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Das ruhelose Herz

Es war einmal ein König, der war aller Dinge mächtig und geehrt und geliebt über viele Länder hinaus. Seine Krieger waren die besten, seine Felder die fruchtbarsten, seine Priester und Dichter die weisesten, und wenn es einmal in der Runde Not oder Zweifel gab, so kam man zu ihm, lauschte auf seinen Rat und ging getröstet wieder davon. Wenn es darum ging, weise zu sein, so war er der Weiseste, und wenn es darum ging, tapfer zu sein, so war er der Tapferste, und wenn es galt, ein gutes Herz zu haben und nichts als dieses, so war nirgends soviel Liebe zu finden wie bei ihm.

Es war nicht immer so gewesen, und in seiner Jugend war er oft jähen und unbedachten Sinnes gewesen. Aber nun, als er alt war, hatte er gelernt, daß das Glück auf einer Kugel einherschreitet und daß Weisheit besser sei als Gewalt.

Er hätte nun wohl glücklich sein können, denn sein Reich war ein Reich des Friedens, blühte und gedieh, und Söhne und Töchter wuchsen ihm auf, die eine Freude des Volkes waren.

Aber er war nicht glücklich. Nicht so, daß sein Herz zu jeder Stunde des Tages und der Nacht still und ruhig gewesen wäre. Er hatte alles, was sein Herz nur begehren mochte, aber an manchem Morgen, wenn er sich von seinem prächtigen Lager erhob, war es ihm leid, sein Purpurgewand wieder anzulegen und die Krone aufzusetzen. Und an manchem Abend, wenn er in seiner Halle saß und durch die offenen Fenster die Nachtigallen schlugen, war es ihm leid, daß er hier war und nicht wo anders, daß er alt war und nicht jung, daß er ein König war und nicht einer der jungen Fischer, der auf dem Strom die Netze ausgelegt hatte und nun sein fröhliches Abendlied sang.

Und obwohl er sich selbst sagte, daß solche Gedanken eines Weisen nicht würdig waren, kamen sie doch immer wieder, wie ein Schatten kommt, den eine Wolke wirft, und man sieht ihn lange, bevor man die Wolke sieht.

Am liebsten saß er nun an seinem Goldfischbecken im Garten, stützte den Kopf in seinen linken Arm, den Arm auf den Marmorrand des Beckens und sah zu, wie das silberne Wasser aus dem Rohr des Springbrunnens aufwärtsstieg und wieder herabfiel, und wie die goldene Kugel, die von dem Wasser getragen wurde, frei in der Luft zu schweben schien, unsicher wie das Glück und glänzend wie das Glück.

Mitunter traten seine Kinder oder seine Großen leise zu ihm und fragten, ob ihm etwas fehle. Aber er schüttelte lächelnd den Kopf und sagte nur, daß sein Herz nicht so ruhig sei wie ein Stein auf dem Grunde, und daß es wohl noch älter werden müsse, um das zu lernen.

So saß er einmal wieder um die Abendzeit am Wasser, blickte auf die goldene Kugel, in der das Abendrot sich spiegelte, und sann über sein Leben nach. Und wie er bedachte, wie vieles er versäumt und falsch gemacht hatte, war ihm das Herz noch schwerer als sonst, und er beneidete die Fische, die leise ihre goldenen Flossen rührten, so leise, als ob sie schliefen.

Und wie er mit einem Seufzer seine Augen in den Garten wendete, stand neben ihm eine alte Frau, die sah aus wie eine Frau aus dem Volke, sauber, aber schlicht gekleidet, und nur ihr Gesicht war schön und so still, wie er noch keines gesehen zu haben meinte.

»Wo kommst du her?« fragte er verwundert. »Und wie kommt es, daß die Wachen dich durchgelassen haben?«

»Mich hält keine Wache«, sagte sie, »denn nur die sehen mich, die schweren Herzens sind.« Und auch ihre Stimme klang tief und still wie eine Glocke.

Der König schwieg eine Weile, und dann sagte er leise: »Bist du gekommen, um mir zu helfen?«

»Vielleicht«, erwiderte sie, »und nun sage mir, was du möchtest.«

Der König dachte lange nach, und dann sagte er leise: »Ich bin es müde, so sehr müde. Ich habe geherrscht ein Leben lang, und nun möchte ich dienen ein Leben lang. Ich möchte wohl gern ein Heiliger sein.«

Da sah die Frau ihn ernst und fast traurig an, legte ihre kühle Hand auf seine Stirn und sagte: »Du sollst es sein, und wenn du es müde bist, so rufe mich wieder.«

Und wie sie es gesagt hatte, waren das Marmorbecken und der Garten verschwunden, das Purpurgewand und die Krone, und der König saß vor einer Felsenhöhle, in ein Bettlerkleid gekleidet, und vor seinen Augen dehnte sich eine endlose Wüste, von der Abendsonne beschienen, und ein Dornbusch warf hier und da einen dürftigen Schatten über den Sand. Und obwohl der König sich seiner selbst und seines neuen Daseins wohl bewußt war, hing das vergangene Leben doch noch wie ein Traum vor seinen Augen, so daß er den Garten und die Frau immer noch sah und sich jedes Tages und jeder Stunde wohl erinnern konnte.

Da seufzte er so tief auf wie ein Kind im Traum, faltete seine Hände und betete lange, bis die Sonne untergegangen war.

Dann ging er langsam in die Felsenhöhle, fand ein Lager von hartem Gras, eine grobe Decke, ein Stück harten Brotes und einen kleinen Quell, der zwischen den Steinen hervorsprang. Am Fußende seines Lagers aber stand in einer Spalte ein Totenkopf, der sah ihm mit seinen leeren Augen zu, wie er zur Ruhe ging. Und bevor er einschlief, legte er die linke Hand auf sein Herz, und es schien ihm, als schlage es so ruhig wie noch niemals in seinem Leben.

Da war er nun, und da blieb er nun für viele Jahre seines Lebens. Schon ein paar Tage nach seiner Ankunft kamen die Kranken und die Kinder und die Kummerbeladenen aus der Nähe und Ferne zu ihm, saßen zu seinen Füßen, baten, daß er seine Hand auf sie lege, und gingen getrost von dannen. Und er sah, daß es auf der Welt immer das gleiche war: daß die Mächtigen schlugen und die Machtlosen geschlagen wurden. Meistens war es eine Menschenhand, die schlug, aber oft war es die Hand des Schicksals oder gar des Todes. Und es war auch nicht so, daß die Großen der Erde tiefer litten als die Armen oder die Kinder. Und manchmal, wenn ein Aussätziger vor ihm kniete oder ein Kind jammervoll weinte und die Striemen auf seiner Haut wies, verzagte sein Herz, und es wollte ihm scheinen, als ob eine Königshand leichter helfen könnte als die eines Heiligen.

Doch redete er sich das wieder aus, ließ nicht nach in seiner Barmherzigkeit und wurde geliebt, wie er als König geliebt worden war. Sein Haar wurde grau, und manchmal am Morgen, wenn er auf seinem harten Lager erwachte und der Totenkopf ihn schweigend ansah, war er es ein bißchen müde, sich zu erheben und dem Zug der Pilger entgegenzublicken, die wie ein schmales dunkles Band durch die schattenlose Wüste herbeizogen.

Da erschrak er, betete tief und andächtig und war von besonderer Güte gegen alle Armen und Leidenden.

Am Abend aber saß er vor seiner Höhle und wartete auf den Adler, der immer um dieselbe Stunde über die Wüste kam, um sich von der Speise zu holen, die die Pilger reichlich vor der Höhle niederlegten. Und wenn er sich dann in immer kleineren Kreisen niederließ und das schöne, stolze Auge auf den Heiligen wendete, vermochte dieser keinen Blick von ihm zu wenden, so herrlich erschienen ihm die glänzenden Schwingen, der Adel des Fluges und die große Einsamkeit, in die er wieder verschwand.

Nun geschah es einmal, daß eine Reihe alter und gebeugter Männer vor dem Heiligen erschien und ihn flehentlich bat, doch in ihre Stadt zu kommen, wo ein harter König sie um ihres Glaubens willen bedrücke und verfolge.

Der Heilige gehorchte, nahm Abschied von seiner Höhle und gelangte in die Stadt, als die Henker des Königs gerade einen der alten Männer ans Kreuz geschlagen und es aufgerichtet hatten.

Da erbarmte sich der Heilige des Leidenden, kniete unter dem Kreuz nieder und sprach dem Sterbenden Trost zu, daß keine Macht der Welt stärker sei als ein reines Herz und daß er einmal über den Richtern sitzen werde, wie die Richter nun über ihm säßen.

Da ergriffen ihn die Kriegsknechte und führten ihn vor den König. Diesen beschwor er, von der Gewalt abzulassen und der Liebe zu gehorchen, wie er selbst seine Krone abgelegt habe, um ein Dienender zu werden, aber der König und seine Großen verhöhnten ihn, warfen ihn in den Kerker, und am nächsten Morgen sollte er an der Seite dessen gekreuzigt werden, für den er gebeten hatte.

Da saß er nun in der Abenddämmerung an dem kleinen vergitterten Fenster, stützte den Kopf in die Hand wie ehemals am Rande des Marmorbeckens und sann, wie alles doch eitel sei auf der Welt und wie machtlos die Hand eines Bettlers sei. Und das Herz war ihm schwer und ruhelos, nicht vor dem Tode, den er erleiden sollte, sondern weil er erkannte, daß er das Unrecht nicht auslöschen konnte auf der Erde und daß auch eines Heiligen Herz nicht ruhig war wie ein Stein auf dem Grunde.

Da war er dieses Lebens müde, und als er sich mit seiner alten Hand über die Augen strich, stand in der Dämmerung die alte Frau neben ihm, und ihr Gesicht war immer noch so still und schön wie in dem Garten des Palastes.

Da sagte der König leise: »Bist du gekommen, um mir zu helfen?«

Und wieder war ihre Stimme tief und still wie damals, als sie erwiderte: »Vielleicht. Und nun sage mir, was du möchtest.«

Da klagte der Heilige ihr sein Leid und wie es einem Menschenherzen wohl nicht gegeben sei, zu ruhen wie ein Stein auf dem Grunde. Und da fiel ihm der Adler in der Wüste ein, und er sagte, er möchte wohl so sein wie jener, in der herrlichen Freiheit seiner Schwingen und niemandem Untertan als den Lüften und Winden, die seinen Leib trugen.

Da sah die Frau ihn ernst und fast traurig an, legte ihre kühle Hand auf seine Stirn und sagte: »Du sollst es sein, und wenn du es müde bist, so rufe mich wieder.«

Und wie sie es gesagt hatte, waren der Kerker und die Fesseln und das Bettlergewand verschwunden, und der Adler zog seine weiten Kreise über der Stadt, in der die Lichter erloschen, und sah nichts als die Sterne über sich und breitete seine herrlichen Schwingen nach dem fernen Walde, wo die uralten Eichen standen und wo er sich in einen der Wipfel niederließ, um zu schlafen.

Und das Leben des Königs und das Leben des Heiligen hingen wie ein Traum vor seinen Augen, eine ferne Erinnerung, in der er alles Gewesene sah und hörte, und die ihm arm und voller Irrtum erschien vor der schönen, großen Einsamkeit, die ihn nun umfing.

Am Morgen aber öffnete er mit einem Jubelschrei seine Schwingen, sah das grüne Meer der Wipfel unter sich, Felder, Heiden und Wüsten und in der Ferne den blauen Saum des Meeres. Da stieg er immer höher, bis die Sonne ihn wärmte und die weißen Wolken mit goldenen Rändern unter ihm dahinzogen, und dann legte er die Flügel zusammen und schoß wie ein Pfeil in die gähnende Tiefe, bis er das junge Reh auf der Heide in seinen Fängen hielt und die warme Speise hungrig verschlang.

Und als im Herbst sein Herz ihm voller Sehnsucht wurde, machte er sich nach Süden auf, immer weiter und weiter, über Gebirge und Meere, bis ein fremdes, sonniges Land ihn umfing, wo er stark und einsam lebte wie vorher.

Im Frühjahr aber, als er wiedergekehrt war, trieb er die Spiele der Liebe wie in vergangenen Zeiten, und als sie vorüber waren, blieb er wieder allein, ein königlicher Räuber, dem die Hirten und Jäger und Fischer nachstellten, ohne seiner habhaft werden zu können.

Und einmal, nach längeren Jahren, als die Ernte auf den Feldern schon eingebracht wurde, kam er auf einem seiner weiten Flüge über die Wüste, an deren Rand er ehemals als ein Heiliger gelebt hatte, erkannte den Eingang zur Höhle wieder und ließ sich langsam auf den warmen Sand nieder. Von den Speisen, die die Pilger niedergelegt hatten, war nichts mehr zu sehen außer ein paar vermoderte Körbe aus Flechtwerk, und er ging langsam bis in die Höhle hinein, in der er fast ein Menschenalter gelebt hatte. Das Lager war noch da, die grobe Decke, der kühle Quell im Hintergrund, und zu Füßen der Ruhestätte hing der Totenkopf noch immer im Stein, unberührt und unverändert, und seine leeren Augen sahen ihn schweigend an.

Da erschrak er bis tief in sein Herz hinein, und es war ihm, als liefen seine drei Leben als drei gesponnene Fäden von jenen leeren Augen bis zu ihm hin, und alle drei waren voller Knoten und Verwirrungen und keiner so eben und ohne Makel, wie er hätte sein sollen. Und er verzagte in seinem Herzen und saß still bis zur Abenddämmerung und bedachte, daß er hier ein Leben lang als ein Heiliger gelebt hatte, mit Beten und Handauflegen, und daß nun seine Fänge voll Blut waren und er zur Gewalt zurückgekehrt war, von der er einmal ausgegangen war. Dann flog er langsam, mit schweren Schwingen, über die Wüste zurück, aber selbst in seiner Trauer hungerte ihn, und am Rande eines Waldes stieß er auf ein junges Reh nieder, das im Grase lag und schlief.

Aber wie er die Fänge in die Beute schlug, schwirrte ein Pfeil aus den Büschen heraus und traf ihn in die rechte Schwinge, so daß er nur mit Mühe und taumelnd den Schutz des Waldes gewann und sich unter den Gräsern verbarg.

Die Jäger, als sie ihn nicht fanden, zogen halb scheltend, halb frohlockend davon, und er blieb allein, von Schmerzen und Durst gepeinigt, und sah die Sterne über der Heide steigen und sinken. »Immer ist einer da«, dachte er, »der mächtiger ist als wir, als Könige, Heilige und Adler, und alles vergeht und alles ist eitel, nur das Herz klopft immerzu und so unruhig wie zuvor.«

Da war er des Lebens müde und verbarg sein Haupt unter dem gesunden Flügel. Aber als einer der betauten Grashalme sich unmerklich bewegte, war er gleich wach und sah sich in der Runde um, um sein Leben teuer zu verkaufen. Und da stand die alte Frau im Sternenlicht neben ihm, zog ihm behutsam den Pfeil aus der Wunde und war immer noch so schön und still wie in dem Kerker des bösen Königs.

Da sagte der Adler leise: »Bist du gekommen, um mir zu helfen?«

Und wieder war ihre Stimme tief und still wie damals, als sie erwiderte: »Vielleicht. Und nun sage mir, was du möchtest.«

Und als sie so sprach, erhob sich plötzlich vor seinen Augen eine Dorfwiese, die er einmal als Kind vom Rücken seines Pferdes aus gesehen hatte. Ihr Gras war dürr und von vielen Füßen niedergetreten, aber alte Platanen mit silbergefleckten Stämmen breiteten ihre kühlen Schatten aus, und aus einem Brunnenrohr floß klares Wasser mit leisem Plätschern hernieder, und viele arme Kinder hatten sich bei den Händen gefaßt und tanzten nach einem alten Liede, das sie dazu sangen. Und auf einer Bank an der Friedhofsmauer saß ein alter Mann, der hatte die Hände über einem Stock gefaltet und sah ihnen schweigend zu.

Er erinnerte sich, wie er damals sein Pferd angehalten und seinen Begleitern Schweigen zugewinkt hatte, und wie ihm gleichzeitig bang und süß ums Herz geworden war, denn er hatte solche Spiele nicht gekannt, sondern nur Pracht und Reichtum und demütige Gefährten.

Da sagte er leise zu der Frau, daß er wohl gern noch einmal ein Kind sein möchte, aber ein armes und unbekanntes. Vielleicht, daß sein Herz dann ruhen könnte wie ein Stein auf dem Grunde.

Da sah die Frau ihn ernst und noch immer traurig an, legte ihre kühle Hand auf seine Wunde und sagte: »Du sollst es sein, und wenn du es müde bist, so rufe mich wieder.«

Und wie sie das gesagt hatte, verschwanden die Sterne und der Wald, das betaute Gras und der Schmerz in der Wunde, und er fand sich als ein armes Kind auf einem Lager von Laubstreu in einer Stallecke, und die Kühe klirrten leise mit ihren Ketten, und eine alte Frau stand vor ihm, stieß ihn mit einem Stab in die Seite und hieß ihn aufstehen, um das Vieh auszutreiben.

Und wie er sich den Schlaf aus den Augen wischte, sah er wie im Traum einen König auf einem goldenen Throne sitzen, und einen Heiligen vor seiner Höhle stehen und die Hand auf einen Aussätzigen legen, und einen jungen Adler über einem Eichenwald seine Kreise ziehen, und sah verwundert, daß er jung und klein war, mit keinem anderen Tagewerk vor sich, als mit den Kühen auf der Alm zu sein, und das Herz schlug ihm froh und leicht in der Brust, so daß er das Schelten des Weibes nicht hörte, sondern nur den Klang der Glocke, die der Leitkuh am Halse hing.

Und so lebte er nun einen Sommer lang zwischen den Lärchen und Föhren, die um seine Hütte standen, und sah die blauen Felshäupter in den Himmel ragen und die Adler darüber hängen mit ausgebreiteten Schwingen, und hörte die Murmeltiere pfeifen und den Föhn talabwärts brausen, und war am Abend, wenn er das Vieh versorgt hatte, so müde, daß er kaum sein Brot in die Milch brocken konnte, die die alte taube Sennin ihm zuschob, und wühlte sich glückselig in sein warmes Heulager und schlief ohne einen Traum, bis die Sonne ihn weckte.

Aber als die Herbstnebel kamen und die Berge verhüllten und sie das Vieh abwärts trieben, wurde es schwerer, den glückseligen Schlaf zu finden, denn er wurde von Arbeit zu Arbeit getrieben, mit Schelten und Schlägen, weil es der Frau nie schnell genug ging, und als der harte Frost kam, fror ihn bitterlich, und manchmal weinte er, daß eines ein gutes Wort zu ihm spreche und ihm tröstend über die Stirn fahre wie die Frau am Marmorbecken.

Aber wenn er sich in einer abgestohlenen Sonntagsstunde zu den Kindern der Bauern gesellte, beim Eislauf oder beim Schlittenfahren, höhnten sie ihn, nannten ihn ein Bettelkind und einen Hütebuben und stießen ihn zur Seite, so daß er weinend um sich schlug und in den Stall zu seinen Kühen flüchtete, wo er die Stirn an die warmen Körper legte und mit tausend Schmerzen an den Frühling dachte.

So ging ein Jahr nach dem anderen dahin, gute Sommer und böse Winter, Sonnenschein, Regen und Schnee. Alles war wie ein stiller, breiter Strom, der lautlos dahinzog, und nur die Häupter der Berge und die Herzen der Menschen blieben gleich fern und gleich hart.

Da erkannte der Knabe, daß die Tränen des Kindes um nichts sanfter waren als die der Großen und daß sein Herz um nichts stiller war als das des Königs, des Heiligen oder des Adlers. Denn im Sommer schlug es in Angst vor dem Winter, und im Winter klopfte es in Sehnsucht nach dem Frühling, und es war auch jetzt nicht still wie ein Stein auf dem Grund.

Und als er in den harten Winternächten in eine schwere Krankheit fiel, der Husten ihn quälte und niemand ihn pflegte oder ihm Mitleid bewies, außer der Kuh, die ihm am nächsten stand und ihm bisweilen die Hände leckte, da wurde er seines Lebens müde und verzagte am Frieden dieser Welt und legte die Hand über die Augen, um zu sterben.

Aber da wehte ihn in kühler Luftzug an, denn die Stalltür hatte sich geöffnet und geschlossen, und die alte Frau kniete im flackernden Licht der Laterne neben ihm und war immer noch so schön und still wie in dem Wald, wo das junge Reh im Grase gelegen hatte.

Da sagte der Knabe leise: »Bist du gekommen, um mir zu helfen?«

Und wieder war ihre Stimme tief und still wie damals, als sie erwiderte: »Vielleicht. Und nun sage mir, was du möchtest.«

Da schlug er die müden Augen auf, sah sie lange an und sagte dann: »Ich möchte, daß ich noch einmal an dem Marmorbecken sitzen könnte und zusehen, wie die goldene Kugel auf den Strahlen des Springbrunnens schwebt. Und dann möchte ich einschlafen an deiner Brust, daß ich es noch einmal warm und gut habe in meinem Leben.«

Da sah die Frau ihn zum erstenmal ohne Traurigkeit an, legte ihre kühlen Hände auf seine fieberheiße Stirn und sagte: »Du sollst dort sitzen, und wenn du es müde bist, so sollst du einschlafen, wie du es gewollt hast.«

Und nun wußte er nicht, ob es die Glocke der Leitkuh war, die so tief und tröstlich klang, oder die Stimme der Frau, die an seinem Ohre sprach.

Aber als er die Augen wieder aufschlug, saß er an dem Marmorbecken und hatte den Arm auf den Rand gestützt, und der Garten blühte wie ehemals, die Fische rührten leise ihre goldenen Flossen, und die schimmernde Kugel schwebte wie ein Traum auf den Wasserstrahlen. Und er selbst trug wieder sein Purpurgewand, und es war, als wäre Zeit und Leben nicht dahingegangen und alles wäre nur ein Traum gewesen. Nur daß seine Brust ihn schmerzte und die Frau schweigend neben ihm stand und mit ihren Fingern gedankenlos über die Krone glitt, die auf der Marmorbrüstung lag.

Da seufzte er tief auf und sagte leise: »Es war alles eitel, es war alles ein großer Umweg, und überall war Unrecht und Gewalt, Freude und Tränen, und überall war das ruhelose Herz. Und nirgends war der Stein auf dem Grund. Nirgends. Und nun möchte ich wohl einschlafen an deiner Brust und nichts anderes mehr sein als ein müdes Kind, so müde, so müde ,...«

Da barg sie seinen Kopf an ihrer Brust, und sie sah, daß sein Haar nun ganz weiß geworden war. Und als er die Augen schloß, sah sie, daß seine Lippen sich bewegten, und als sie sich tiefer zu ihm herabbeugte, hörte sie ihn flüstern: »Jetzt ,... jetzt«, und ein seliges Lächeln legte sich um seinen Mund.

Da blieb sie eine Weile ganz still, und dann drückte sie ihm behutsam die Augen zu, die schon gebrochen waren.

Und als die Kinder des Königs kamen und die Großen des Reiches, fanden sie ihn, wie er immer zu sitzen gepflegt hatte, das weiße Haupt in die Hand gestützt, die Augen geschlossen und ein kindliches Lächeln um die weißen Lippen.

Und er war so schön, daß sie den Atem anhielten und die Hände falteten, als hätten sie ein Wunder oder eine Erscheinung gesehen.

Die Frau aber sah keiner von ihnen.

* * *


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