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Es lebte einmal ein König, der war alt und kränklichen Leibes, und es machte ihm Mühe und Beschwerden, sein großes Reich zu regieren. Er hatte keine Kinder außer einem kleinen Sohn aus einer späten Ehe, der war erst sieben Jahr alt, und er wußte nicht, wie es nach seinem Tode dem Volk ergehen würde. Er merkte wohl, daß die Großen und Mächtigen des Reiches auf seinen Tod warteten, aber er wußte niemanden, dem er von Herzen vertrauen könnte, nicht einmal seiner Gemahlin.
Da betrübte sich sein Herz, und er saß oft in seinen großen Gärten, wo die Springbrunnen sprangen und die Vögel ihre Lieder zwitscherten, und bedachte, wie doch alles seine Zeit habe auf dieser Erde, Jugend und Schönheit, Macht und Herrlichkeit. Und wie alles eitel sei unter der Sonne, außer man lebte arm und zufrieden als ein Hirte oder ein Holzfäller. Und auch dann könnte der Wolf in die Herde fallen oder ein Baum zur Unzeit stürzen und auch das kleinste Leben zerstören.
Und er sah keinen anderen Weg aus allen Sorgen, als daß er die drei Größten des Reiches zu Regenten bestimmte, solange sein Sohn noch unmündig war, und daß er seiner Gemahlin auftrug, für das Wohl ihres Kindes und den Bestand des Reiches nach Kräften zu sorgen. Das versprachen sie alle mit tröstenden Worten, aber der König wußte wohl, wieviel von Worten zu halten war, und so ging er allein und gebeugt in sein Schlafgemach, suchte aus einer alten Truhe die Andenken an seine Kinderzeit hervor, Spielzeug und kindliche Waffen, wendete sie in seinen Händen spielerisch hin und her und reichte so unbewußt dem die Hand, der schon hinter der Kammertür stand, mit Stundenglas und Hippe, und ihn in derselben Nacht noch freundlich heimführte, dahin, wo es weder Sorgen noch Spielzeug gab.
Nach seinem Tode geschah es zunächst, wie der alte König befohlen hatte. Nun war aber unter der Leibwache einer der unteren Anführer, der war aus niedrigem Stande geboren, roh von Ansehen und Gebärden, aber glühend von Ehrgeiz und in seinem beschränkten Sinn der Meinung, daß er vor allen andern dazu geboren sei, eine Krone zu tragen. Und da er mehr als andere Anhang unter dem Kriegsvolk besaß, auch mit Gold und Versprechungen nicht sparte, war es ihm ein leichtes, vom Morgen bis zum Abend die Herrschaft des Reiches zu stürzen, die Regenten in den Kerker zu werfen, die Ämter mit den Seinigen zu besetzen und, bevor die Sonne unterging, in der Halle auf dem Thron zu sitzen, die Krone auf der niedrigen Stirn und von den lärmenden Gefährten seiner Empörung umgeben.
Nur eines war ihm nicht nach Wunsch geglückt, denn als die Vertrautesten seiner Schar, die er ausgesandt hatte, zurückkehrten, führten sie wohl die Witwe des verstorbenen Königs mit sich, bereit, sich dem neuen Herrscher demütig zu unterwerfen, aber das Kind war verschwunden, und die Königin wußte nichts anderes, als daß es in den Gärten gespielt hatte und daß niemand es mehr gesehen hatte, seit der Lärm sich erhoben hatte.
Nun war es ein so zartes und scheues Kind gewesen, daß wenige es jemals von Angesicht gesehen hatten, und als die Helfershelfer des neuen Königs ihm vorstellten, daß es bei diesen Umständen ruhig in der Stadt aufwachsen, ja, in den Straßen spielen könnte, ohne daß sie es gewahr würden, sann der König eine Weile nach, richtete dann die finsteren Augen auf seine Getreuen und befahl, ohne Zögern alles Kriegsvolk in Stadt und Land hinauszusenden und alle Kinder bis zum siebenten Lebensjahr zu erschlagen, Knaben und Mädchen, da man nicht wissen könne, ob der Verschwundene nicht in Mädchenkleider gesteckt würde, um ihn allen Spähern zu verbergen.
Da zauderten selbst die Rohesten eine Weile und meinten, das könne beim Volke nicht gut ausgehen. Aber der König machte nur eine wegwerfende Gebärde mit seiner plumpen Hand und erwiderte, Kinder wüchsen hervor wie Kartoffeln, aus jeder Knolle ein Dutzend, und wer sich vor Kinderblut fürchte, möchte nur gleich seine Waffen ablegen und sich an den Spinnrocken setzen.
Die Kriegsknechte aber waren mit diesem Auftrag wohl zufrieden, und nun erscholl jedes Haus und jede Hütte von Jammern und Wehklagen, und von dieser Stunde an schlich das Volk mit verhülltem Haupt durch die stillen Straßen, und Lachen und Frohsinn waren vergangen, wie die Kinder vergangen waren, als sollten sie niemals, niemals mehr wiederkehren.
Nun lebten ferne der Stadt an einem großen Walde ein Knabe und ein Mädchen, die waren Geschwister und ganz allein, denn ihre Eltern waren im Winter an einem tückischen Fieber gestorben. Und da sie niemanden in der Welt hatten, so liebten sie einander besonders zärtlich, und was sie zum Leben brauchten, verdienten sie, indem sie Beeren und Kräuter sammelten und fleißig ihren kleinen Garten bestellten. Als größten Schatz besaßen sie ein Schaf, das war so weiß wie Schnee und zutraulich wie ein Mensch, und manchmal war es so klug und wunderbar in dem, was es tat, daß sie glaubten, es trüge nur die Gestalt eines Tieres und darunter verberge sich ein Wesen von besonderer Art.
Eines Abends nun in dieser Zeit, als die Kinder in ihrem kleinen Garten arbeiteten, sahen sie in der Ferne über der Heide Waffen blitzen und drei Männer zu Pferde, die sich langsam ihrer Hütte näherten. Da fiel ihnen ein, was sie nur als Gerücht vernommen und niemals ernstlich geglaubt hatten, und erschraken zu Tode. Es war zu spät zur Flucht, und der Knabe lief, um die Axt zu holen, mit der er Holz spaltete. Die Schwester aber sagte: »Lieber Bruder, was willst du gegen drei große, böse Männer tun? Laß deine Hände vom Blutvergießen und laß uns geduldig hinnehmen, was uns geschickt wird. Wir werden dann bei Vater und Mutter sein und weder Angst noch Kummer mehr kennen.«
Aber als der Knabe noch unschlüssig dastand, die schwere Axt in seinen schwachen Händen, kam das weiße Schaf um die Ecke der Hütte gelaufen, schmiegte seinen Kopf zärtlich an ihre Knie, wie es zu tun gewohnt war, und sagte: »Ihr lieben Kinder, erschreckt nun nicht, daß ich zu sprechen vermag, und fürchtet euch nicht. Ich will euch in zwei junge Lämmer verwandeln, und wenn die Männer wieder fort sind, sollt ihr wieder so sein wie vorher.«
Da wunderten sich die Kinder sehr, aber sie waren es zufrieden, streichelten das Schaf, und da sie an der Schwelle der Hütte schon die Waffen klirren hörten, knieten sie nieder, um ganz klein zu sein, und das Schaf leckte einmal über ihre Hände und sprach leise ein Wort, von dem sie nur den Anfang verstanden, und es klang ihnen wie »Runa ,...«
Aber dann waren sie schon nicht mehr Menschenkinder sondern zwei junge weiße Lämmer, lieblich anzusehen, standen auf vier Füßen statt auf zwei und wurden von dem Schaf in die Erbsenbeete geschoben, die waren schon hoch und verbargen sie ganz und gar.
Die Männer, nachdem sie fluchend jeden Winkel durchsucht hatten, kamen endlich auch in den Garten, und als sie auch hier nichts fanden als ein altes Mutterschaf, das an den Kräutern zupfte und töricht vor sich hinsah, wurden sie zornig, und der eine von ihnen schleuderte seinen Spieß und traf das Schaf in das Herz, so daß es zu Boden stürzte und stumm sein Leben verströmte. »Wenn es nicht Kinder sind, so soll es wenigstens ein Schaf sein«, sagten sie und machten sich daran, es über einem Feuer zu braten.
Die Kinder aber knieten zitternd in dem Erbsenstrauch, hörten das Feuer knistern und rochen den Rauch, und sie wünschten, das Eisen hätte lieber sie getroffen statt ihres geliebten Gefährten.
Als die Sterne schon am Himmel standen, machten die Männer sich endlich davon, und die Kinder kamen aus ihrem Versteck, und wie sie vor dem erlöschenden Feuer standen, fiel die Schwester plötzlich auf die Knie, begann bitterlich zu weinen und sagte: »Liebster Bruder, weißt du auch, daß wir nun niemals mehr Menschengestalt tragen werden? Denn wir haben das Wort nicht verstanden, und jetzt kann niemand uns erlösen als der Tod.«
Da erschrak auch der Bruder, aber dann tröstete er das Mädchen und sagte: »Weine nun nicht mehr, liebe Schwester. Es ist gleich, in welcher Gestalt wir über diese böse Erde gehen, wo die Menschen ausziehen, um Kinder zu schlachten. Und wenn unser lieber Spielgefährte so viele Jahre gelebt hat, so werden auch wir unser Essen finden, und solange wir miteinander sprechen können wie jetzt, solange brauchen wir nicht zu weinen und wollen einander nur noch inniger lieben.«
Da legten sie sich im Grase an der warmen Hüttenwand nieder, drängten sich dicht aneinander und schliefen, bis die Sonne und die Vogel sie weckten. Nach einer Weile aber sagte der Knabe: »Liebe Schwester, es ist wohl nicht gut, hier zu bleiben, wo so Böses geschehen ist, und wir müssen auch trachten, einen Schäfer zu finden, der für uns sorgt in der Winterszeit und uns in den warmen Stall nimmt, wenn der Schnee die Erde bedeckt. Ist es dir also recht, so wollen wir uns aufmachen, immer nach Süden, wo die Sonne wärmer scheint, und überall anfragen, wo wir eine Herde sehen, ob wir uns zu ihr gesellen können.«
Da war die Schwester es zufrieden, und da sie von dem wenigen, das sie besaßen, nichts mitnehmen konnten, so zogen sie ohne Bürde aus ihrem kleinen Garten, durch den großen Wald hindurch und immer weiter über Wiesen und Heiden nach Süden zu. Wo das Gras süß und weich war und ein kleines Wasser durch die Ebene rann, blieben sie für eine Weile, und des Nachts suchten sie sich ein Gebüsch, wo das Moos noch warm war von der Tagessonne, und schliefen, bis die Vögel sie weckten.
So waren sie bei allem Kummer ihres Lebens froh, und als sie eines Tages in der Ferne eine Schafherde erblickten und mitten unter ihr den alten Schäfer, der an einem wollenen Strumpf strickte, meinten sie, daß alle Mühsal nun ein Ende habe, traten bescheiden vor den Schäfer und baten ihn, sie in seine Herde aufzunehmen, da sie ohne Vater und Mutter und ganz verlassen seien.
Der Schäfer sah sie freundlich an, aber dann schüttelte er seinen weißen Kopf und sagte: »Ich würde euch gerne willfährig sein, aber mein Herr würde mich schelten, denn er hält auf Recht und Ordnung und will nicht Herr über das Herrenlose sein. Wandert also nur weiter, vielleicht daß ihr jemanden findet, der es nicht so genau nimmt mit seiner Pflicht.«
Da gingen sie traurig weiter, und das Mädchen sagte: »Hast du gesehen, wie freundlich die Schafe und der Hund auf uns blickten? Daß doch nur die Menschen kein Herz haben und sich hinter Recht und Pflicht verbergen wie hinter einer Mauer.«
»Laß uns nur geduldig sein«, erwiderte der Knabe. »Vielleicht haben wir es auch nicht klug genug angefangen.«
In dieser Nacht, als sie voller Heimweh wach lagen, merkten sie zum erstenmal, daß jede Fremde voller Gefahren war, denn um die Mitternacht sahen sie einen grauen Schatten vor ihrem Lager stehen und sahen, daß es ein Wolf war. Da richtete die kleine Schwester sich auf und sagte: »Lieber Wolf, tu uns nichts zuleide, denn wir sind zwei verzauberte Menschenkinder und haben von den Menschen schon Leides genug erfahren.«
Da verwunderte sich der Wolf, setzte sich im Mondlicht vor sie nieder und ließ sich ihre Geschichte erzählen. Und als sie fertig waren, schüttelte er bekümmert sein graues Haupt und sagte: »Ich will euch nichts zuleide tun, denn ihr dauert mich. Geht nur immer weiter, solange bis ihr auf einer blauen Weide viele Lämmer sehen werdet, eines so weiß und schön wie das andere. Dort fragt nur nach dem guten Schäfer, und er wird euch freundlich aufnehmen.«
»Aber ist es wirklich eine blaue Weide?« fragte das Mädchen.
»Ja, eine blaue, und achtet nur darauf, daß ihr zu keiner anderen geht.«
Und damit verschwand er lautlos im Gebüsch.
Die Kinder aber wunderten sich und sprachen oft davon, solange sie wanderten.
Als sie nun aber eines Tages wieder eine große Wiese erblickten mit einer großen Herde und einem alten Schäfer, gab der Knabe nicht Ruhe, bis sie wieder näher getreten waren, und der Knabe sagte: »Ist das deine Herde, lieber Schäfer?«
»Ja«, sagte der Schäfer, »das ist meine Herde und gehört mir ganz allein. Und weshalb fragst du das wohl?«
Da erzählten sie ihm wieder, daß sie vater- und mutterlos und ganz verlassen seien, voller Angst vor dem harten Winter.
Aber der Schäfer schüttelte den Kopf. »Das kennt man schon«, erwiderte er, »wie das junge Volk sich herumtreibt, solange das Gras grün und das Wasser klar ist. Und wie es zum Winter bequem und billig unterschlüpfen will. Aber ich habe kaum Futter für meine eigene Herde, und wenn ich euch durchgebracht habe, kommt euer Herr und sagt, daß ich euch verlockt oder gestohlen habe. Geht also nur eures Weges, bis ihr Vater und Mutter findet.«
Da gingen sie traurig weiter, und das Mädchen fragte wieder, ob er gesehen hätte, wie freundlich und mitleidig die Tiere sie angeschaut hätten. Und daß es nicht gut sei, das Gebot des Wolfes zu übertreten, sondern ihm gehorsam zu sein.
Nach einer Weile aber blieb der Knabe plötzlich stehen, dachte lange nach und sagte: »Wie aber, wenn der Wolf das war, was die Menschen farbenblind nennen? Und wenn jede grüne Wiese ihm blau erscheint?«
Da lachte das Mädchen, und als der Bruder nach langer Zeit wieder ihr helles Lachen hörte, mußte er darein einstimmen, und so zogen sie fröhlich weiter.
Aber sie hatten den Wald noch nicht durchschritten, den sie betreten hatten, als sie den leisen Warnlaut vieler Vögel vernahmen, und als sie stehen blieben, um zu lauschen, zitterte das Gras vor ihnen ganz leise, und ehe sie zur Seite springen konnten, hob eine große Schlange ihr glattes, böses Haupt vor ihnen auf und sagte: »Werft das Los, welches von euch ich verschlingen soll!«
Da sprach das Mädchen mit zitternder Stimme: »Liebe Schlange, tue uns doch nichts zuleide, denn wir sind zwei verzauberte Menschenkinder und haben von unseresgleichen schon Leides genug erfahren.«
Da verwunderte sich die Schlange, ringelte sich vor ihnen im Grase zusammen und ließ sich ihre Geschichte erzählen. Und als sie fertig waren, schüttelte sie bekümmert ihren Kopf und sagte: »Ich will euch nichts zuleide tun, denn ich will nicht sein wie die Menschen, die einander hassen und zerstören. Geht nur immer weiter, solange bis ihr auf einer blauen Weide viele Lämmer sehen werdet. Dort wird man euch freundlich aufnehmen, und alles Leid wird ein Ende haben.«
Da wunderten die Kinder sich sehr, daß zum zweitenmal ihnen die gleiche Botschaft wurde, und sie wanderten wieder fröhlich weiter und vergaßen den Schäfer.
Aber der Sommer ging zu Ende, der Herbst kam mit goldenem Laub, mit Nebel und Stürmen, und noch immer hatten sie die blaue Weide nicht gefunden. Da wurde die kleine Schwester langsam müde, die Füße schmerzten sie, und sie saß nun gern im letzten Sonnenschein und blickte der blauen Kette der Kraniche nach, die laut rufend nach Süden zogen. »Ach, wenn wir doch mit könnten«, sagte sie wehmütig, »hoch über die harte Erde hin, nach einem Lande, wo vielleicht alle Weiden blau sind und die Bäche so klar, als ob sie aus dem Paradiese kämen!«
Dann fielen wohl langsam ein paar Tränen über ihre weißen Wangen, und der Knabe umschlang seine Schwester, küßte sie und sprach ihr Mut zu. »Wenn die beiden es gesagt haben«, versicherte er, »wird es ganz gewiß so sein, und sollte es uns erst im Frühling begegnen, so werden wir auch den Winter überstehen. Auch der Frost tut nicht so weh wie das blanke Eisen der drei Männer, die damals zu uns kamen.«
Aber der Frost, der nun einfiel, tat sehr weh, mehr als sie gedacht hatten, und der Hunger ebenso; da schleppten sie sich mühsam von Hügel zu Hügel, bis sie in der Ferne einmal einen großen Schafstall erblickten, mit tiefem Dach, das war mit Rohr gedeckt, und große Wacholderbüsche standen wie stille Wächter im Schnee.
Da saßen sie lange und blickten darauf hin, und als der Schäfer eines Abends aus dem Stall trat, einen Stab und eine Laterne in der Hand, faßten sie sich ein Herz, schlichen leise durch den tiefen Schnee und zwängten sich durch eine Lücke neben dem Tor in den Stall. Da war es herrlich warm und still, ein Torffeuer brannte im Herd, und der Hund lag davor und träumte.
Lange standen sie da, fühlten den Schnee aus ihrem Kleid tropfen und wagten nicht, in den rötlichen Lichtschein zu treten. Aber da fuhr der Hund plötzlich knurrend auf, und alle Schafe hoben die Köpfe und starrten sie an.
Da trat die Schwester ein wenig vor und begann ihre Geschichte zu erzählen, und da wurde es ganz still in dem großen, halbdunklen Raum. Nur der Atem die vielen Tiere war zu vernehmen und ab und zu ein Seufzer, wenn die Geschichte an den Wolf oder die Schlange kam.
Und als das Mädchen geendet hatte, rieb der Hund freundlich seinen grauen Kopf an ihre Wangen, und die alten Mutterschafe drängten sich um sie und nahmen sie in ihre Mitte und führten sie bis in die hinterste Ecke, da war es ganz dunkel und still und warm. Und sie brachten ihnen Nahrung und Wasser und ließen sich immer mehr von ihnen erzählen, und als der Schäfer zurückkam, bedeckten sie die Kinder mit Heu und Rohr und legten sich so dazu, daß nichts von ihnen zu sehen war.
Da blieben sie nun den ganzen Winter über und ruhten sich aus und waren unter lauter Tieren wie zu Hause, denn niemand war so gut zu ihnen gewesen, seit sie Vater und Mutter verloren hatten.
Im Frühjahr aber, als der Schäfer sich rüstete, mit den Schafen auf die Wanderschaft zu gehen, führten sie die Kinder am Abend zuvor an die Lücke neben dem Tor, drängten sich zum Abschied um sie und blickten ihnen dann lange nach, wie sie unter dem Sternenhimmel davon gingen, klein und weiß und ganz verloren unter dem leuchtenden Sternenzelt.
Da waren sie nun wieder auf der vertrauten Erde. Das Gras wurde wieder grün, und die kleinen Bäche rannen eilig zu Tal. Aber die Schwester wollte nicht mehr so froh werden wie ehemals. Wenn sie eine kleine Strecke gewandert waren, wurde sie schon müde, hustete und wollte nur in der Sonne liegen. Der Knabe tat ihr alles zu Willen, aber er sah sie oft bekümmert von der Seite an, und er wußte nicht, wie es werden sollte, denn die blaue Weide hatte er schon längst vergessen.
So lagen sie an einem schönen Frühsommerabend am Rande eines Birkenwaldes. Der Kuckuck rief sein Abendlied, der Faulbaum blühte schon, und ganz in der Ferne blies ein einsamer Hirte auf seiner Flöte. Der Abendhimmel war von einer dünnen, weißen Wolkendecke überzogen, die löste sich langsam vor der untergehenden Sonne, zerfiel in immer kleinere Teile, und endlich zog ein Heer von tausend kleinen, runden, weißen Wolken langsam gegen den Untergang. Die Sonne säumte jeden der weißen Ränder mit einem roten Saum, und dazwischen leuchtete der Himmel in einem herrlichen tiefen Blau.
Da seufzte die kleine Schwester tief und glückselig auf, nahm die Hände ihres Bruders in die ihrigen und sagte leise: »Liebster Bruder, siehst du nun, daß sie wahr gesprochen haben, der Wolf und die Schlange? Da ist die blaue Weide, und da sind die tausend weißen Lämmer, und hier wollen wir bleiben, daß alle Not ein Ende habe.«
Da schwieg der Knabe, denn auch ihm schien nun die Weissagung erfüllt, aber die Hände seiner Schwester waren ganz heiß, und das machte ihm angst. Und als er mit seinen scharfen Augen in der Ferne einen Mann auf einem Stein sitzen sah, einen langen Stab über den Knien, sagte er: »Komm nun, liebe Schwester, noch dies kleine Stückchen, bis zu dem Mann, der dort sitzt. Vielleicht daß er der gute Schäfer ist, den wir suchen.«
Und er umfing seine müde Schwester mit seinen jungen Armen, hob sie an seine Brust und trug sie über die Wiese nach einem kleinen Bachlauf, der war mit Erlen gesäumt, und auf einem kleinen Hügel davor saß der Mann.
Sie sahen nun, daß er in einen blauen Mantel gehüllt war und daß die tausend weißen Wolken wie junge Lämmer langsam auf ihn zu weideten. Er hatte die Hände um den Stab gefaltet, und seine Augen blickten still und gütig in die Ferne, als lockte er mit ihnen die Lämmer immer näher zu sich heran.
»Habt ihr gefunden, liebe Kinder?« fragte er, als der Knabe seine Schwester behutsam in das Gras sinken ließ, »die blaue Weide und die tausend Lämmer?« Und er bettete den Kopf der Schwester an seinen Knien, strich ihr leise über das feuchte Haar und sah sie mit seinen wunderbaren Augen lange an. Und in diesem Blick lösten sich alle Schmerzen in ihrer Brust, alles Leid des vergangenen Jahres, aller Gram um die bösen Menschen, und es war ihr, als liege sie wieder in ihrem Kinderbett und Vater und Mutter säßen bei ihr und warteten, bis sie einschlafe.
»Bist du der gute Schäfer?« fragte sie ganz leise.
»Ja, der bin ich, liebes Kind«, erwiderte er und hieß den Knaben mit einer Gebärde seiner Hand eine Schale mit Wasser am Bache füllen. Darin wusch er die wunden Füße der Schwester und trocknete sie mit seinem blauen Mantelsaum.
»Und weidest du alle diese tausend Schafe?« fragte die Schwester weiter, aber die Augen fielen ihr fast schon zu vor Müdigkeit.
»Ja, ich weide sie alle«, erwiderte der Mann, »und wenn es dunkelt, nehme ich sie alle unter meinen Mantel, so wie ich dich jetzt mit ihm bedecke.«
Eine Weile war sie nun ganz still, warm und geborgen. Aber dann sagte sie mit ihrer letzten Kraft: »Lieber Schäfer, darf ich dich noch etwas bitten?«
»Bitte nur alles, was du willst«, erwiderte der Mann.
Da sagte die Schwester ganz leise: »Ich weiß nun, daß ich sterben muß, und vorher möchte ich so gern dich und die Lämmer und die blaue Weide und meinen lieben Bruder mit den Augen ansehen, die ich früher hatte. Kannst du das wohl, daß ich wieder ein Menschenkind werde?«
»Auch das kann ich«, sagte der Mann, strich mit seiner Hand über ihre feuchte Stirn, beugte sich tief zu ihr und sagte leise: »Runawela!«
Und wie er es gesagt hatte, lag die kleine Schwester an seinem Herzen, so wie sie früher gewesen war, und ihre leuchtenden Augen gingen in tiefer Glückseligkeit über sein Gesicht, über den Abendhimmel mit den tausend weißen Lämmern und blieben dann an dem traurigen Gesicht ihres Bruders hängen. »Auch ihn«, flüsterte sie, »auch ihn.«
Und der Mann strich mit seiner Hand auch über die Stirn des Knaben, und auch er war, was er früher gewesen war.
Da nahm die Schwester die Hand ihres Bruders und bedankte sich für alle Guttat, die er ihr Zeit seines Lebens erwiesen hatte, und bat ihn, nicht traurig zu sein, denn sie sei nun so müde, so schrecklich müde, und sie möchte nichts als in dem blauen Mantel schlafen, viele Tage und viele Nächte, und wissen, daß er immer da sei, er und der gute Schäfer, und die blaue Weide ,... und vielleicht auch der gute Wolf ,... und vielleicht auch die gute Schlange ,...
Und da fielen die Augen ihr zu, und sie schlief ein, um nicht mehr zu erwachen. Und der Schäfer hüllte sie ganz in seinen blauen Mantel und legte seine Hand über ihre Augen und blickte still in das Abendrot hinaus. Die weißen Wolken waren nun alle rot geworden und sanken eine nach der anderen hinter den Horizont. Noch immer blies die ferne Flöte, und die Welt war so still, als wäre es ihr erster Abend und der Anfang aller Ewigkeit.
»Laß auch mich einschlafen«, bat der Knabe nach einer Weile weinend. »Denn ohne meine Schwester will ich nicht mehr sein auf dieser Welt.«
Der Schäfer aber sah ihn gütig an und sagte: »Ich will tun, was du möchtest. Aber möchtest du wirklich, daß diese Erde unter der Hand der Bösen bleibt? Daß Kinder getötet werden oder wandern müssen wie ihr, vaterlos und heimatlos, bis die Füße ihnen bluten? Möchtest du nicht dableiben, um zu helfen, daß es anders werde? Sind deine Arme nicht jung, und ist dein Herz nicht tapfer? Und hat sie dich nicht gebeten, daß du nicht traurig sein möchtest?«
Da stützte der Knabe sein Gesicht in beide Hände und sann lange nach über das, was der Schäfer gesagt hatte. Und dann stand er auf vor dem großen Abendrot, das wie Blut über den Himmel floß, und sagte: »So laß mich meine liebe Schwester begraben und dann tun, wie du es willst. Aber kannst du mir ein Schwert mitgeben, daß ich die Erde vom Bösen befreien kann?«
»Laß uns erst das Grab graben«, sagte der Mann.
Und als sie die Schwester hineingelegt hatten, in den blauen Mantel gehüllt, und die Erde wieder sanft darübergeschüttet, setzte sich der Mann auf das Fußende des Hügels und strich mit seiner Hand einmal über die frische Erde. Und wie er es getan hatte, blühten aus dem Hügel viele, viele weiße Lilien, die standen wie stille Kerzen in der Dämmerung und dufteten so, als sei die ganze Erde mit ihnen bepflanzt.
Und der Mann sagte: »Ich könnte dir mitgeben, was du willst, denn mir ist alle Macht gegeben im Himmel wie auf Erden. Aber alles Böse auf Erden wird stärker durch das Schwert und schwächer nur durch die Liebe. Nimm dies statt des Schwertes. Es wird duften, solange dein Herz rein ist, und mit ihm wirst du alles Böse überwinden. Nicht heute, nicht morgen, aber am Beginn der Ewigkeit. Denn von allem, was Himmel und Erde erzeugen, ist eines das Mächtigste, und das ist die Liebe.«
Und damit brach er mit seiner Hand eine der Lilien dort ab, wo das Herz der kleinen Schwester begraben lag, und reichte sie dem Knaben und nickte ihm zu und hieß ihn gehen.
Und der Knabe empfing die duftende Blüte an ihrem langen Stengel und hielt sie vor sich hin und ging langsam über die dunkelnde Wiese in das erlöschende Abendrot hinein. Und als er sich über den Kelch der Blume neigte, erschrak er in Glückseligkeit, denn das Antlitz seiner Schwester sah ihm daraus entgegen, und ihre Lippen sagten ganz leise: »Gehe nur ruhig deines Weges, denn so will ich immerdar bei dir bleiben, bis an das Ende deiner Tage.«
Und die ferne Flöte blies immerzu und begleitete den Knaben, der auszog, um das Böse zu vertreiben aus der Welt.
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