmel, einer im Abgrund. Im »Eisvogel« klatschten die Gäste, satt von schweren Fleischspeisen und Bier, der Damenkapelle zu; und auch diese verblühten Mädchen mit den falschen Elisabethzöpfen, in langen Prinzeßkleidern waren Manjas Kolleginnen. Ein Bummler, vielleicht ein Hausherr, sprach sie an. Sie dankte. Beim Viadukt stahlen sich unter die Verkäufer von Luftballons, Pfefferminz und Streichhölzern, von ihren Strizzis gefolgt, die ausgehungerten Praterdirnen. 257

Noch in dieser Stunde hätte Schandera sich auf die Reise begeben, die, er fühlte es, seine letzte war. Er erwartete, in einem obskuren Hotel in der Brigittenau übernachtend, den Sonntag, den Tag der Eucharistischen Prozession. Seit der Dämmerung rissen, vom Westwind aufgebläht, die Wolken. Regen spülte das Pflaster. Von den Bahnhöfen, aus den Massenherbergen nahten die christlichen Scharen, die dem Ruf der Bischöfe gehorcht hatten und des adligen Festkomitees. Ihre Banner waren zerzaust, an ihren Stiefeln haftete Erde. Müdigkeit prägte ihre Wallfahrergesichter. Zum Zug in die innere Stadt, Jägerdetachements mit Eichenlaub unter den Hahnenfedern der Hüte, Dragonern und Polizei entgegen, ordneten sich langsam die Hunderttausende. Eine Nation nach der anderen besetzte auf dem äußeren Burgplatz und um das Denkmal der Maria Theresia, das Schandera von der Babenbergerstraße sah, den ihr zugewiesenen Abschnitt. Die Magyaren unter ihren dunkelblauen, buntgestreiften Schirmen hatten grüne Leinenkittel oder graue Jacken und manche von ihnen den Faltenrock des Pferdehirten. Apathisch schwiegen sie, wie in der Einsamkeit ihrer Felder; wie ihre Tiere harrten sie in den Regenlachen, die in die Grasfläche troffen. Dann die Tiroler, alle büchsenbewehrt und bebändert, mit Birkhahnfedern am Hut, die Knallroten drüben die Pustertaler. Ihre Fahnen gingen mit ihnen und überlebensgroß der Schmerzenschristus von 1809 unter goldenem Strahlenkranz. Steirer, Slowaken aus Ungarn mit schmalen Krempen, Slowaken aus Mähren in steifer Sonntagstracht. Turner vom Orel mit blauem Tuch an den Kappen und slowenische Sokoln, Polen aus Schlesien und Galizien, Bosniaken mit 258 Türkenfez und Janitscharenmusik, Kroaten. Vor den Tribünen trotzten Magnaten dem Regen, in schwarzem Samt und hochgestiefelt der Fürst Esterhazy, in bordeauxrotem Umhang der Graf Apponyi, bärtig, mit leeren Augen. Rechts vom Burgtor in goldüberladenen Staatsfracks, in Maltesermänteln und Uniformen die Granden Österreichs, die Thun, Trauttmansdorf, die Lobkowitz, Kinsky, Colloredo-Mansfeld, Sylva-Taroucca, die Schönburgs und Liechtenstein, sie alle.

Schlag zwölf wandelten drei von Schirmen überdachte weiße Mitren, drei weiße goldbestickte Mäntel auf die von einem weißen und goldenen Holzzelt, mit grünen Kränzen, goldenen Engeln und elektrischen Altarkerzen überragte Plattform des Burgtors. Erhob von dort der Kardinallegat des Papstes den hunderttausend Gläubigen das Sanktissimum und krönte er durch diesen Akt die ungeheure Feier? Die weißen Mitren stiegen hernieder; es war der Verzicht vor dem Walten der Elemente. Aber schon ging durch die Massen ein Ruck. Vom Ring kam der Klerus: die braunen Franziskaner, die schwarzen Schotten, die braunen und weißen Dominikaner, die Karmeliter, die Deutschordenspriester, die Trinitarier, die Kapuziner, die Minoriten, Alumnen, Kooperatoren, Pfarrer und Prälaten. Ein Hofreitknecht eröffnete den Zug des Kaisers, hinter ihm in Helmen mit goldenem Doppeladler und schwarzem Roßschweif, dunkelgrün und weiß, auf Schimmeln und Apfelschimmeln die Leibgardeeskadron, vier berittene Hoftrompeter mit silbernen Fanfaren, vier Edelknaben, Zöglinge von Kalksburg, Truchsesse, gräfliche Kämmerer als Offiziere ihrer Kavallerieregimenter, in Karossen des Rokoko die Geheimen 259 Räte. In neun Hofgalawagen sechsunddreißig Kardinäle und Bischöfe, begleitet von je zwei Klerikern mit den silbernen Krummstäben. Es läutete, die ungarischen Bauern duckten sich im Regen zu Boden. Golden blinkte aus einer mit acht Rappen bespannten, goldenen Glaskutsche die Monstranz von Mariazell; vor dem Allerheiligsten knieten der Kardinallegat und der Fürsterzbischof von Wien. Süßlicher Weihrauch umschleierte die Szene; in den Händen der Kleriker brannten Fackeln. Acht Lippizaner zogen die Karosse des Kaisers. Der Einundachtzigjährige, zusammengesunken in der weißen Generalsgala, nickte durch das Fenster hinaus. Aber links von ihm straffte sich despotisch der Erbe des Throns, Franz Ferdinand. Die Hufe der acht Lippizaner klapperten auf den Steinquadern unter dem äußeren Burgtor. Arcièren-Leibgarde kam, ponceaurot und goldbordiert, weißes Büffelhaar an den silbernen, vergoldeten Helmen, ungarische Leibgarde, Reiher an den Kalpaks von Iltis, in roten silberverschnürten Attilas und Hosen, Pantherfelle um die Schultern, Sporen an den gelben, versilberten Czismen, mit gebogenen Säbeln. Ein Echo vom Schweizerhof brach sich auf dem Heldenplatz und am neuen Trakt. In der Burgpfarrkirche, nicht im Freien, wie es angekündigt worden war, las vor der Apostolischen Majestät und dem Erben der Kardinallegat die Messe des Hochamts.

Nachher ging Schandera in der Augustinerstraße, wie gelähmt, von der Nässe durchrüttelt. Er begriff: auch dies war ein Schauspiel vor dem Sterben. Am Josefsplatz fuhren unter wildem Geschrei der Bediensteten die Equipagen und Automobile durcheinander, in denen die roten und violetten Würdenträger der römischen Kirche und 260 die der Monarchie ihre vom Regen strapazierten Kostüme eiligst bargen. Er wollte nach der Dorotheergasse und dem Graben. Da sah er vor dem Palais Pallavicini Manja, dürftig und schattengleich in ihrem perlgrauen Cape von Krakau. Eine Limousine drängte ihn gegen das Trottoir. Ein Wachmann hielt ihn, als er fast gegen den Kotschützer rannte. Als er aufblickte, war Manja oder ihr ungewisses Phantom geflohen.

 


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