Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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Der Termin im Prozeß Vojna war am zwanzigsten März, unter dem Vorsitz des Landgerichtspräsidenten Mattousch. Um acht Uhr irrte Schandera den Palackykai entlang, gegen Wyschehrad. In Erdlöchern nahe der Brücke staken die Eisenringe von Zelten. Rauch kroch aus den Küchenschloten grüner Karren, deren Inneres von zerrissenen Gardinen verborgen war. Schausteller richteten ihre Buden her, ein Schnellphotograph, eine Tombola, ein Panorama, auf dessen Wänden man die Karavelle des Columbus sah, dem die Matrosen die Fäuste vor das bleiche Gesicht hielten, den Zaren Alexander, der einem Schlitten entstieg und zurückprallte, indes die Stücke einer Bombe in roten Garben um ihn stoben, die Entführung eines blondhaarigen, weißhäutigen, strotzenden Mädchens durch einen die Urwaldzweige niederknickenden Orang-Utan. Kolorierte Bilder auf Tafeln zeigten die Dienstmädchenmorde des Hugo Schenk oder die Untat an der Prager Juwelierin Gollerstepper, die von finsteren Gesellen mit einem Pflasterstein erschlagen wurde. Die mit blaugrauem Schiefer gedeckten Türme des Benediktinerklosters Emaus überragten ihre 85 proletarische Umgebung, das einstige Fischerdorf Podskal, von dem nur noch klägliches Gemäuer stand und, von einer Feuersbrunst versehrt, das Rathaus mit einem Johannes von Nepomuk am Giebel. Unter der Eisenbahn waren Schneelachen. Zinshäuser wiesen der Moldau ihre Rückseite. Pawlatschen klebten daran, auf denen sich Arbeiterhemden blähten.

Ein morsches Geländer führte den Berg hinauf nach Wyschehrad. In den Schießscharten der Zitadelle wucherte Gras, die Steine waren auseinandergeworfen, als habe eine Kanonade sie zersprengt. An dem ebenen Platz der Peter- und Paulskirche tat sich hinter einem neuen Gitter mit ihren Kreuzen, ihren weißen Monumenten die Stätte der Toten auf. Im Wind ächzten die Trauerweiden, die Lebensbäume. Schandera trat über den Bezirk der Probstei, über die Böschung der Festungsstraße, an der der romanische Rundbau der Martinskapelle verwitterte, den Weg ins Tal an. Die Sluper Gasse gähnte mit ihren Häuserquadraten. Jetzt war er zwischen Emaus und der in diese Umgebung erniedrigten Barockpracht der Treppe zur Skalkakirche, den Steinbildern ihrer Gartenbrüstung. Jetzt trieb er wieder in den Verkehr des Karlsplatzes ein.

Es war neun Uhr, als er im ersten Stock des Gerichtspalastes dem Dr. Hynais begegnete, der ärgerlich antwortete. Berichterstatter waren da mit Notizblocks, Industrielle, Advokaten, Politiker. Lampen mit grünen Schirmen erleuchteten den Saal der Strafkammer. Zwei Diener gewährten oder verweigerten den Zugang. »Seien Sie auf der Hut«, warnte Hynais, »der Jirásek wird Sie nicht schonen, sagen Sie nur, was Sie zweifellos müssen.« 86 Dr. Jirásek erschien, der Verteidiger des Vojna, der bei den letzten Wahlen überwundene Kandidat für den Liebener Reichsratswahlkreis. »Wenn Sie wollen, ich bin nachher im Anwaltszimmer«, sagte Hynais und eilte dem Stadtrat Kronbauer nach. Im Zeugenraum harrten acht, neun von Schanderas ehemaligen Parteigenossen. Sie erwiderten seinen Gruß, doch dann war es, als ob er kaum für sie existiere. Nur gedämpft sprachen Hruban und der Abgeordnete Srp, der Vertreter von Hohenmaut mit dem ehrbaren Kleinstadtwesen eines Innungsmeisters. Kalt war die Luft, wenn auch von der staubigen Heizung Wellen trockener Wärme kamen. Uhren schlugen, man tappte draußen über Steinplatten.

Ein Diener war an der Tür. »Der Zeuge Doktor Schandera«, verkündete er und kaute noch an seinem Brot. Im Flur ein Spalier von Müßigen, die keine Karte hatten und, um die Sensation betrogen, sich zu entschädigen suchten. Einige pfiffen. Schandera sah den Tisch des Gerichtshofes, die Richter in ihren Talaren, das Elfenbein des Kruzifixes, den Staatsanwalt Vejrych, den in Papieren kramenden, aufgeregten Jirásek und neben ihm, mit den Mienen eines apoplektischen Gastwirts, Vojna, den Angeklagten. Dann auf den Publikumsbänken einen Frauenhut mit quittengelber Schleife, einen mit rotbraun und seegrün schillernder Batikseide besteckt, ein goldenes Lorgnon, ein Opernglas, einen jungen Menschen, der sehr vergnügt war, die Gruppe der Reporter.

Der Vorsitzende fragte ganz wie der Untersuchungsrichter nach Schanderas Namen, Geburtstag, Geburtsort. Jetzt ließ auch er ihn die entscheidenden Dinge des Parteiprotokolls wiederholen. »Kann der Zeuge sagen«, warf 87 Jirásek ein, »auf wessen Wunsch dem Herrn Abgeordneten diese Vollmacht verliehen worden ist? Hatten nicht auch Sie zugestimmt?« »Ich habe gegen jede geschäftliche Transaktion der Partei damals wie immer gesprochen.« »Welchen Zweck sollte die Hotelgründung des Angeklagten haben?« forschte der glatzköpfige Staatsanwalt. Schandera gab Auskunft. »Ich protestiere nicht nur gegen das, was der Zeuge jetzt erklärt«, brach Jirásek ungezügelt los, »sondern gegen seine Person als solche. Das Urteil des Volkes, der Geschworenen –« Schandera riß sich die Hand an dem Strohgeflecht seines Sessels wund. Von den Bänken schrie jemand, der wohl der vergnügte junge Mann war: »Tersch! Tersch!« Andere Schreie folgten nach, man lachte und randalierte. Der Präsident stülpte sein Barett auf den Kopf. »Das Gericht wird über die Vereidigung des Zeugen beschließen.« Der Saal wurde geleert. Unter heftiger Nachhilfe der Diener schob das Publikum sich hinaus.

Schandera setzte sich Vojna gegenüber, der im Zorn die roten Hände ballte und, wie es schien, von seinem Advokaten schleunigen Rat begehrte. Drunten, im Vormittagslärm der Straße wütete eine Elektrische. Der Staatsanwalt drehte sich eine kleine Tischlampe an, unter deren grünen Schirm er seine Glatze bog. Die Reporter, die für ihre Abendblätter stenographiert hatten, überrannten sich. Einer von ihnen stolperte gegen Schanderas Sessel.

Die Richter kehrten zurück. Die Vereidigung des Zeugen war beschlossen worden. Die Fragen des Staatsanwalts gingen monoton weiter. Schandera antwortete mit Daten und Ziffern. Der Staatsanwalt hieb mit seinem 88 Kohinoor gegen den Lampenschirm: »Nun das Darlehen bei der städtischen Sparkassa.« Vojna schlug mit den Fäusten auf. Dr. Jirásek zuckte die Achseln und brüllte tigerhaft: »Ich erinnere nochmals an das Urteil des Schwurgerichts.« Der Vorsitzende beschwichtigte ihn mit steifem Ernst. Und wieder hatte Schandera auszusagen. Er stockte, er gebrauchte falsche Wendungen, er sammelte seine flüchtenden Begriffe. Eine Uhr schlug zwölf. »Ich habe den Zeugen nichts mehr zu fragen«, nickte der Staatsanwalt. »Ich auch nicht«, grollte Jirásek. Der Präsident bedeutete Schandera, er könne jetzt gehen, aber er habe nachmittags und morgen dem Gericht zur Verfügung zu sein.

Um den Saal war das Spalier noch stärker durch die Hinausgeschickten, die an der Pforte rüttelten. Jetzt waren sie, als Schandera vorwärts ging, stumm. Er öffnete die Tür zum großen Schwurgerichtssaal. Ein Prozeß wegen Kindesmordes wurde verhandelt. Hinter der Holzschranke stierte die Mörderin, in billigem blauem Wollkleid, die unverehelichte Dienstmagd Ružena Mala. Bis nach drei Uhr hörte Schandera voll Kummers zu. Dann nebenan: Fleischer und Grossisten, ein Betrugsprozeß um Schafsdärme. Eine Stunde war er wieder in der ausgedörrten Luft des Zeugenraumes. Er konnte nichts essen. Nach vier Uhr bestellte ein Diener, daß die Verhandlung abgebrochen worden sei. Er hatte nur den Gedanken an Erik, der jetzt im Gymnasium war.

Sie trafen sich in der Resselgasse, vor der Böhmischen Technik. Ein lauer Wind scheuchte Regenwolken über die Neustadt. Der Abend ohne Ljuba und Manja war lang und trüb. Die Zeitungsfrau legte, mit den Stiefeln 89 schurrend, das Blatt unter die Strohdecke. Schandera ging hinaus. Er las, daß das Standrecht noch eine Woche Geltung haben werde, und darunter den Prozeßbericht. Nur kurz erwähnte dieser, der Parteiorder gehorchend, den Zwischenfall. Im Hause wurde Klavier gespielt, der Bojarenmarsch.

Nachts weckte Schandera ein Donner: das Eis der Moldau barst. Ljuba lag neben ihm in traumschwerem, durch Unausgesprochenes verstörtem Schlummer. Als er im Frühlicht zum Fenster des Balkonzimmers hinaussah, pochte ihm durch die Adern das Blut. Vor dem Wehr, bis hinüber nach Smichow, türmte sich das gelockerte Eis. Seine Flanken rieben sich aneinander, und krachend zersprang es, wie von einer ungeheuren Axt zerspellt. Gleitend und kletternd pilgerte es stromabwärts, es wurde krumm und steil, er zermahlte sich, es zögerte, an den Ufern festgehalten, es schichtete sich quer mit Gletscherschründen.

Bis zur Abenddämmerung dauerte an diesem Tag der Prozeß gegen Vojna. Das Urteil lautete auf Geldstrafe wegen einfacher Krida, unter Verneinung der Anklage wegen Betrugs.

Schandera ging zur Moldau, zum Franzenskai. Der Strom war ein weißbraunes, wanderndes Feld, auf dem manchmal Holzbretter und Baumzweige schwammen, das Ufer ein Schiff, das durch den Strom steuerte. Oder das Feld stand, und pfeilschnell schoß das Ufer, die Stadt dahin. Und über das Feld flogen die weißen Segler des Meeres, die Möwen. 90

 


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