Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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16

Der August war schön mit seinen Tagen, die rasch kürzer wurden. Ljuba gebrauchte gegen ihre Herzbeschwerden in Kaltenleutgeben die Kur. Am Franzenskai blühten noch faulig süß die Akazien. Unten vor dem Kaigitter, auf der Sandbank am Fluß bellte ein Hund, der Kieseln oder einem Holzprügel nachschwamm. Das warme Wasser glitzerte golden.

An einem Freitag fuhr Schandera mit Erik nach Karlstein. Die Buchenwälder des Berauntals nahmen den Zug auf, der durch die mittagsschwüle Landschaft 101 vorwärtsdampfte. Im Kupee saßen Bauernfrauen, Kinder, ein Korporal eines Pilsener Regiments, eine deutsche Prager Familie. Der Zug hielt in Wschenor. Sommergäste kamen an die Bahn, Mädchen, über deren weiße Kleider das bunte Licht ihrer Schirme glitt. Die Villen von Dobrichowitz schauten aus der hohen, grünen Waldwand. Nun war die Station Karlstein erreicht. Schandera und Erik überquerten die Beraun, die Stefaniebrücke, und gingen durch die einzige Straße des Ortes Budnian. Die Königsburg Karls des Vierten überragte mit ihrem restaurierten Bergfried die Täler. Weiß schimmerte ihr Gestein durch die blaue, durchstrahlte Luft.

Sie gingen ein Seitental empor, an den letzten Häusern vorbei, wo aus einem Fenster hinter verwilderten Sonnenblumen der Blechtrichter eines Grammophons quäkte. Schwarze Hühner liefen gackernd am Wald hin und her. Sonne zitterte über dem Waldboden. Farnkräuter reckten aus dem Moos ihre grünen Finger. Ein Raubvogel schrie. Jetzt waren sie oben auf dem Felsen, hundert Schritte vor der Burg. Nur Hühner störten die Stille des Wirtsgartens, Hühner wie im Dorf, die unter den Tischen Nahrung zusammenpickten. Aber eine Zahl von Besuchern stand am Ende des verschanzten Hohlwegs, am zweiten Burgtor. Eine ländliche Frau mit brotbraunem Gesicht machte im Vorhof den Kastellansdienst. Dann zeigte sie den von einem schweren Balkendach geschützten Brunnen, dessen Schacht bis in die Tiefe des Karlsteins führte, die Behausungen der Lehensmannen, den Pallas mit der Niklaskapelle, die Marienkirche. An den Mauern drin hingen die zerblätterten, bald sechs Jahrhunderte alten Fresken: die Apokalypse, der Kaiser, 102 schwarz und schlau wie ein persischer Basileus, in kostbarem Mantel, ehelich zu seiner Gattin hin die Hände spreizend, der Kaiser mit einem Ring, der Kaiser mit seinem Bruder, der Kaiser, Reliquien niederlegend. Ein enger Korridor, ein gotisches Portal, die kleine Katharinenkapelle, worin er betete, von der seine listigen Herrschergedanken über die Wipfel der Wälder flogen, Tagfahrt um Tagfahrt, hinaus ins Römische Reich. Kaum acht Personen konnten mit Schandera und Erik in diese steinerne Kammer. Ein Loch war in der Mauer zum Durchschub von Speise. Alles bis zum Gewölbe war ausgeschmückt mit Goldgips und Karneol, Achat, Amethyst, Onyx, Chrysolith, Topas und Jaspis. Über der Tür wiederum der Kaiser, schwarz, stumpfnasig, breitbackig, Fältchen um die verschmitzten Augen, mit seiner dritten Gemahlin ein Kreuz von Juwelen haltend; und nochmals, als Maria und Josef verehrender Stifter, auf dem Nischenbild des Altars, vor den sein roher, hölzerner Schemel gerückt war.

Benommen von der Dämmerung nach der Lichtglut, von der Sprache des Toten nach dem lebendigen Sommerhauch folgten Schandera und Erik hinüber in den Bergfried, in den dritten Stock, zur Kapelle des heiligen Kreuzes. Dort mußte die Pracht der Juwelen noch verschwenderischer gewesen sein; aber nun fehlten sie, oder sie waren nachgeahmt. Glassterne nur leuchteten am Deckenfirmament, das Juwelenmosaik der Fenster, die kristallenen Laternen waren zertrümmert. Von dem oberen Teil der Wand schauten mehr als hundert Ölbilder, auf Lindenholz oder goldenen Kreidegrund gemalt, die himmlischen Chöre der Heiligen, die Väter und 103 Doktoren der Kirche, die Päpste, Bischöfe und Äbte, die frommen Fürsten und Ritter, die gebenedeiten Frauen und Jungfrauen. Nur am Gemäuer der Treppe, fast schon verschwunden, in bleichen, vom Mörtel fallenden Farben Köpfe, Bärte, Schuhe, Aureolen, der heilige Wenzel, der Hostien bäckt, die Reste der slawischen Legende.

Sie standen wieder im Hof, zwischen den Quadern des Schanzweges am Ziehbrunnen, am Außentor. Sie tranken Kaffee unter den Bäumen des Wirtsgartens, unter dem blauen Himmel, über den wie dünne Watte die Wölkchen zerzupft waren. Am Nebentisch saßen jetzt einige Städter aus Pilsen oder Prag, ihnen gegenüber ein Sportsmann oder Fondsmakler mit seiner Dame, die, gepudert, an Lippen und Ohrläppchen geschminkt, ein Kleid aus blau und weiß gestreiftem Schleierstoff hatte und deren Hände überladen waren mit Brillanten. Sie lachte; etwas, ihr Kinn oder ihr Mund, erinnerte an Manja.

Ein Lüftchen erhob sich. Von den kleinen Häusern an der Straße, wo die Georginen blühten, näherte sich, leise und dann lauter, die Musik einer Flöte. Ein Wanderer kam, barhaupt, mit langem, rotem und von grauen Fäden durchwebtem Haar. Sein Rock war zerrissen, gebauscht, als habe er Säcke statt der Taschen, seine Hosen plusterten sich am Knie zu seltsamen Wülsten und hatten Erdflecke, Zeichen mancher im Freien, auf Moos und Gras verbrachten Regennacht. Eine gauklerische Heiterkeit umspielte sein graubärtiges Christusgesicht. Vorn an der Brust hockte ihm, brandrot wie sein Kopfhaar, ein Eichkätzchen, dessen Äuglein hüpften. Mit einem Gefühl, in dem ein schrilles Weh war, blies er die Flöte, und das Echo klang zurück von Wand und Fels. »Was ist das 104 für ein Narr?« fragte die Dame mir den Brillanten ein junges Geschöpf, das hier oben servierte. »Der Professor«, erwiderte das Mädchen. Der Narr schien das Gespräch, das ihn betraf, gehört zu haben. Zeremoniell grüßte er, heiter und verbindlich. Er setzte sein Instrument ab. »Heute Nacht«, sagte er auf deutsch, »kommt ein Wetter.« Ein Kind trug ihm ein paar Heller zu. Schandera gab ihm eine Krone, die Dame Papiergeld. Nochmals blies er, indes das Eichkätzchen, den buschigen, rotbraunen Schwanz hochstellend, ihm auf die Schulter sprang. Es war eine sanfte, verschnörkelte Melodie, ein Ländler, nach dem man in den Dörfern tanzt. Dann entfernte sich der Sonderling, unablässig grüßend, in der Richtung von Mořin. Schweigend sah Erik ihm nach. »Es ist der Professor«, sagte beim Geschirrabräumen das Fräulein. »Der Herr wird wohl gesehen haben, daß er von schwachem Verstand ist. Er soll einmal ein großer Künstler gewesen sein. Jetzt vagabundiert er. Er heißt Fraymund und Fremut oder ähnlich. Er soll auch Musikstücke geschrieben haben.«

Der Bergwald rauschte, als Schandera und Erik hinabkletterten. In einer Viertelstunde waren sie an einem breiten Fahrweg, an dem Holzklafter geschichtet waren. Zu Hunderten jagten sich Kohlweißlinge, wie Schnee niederfallend. Kinder sammelten in Körbe die schwarzen Brombeeren, ein Kuckuck rief, bald von da, bald von dort. Sie gingen hinein in die Waldwiesen. Ein kleiner Bach rann, Libellen schwirrten mit grüngoldnem Hinterteil und metallischem Flügelpaar, die in harten Stößen ruderten. Die Luft war ganz rein. Disteln blühten, Skabiosen, blau der Gamander, rötlich das Tausendgüldenkraut, 105 gelb der Blutwurz. Schnellkäfer und Nashornkäfer raschelten. Erik lachte: »Wie herrlich das hier ist!« Nebeneinander entschlummerten sie, am Bachrand hingestreckt.

Erik war in Grado, an der Lagune, auf der Veranda beim Dr. Oransz. Dann zerflossen sie, die blassen Bilder, und nur der Ruf des Kuckucks hallte in seinen Traum. Schandera ging durch eine kleine Stadt mit bergigen, buckligen Straßen. An jedem Haus, an jedem Geschäft waren die Namen überklebt, als habe hier der Tod gewaltet; weiße Plättchen deckten die Firmentafeln zu. Ein Gendarm verfolgte ihn, der ihn anhalten wollte, weil er keine Reisepapiere hatte, dann jedoch, weil er mit Absicht langsam ging, es aufgab. Es wurde immer dunkler. Auch vor ihm war nun der graue, zähe Nebel, undurchdringlich. Von einer Seitenstraße her kam ein Schrei, der ihn wach emporschrecken ließ.

Lange schon lag er so da, die Augen offen, als Erik sich über ihn beugte und ihn mit einem Grashalm kitzelte: »Es ist spät.« Die Sonne verkroch sich hinter Wolken, die den Waldgrund verfinsterten. Alles wurde fahl, der Kuckuck rief, das Rascheln der Käfer im Laub wurde stärker. Erik hustete. »Ah, das hat eben geschmerzt«, sagte er voll Bangigkeit. Schandera spürte wieder den Griff ins Herz. »Es ist schon vorüber, nicht wahr?« Dankbar lächelte Erik.

Sie gingen an die Waldlichtung, in der ein Hahn mit feuerrotem, zerrauftem Kamm krähte und eine gluckende Henne schützend ihre Jungen wegtrieb, und bis an die Häuser des Dorfes. Hinter dem Staket mit den Sonnenblumen sang der Trichter des Grammophons mit 106 gedehntem Tenor das »Holka roztomila«. Gänse schnatterten vor der Restauration. Staub wirbelte über die Beraunbrücke. Am Bahnhof warteten elf, zwölf Passagiere. Der Zug von Pilsen schnaubte heran durch den gewitterdrohenden Abend.

 


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