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Es war einmal ein König, der hatte lange Jahre ein großes Reich regiert, hatte seine Feinde überwunden und seinen Freunden wohlgetan, hatte frohe und trübe Stunden gehabt und saß nun alt und weiß auf seinem Thron. Und wie er manchmal sein Leben bedachte, kam es ihm vor, als wäre das Frohe seines Lebens doch nur wie ein Tropfen am Becherrand gewesen, das Trübe aber wie ein voller Becher, so voll, daß er davon überfloß. Und er meinte, das müsse wohl so sein, fügte sich und dachte nur nach, ob er es seinen Kindern nicht leichter machen könnte, so daß das Frohe ihnen wie ein voller Becher wäre, das Trübe aber nur wie ein Tropfen am Becherrand.
Aber je mehr er darüber nachdachte, desto weniger wußte er, wie er es anfangen sollte. In seinen Gärten lag ein kleines Lusthaus, hoch über dem breiten Strom, und dorthin ging er nun oft für viele Tage und Nächte, entließ seine Begleiter und blieb ganz allein, betrachtete die Blumen und die Sterne und sann über den Lauf der Welt und den Schlag des menschlichen Herzens.
So kam es bald, daß seine Großen ihn für wunderlich hielten und daß sie sich um die Gunst seiner Söhne mühten statt um die seine. Denn sie dachten, daß er entweder bald sterben oder seine Krone niederlegen würde, um als ein Büßer oder Einsiedler sein Leben zu beschließen.
Der König aber, so oft er zu seinem Palast zurückkehrte, merkte sehr bald, wie hinter den demütigen Mienen seiner Großen ein falsches und ungetreues Herz schlug, und er erkannte mit Bitterkeit, daß im Antlitz eines Tieres mehr Wahrheit lag als in dem der Menschen. Ließ sich aber nichts merken, sondern meinte nur, daß es für seine Kinder der größte Segen sein würde, wenn sie die menschlichen Herzen durchschauen könnten, um so beim ersten Blick Schein von Wahrheit zu unterscheiden und für immer zu trennen.
Als er nun eines Abends wieder vor seinem Lusthaus über dem Strome saß, in trübe Gedanken versunken, sah er ein kleines Boot auf dem Wasser herabtreiben, das war anders gebaut, als es in seinem Reiche üblich war. In dem Boot saß eine Frau, die war in ein dunkles Tuch gehüllt, und obwohl sie kein Ruder in den Händen hatte, trieb das Boot, ohne sich zu drehen, gerade auf das Ufer zu.
Während der König sich noch verwunderte, stieg die Frau an das Ufer und die schmale Treppe zu dem Lusthaus hinauf. Die kleine Tür in der Mauer öffnete sich, obwohl sie immer verschlossen zu sein pflegte, und die Frau kam langsam zwischen den blühenden Rosen hindurch bis an die Schwelle des Hauses.
Sie verneigte sich, setzte sich neben den König auf die Bank, und dieser sah, daß sie ein ernstes, altes Gesicht hatte, aus dem die dunklen Augen ihn so gütig anblickten wie ehemals die Augen seiner Mutter.
»Wer bist du?« fragte der König, und es war ihm, als müßte er ganz leise zu der Frau sprechen.
»Ich komme zu denen, die schweren Herzens sind«, erwiderte die Frau.
»Und bin ich das?« fragte der König.
»Suchst du nicht nach der Wahrheit?« sagte die Frau. »Und jeder, der nach ihr sucht, wird schweren Herzens.«
»Aber das ist wohl eine alte Geschichte«, sagte der König, »und auch du wirst mir nicht helfen können.«
Da nahm die Frau aus ihrem dunklen Gewand drei Ringe heraus, die waren aus Gold und sahen einer aus wie der andere. Sie hielt sie in der flachen Hand, betrachtete sie sinnend und sagte dann: »Dieser, den du hier zur Linken siehst, ist der Ring der Wahrheit, und solange du ihn an deiner Hand trägst, wird dir nichts verborgen bleiben in einem menschlichen Herzen. Die Menschen werden zu dir sprechen wie sonst, aber neben ihrer Stimme wirst du ganz leise die Stimme ihrer Herzen hören, und das wird die Stimme der Wahrheit sein.
Dieser in der Mitte ist der Ring der Täuschung, und solange du ihn an deiner Hand trägst, wird dir alles gut und schön und liebreich scheinen, was die Menschen zu dir sagen. Du wirst ohne Argwohn und Leid sein, und niemals wird das Herz dir schwer werden.
Dieser aber zur Rechten ist der Ring der Liebe, und wenn du ihn an deiner Hand trägst, wirst du die Stimmen der Wahrheit wie die der Täuschung hören, aber dein Herz wird eine Brücke über sie schlagen, und Wahrheit und Lüge werden vor der Liebe vergehen und vor dem großen Erbarmen, mit dem du die Menschen ansehen wirst.
Nun wähle unter diesen dreien, aber prüfe dich wohl, ehe du deine Wahl triffst!«
Da sagte der König: »Solange habe ich unter der Falschheit der Menschen gelitten, daß ich keiner Zeit bedarf, um zu wählen. Und wenn du mir einen der Ringe geben willst, so gib mir den der Wahrheit, damit ich aufhöre, ein schweres Herz zu haben.«
Da sah die Frau ihn an, als sei es ihr nicht sehr recht, aber dann sagte sie nur: »Wie du es willst, so soll es gut sein.«
Und sie steckte ihm den Ring an den Mittelfinger seiner linken Hand. »Und solltest du der Wahrheit einmal müde werden«, fügte sie hinzu, »so sitze hier wieder um die Abendzeit und drehe den Ring dreimal an deiner Hand. Dann werde ich wieder zu dir kommen.«
Aber der König lächelte. »Wie sollte ein Mensch der Wahrheit müde werden«, sagte er, »der sein Leben lang nach ihr getrachtet hat? Da sei nur ohne Sorge. Und sei bedankt für deine große Gabe.«
Die Frau stand auf, grüßte ihn und stieg die Treppe wieder hinunter. Und als sie in ihr Boot gestiegen war, sah der König, daß es sich ohne einen Ruderschlag stromauf bewegte, dorthin, woher es gekommen war.
Er sah ihm nach, aber seine Gedanken waren bei dem Ring, den er trug, und bald stand er auf, um in den Palast zurückzukehren. Sein Herz verlangte darnach, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu erfahren, aber sein Fuß stockte doch, als er das kleine Haus verließ, und sein Herz schlug ihm mit einem Male bang, als warte eine Gefahr auf ihn oder gar der bittere Tod.
Zwischen den Rosenbeeten traf er den alten Gärtner, der schon in seines Vaters Diensten gestanden hatte, und in Gedanken verloren erwiderte er seinen demütigen Gruß und fragte ihn, ob es ihm immer noch Freude mache, trotz seinem Alter die jungen Stämme zu beschneiden und zu pflegen.
Der Gärtner hielt die Mütze immer noch in der Hand und erwiderte, daß unter einem guten Herrn die Arbeit keine Last sei.
Und während der König halb abwesend diese Worte hörte, vernahm er eine leise Stimme, die nicht aus dem Munde, sondern aus der Brust des Alten zu kommen schien, und diese Stimme war böse und vergrämt und sagte: »Daß die Pest euch alle befallen möge, Herren und Herrenkinder, die ihr die Stunden mit Müßiggang verbringt und auf unsren Schweiß tretet wie auf Gras!«
Da erschrak der König bis ins Herz hinein, und es war ihm, als erlösche die Sonne über dem schönen Garten. Aber er sagte nichts, starrte nur auf die Mütze in des Gärtners Hand und ging endlich mit müden Füßen weiter.
Vor seinem Palast blieb er stehen und dachte lange nach, ob er dem Gärtner jemals ein Leid zugefügt hätte. Aber er erinnerte sich nur an alles Gute, das er ihm erwiesen hatte, und daß auch sein Vater gut zu ihm gewesen war und ihm ein kleines Haus geschenkt hatte für Lebenszeit.
In der Halle sah er die Höflinge stehen und auf ihn warten, aber er fürchtete sich, sie anzusprechen, ging gleich in sein Schlafgemach und beschied nur seinen Kanzler und seine drei Söhne zu sich, weil er sich erinnerte, daß eine Gesandtschaft aus einem fernen Reiche eine Botschaft gebracht hatte und auf Antwort wartete.
Er saß am offenen Fenster, als die Gerufenen eintraten, nickte ihnen zu und fragte den Kanzler, ob eine freundliche Antwort an die Gesandten dem Wohle des Reiches dienen werde.
Der Kanzler verneigte sich, und der König sah, daß sein Haar nun schon ganz weiß war. Freundlichkeit, sagte der Kanzler, verwöhne die Machtgierigen, und es sei besser, nein zu sagen, damit sie wüßten, daß das Reich stark genug sei, auf sich allein zu bestehen.
Der König hörte der ehrerbietigen Stimme zu, und wieder vernahm er eine zarte Stimme, die leise aus der Brust des Kanzlers zu kommen schien und die sagte: »Wenn wir nein sagen, werden sie uns mit Krieg überziehen. Deine Söhne werden Ruhm gewinnen, und dann wird es an der Zeit sein, dich Narren und Träumer vom Throne zu stoßen und ein neues Regiment zu beginnen. Und alle Fäden werden in meiner Hand sein, daß ich sie schürze und löse, wie es mir gefällt.«
Da erschrak der König noch tiefer als vorher, blickte lange aus dem Fenster in den sich nun verdunkelnden Garten und wandte sich dann zu seinem ältesten Sohn. »Was ist deine Meinung, lieber Sohn?« fragte er.
Der Königssohn erwiderte, daß ihm wegen seiner Jugend eine Meinung noch nicht zukomme, aber daß niemand sich der Weisheit und Treue des Kanzlers verschließen könne.
Und wieder erklang die leise Stimme, mit Spott und Hochmut erfüllt: »Du alter Mann tätest besser daran, in deinem Lusthaus zu bleiben und die Sterne zu betrachten. Junge Hände verlangen nach Krone und Schwert, und deine alten werden mich nicht daran hindern.«
Und wieder blickte der König lange in den Garten und dachte: »Ist es so, daß man sein schweres Herz verliert?« Und er fragte seinen zweiten Sohn.
»Der Herr Vater tut mir zuviel Ehre an«, erwiderte dieser. »Ich bin ein Knabe und will es noch für eine Weile bleiben.«
Aber die leise Stimme frohlockte und sprach leise: »Ein Knabe, aber er weiß, daß Jugend ein scharfes Schwert ist. Und fallen wird, wer sich diesem Schwert entgegenstellt! Und sei es auch ein weißes Haupt!«
Da sah der König seinen jüngsten Sohn lange an und fand, daß er mit traurigen Augen seinen Blick erwiderte. Aber er konnte sich kein Herz fassen, ihn zu fragen.
Die Gesandten sollen eine gute und freundliche Antwort bekommen, entschied er und setzte leise hinzu: »Junge Hände sollten nach dem Spielzeug verlangen und nicht nach dem Schwert.«
Da waren die beiden ältesten Söhne und der Kanzler verwirrt, sahen einander an und verließen langsam das Gemach.
Der jüngste Sohn aber kniete bei seinem Vater nieder, küßte seine Hand und fragte: »Weshalb hast du mich nicht gefragt, lieber Vater?«
»Ich fürchtete mich«, erwiderte der König, strich ihm über das Haar und entließ ihn dann.
Der König blickte noch eine Weile in den dunklen Garten, und sein Herz war schwerer, als er sich je erinnern konnte. Dann rief er seinen Kämmerer und ließ sich auskleiden, und als dieser vor dem Lager stand und fragte, ob er noch Befehle für ihn habe, sah ihn der König prüfend an und sagte dann: »Du bist jetzt dreißig Jahre in meinen Diensten, und in Krieg und Frieden bist du an meiner Seite gewesen. Wenn nun die Zeit kommt, in der du nicht mein Nachtlager, sondern mein Totenlager bereiten wirst, wie wird es dir ums Herz sein?«
Da neigte sich der Kämmerer tief und erwiderte: »Dann will ich, Herr König, bitten, daß auch mir das letzte Lager bereitet werde. Denn wie es im Leben mit uns gewesen ist, so soll es auch im Tode mit uns sein.«
Aber als der König lauschte, hörte er die zweite Stimme sprechen, und sie sprach: »Ich bin ein alter Mann, und ich bin es müde geworden, jeden Abend durch dreißig lange Jahre deine Kleider zusammenzufalten, gleichviel ob es mir leicht oder schwer ums Herz war. Ich grolle dir nicht, aber wenn du tot bist, will ich ein kleines Haus erwerben und mich jedes Abends erfreuen, an dem ich nichts als meine eigenen Kleider zusammenzulegen brauche.«
Da winkte ihm der König mit der Hand, und der Kämmerer ging rückwärts aus dem Gemach, wie die Sitte es ihm vorschrieb.
Der König aber lag schlaflos, und er dachte ohne Freude an den kommenden Morgen und an alle, die ihm noch folgen würden.
So vergingen ein paar Monate, und dann hatte der König in seinem ganzen Reiche die leise Stimme der Wahrheit vernommen. Er hatte bei hoch und niedrig angefragt, bei Kriegern und Priestern, bei Bauern und Hirten, und nur bei Kindern war es ihm geschehen, daß die leise Stimme dasselbe sagte wie die laute. Bei allen anderen aber war die Frucht bitter, die man ihm reichte, und er fühlte, wie sein Herz düster und böse wurde, wie es nie gewesen war.
Da erschrak er vor sich selbst und erkannte, daß er etwas besaß, was keinem Menschen zukam und daß wohl nur den Göttern gegeben war, die zweite Stimme ohne Groll oder Gram zu hören.
Aber bevor er beschloß, die Frau zu rufen und ihr den Ring zurückzugeben, wollte er auch die letzte Bitterkeit noch auf sich nehmen, und als er seinen jüngsten Sohn in den Gärten antraf, wie er mit seinen Hunden spielte, sagte er, und sein Herz tat ihm weh, als er die Lippen öffnete: »Meinst du wohl, mein Sohn, daß ich ein guter König gewesen bin?«
Da ergriff der Knabe seine Hand, küßte sie mit überströmenden Augen und sagte: »Niemals war ein besserer Herr über diesem Volke, Herr Vater, als du es gewesen bist, und niemals wird ein besserer sein.«
Und die zweite Stimme sagte leise und schluchzend: »Du armer, lieber Vater, weißt du denn nicht, daß alle böse und falsch sind und auf deinen Tod warten und daß ich mein junges Leben hingeben möchte, damit du wieder einmal von Herzen froh bist?«
Da stand der König lange Zeit da, die Hände auf den jungen Scheitel gelegt, und eine Glückseligkeit ohnegleichen erfüllte sein dunkles Herz. »So war es doch nicht umsonst, daß ich den Ring nahm«, dachte er, »und ich will der Frau auf meinen Knien danken, wenn ich ihn zurückgebe.«
Und er zog den Knaben an sein Herz, küßte ihn und sagte: »Einmal wirst du erfahren, daß das größte Glück meiner siebzig Jahre mir von dir gekommen ist und von dir allein.«
Dann ging er langsam weiter, blieb eine Weile bei den Gärtnern stehen, fragte sie aber nichts, und saß endlich auf der Bank vor dem Lusthaus, wo er weit über den großen Strom in sein Land blicken konnte. Und als er dreimal den Ring an seiner Hand gedreht hatte, sah er das Boot stromab kommen, und es war ihm, als falle ihm ein schwerer Stein von der Seele.
»Ich danke dir«, sagte er, als die Frau neben ihm saß. »Trotz allem danke ich dir, denn heute hast du mich sehr glücklich gemacht. Aber nimm nun den Ring wieder zurück, den du mir gegeben hast, denn ich bin der Wahrheit schneller müde geworden, als ich gedacht hatte, und mein Herz ist mir nicht leichter geworden, seit ich ihn trage.«
Da nickte die Frau, nahm den Ring und sagte: »So mag es wohl mit vielem sein, das ein Menschenherz mit Leidenschaft ersehnt. Wähle nun unter diesen beiden.«
Da griff der König nach dem Ring der Täuschung und sagte: »Einmal versprachst du mir, daß mir alles gut und schön und liebreich scheinen werde, sobald ich diesen Ring trage, und mir ist das Herz so schwer geworden, daß ich nichts anderes will als ohne Argwohn und Leid sein.«
Da sah die Frau ihn an, als sei es ihr nicht sehr recht, aber dann sagte sie nur: »Wie du es willst, so soll es gut sein.«
Und sie streifte ihm den Ring an die Hand und sagte: »Solltest du aber einmal der Täuschung und des leichten Herzens müde werden, so weißt du, was du zu tun hast.«
Und damit ging sie wieder die Treppe hinunter, stieg in das Boot und fuhr davon.
Der König aber konnte es kaum erwarten, seines Lebens wieder froh zu werden, ging durch den Garten zurück und blieb bei den jungen Gärtnern stehen, die neue Pflanzen eingruben und die alten in irdene Töpfe setzten. Sie entblößten ihr Haupt, als sie ihn kommen sahen, und er fragte sie, ob sie Freude hätten an ihrer Arbeit und in seinem Dienst.
Da lächelten sie und antworteten wie aus einem Munde, daß sie sich nichts Schöneres auf dieser Erde wünschten als in seinen Diensten zu stehen und vom Morgen bis zum Abend dafür zu sorgen, daß seine Augen sich an der Schönheit erfreuen könnten.
Aber wie dem König das Herz schneller schlug bei dieser Antwort, hörte er eine ferne Stimme sprechen: »Gib acht! Gib acht!« Und er wußte nicht, woher die Stimme kam.
Da zauderte er weiterzugehen, und einen Herzschlag lang stand er wie unter einem Schatten, den eine schnell ziehende Wolke über die Felder wirft. »Das hat sie mir verschwiegen«, dachte er noch, »daß ich wieder eine Stimme hören würde«, aber dann schob er alles mit einer Handbewegung zur Seite und ging fröhlich die Stufen zu seinem Palast hinauf.
Und nun war die Welt ihm ganz und gar verändert, und die Sonne schien ihm vom Morgen bis zum Abend. Jedes Gesicht, in das er blickte, schien ihm gut und liebreich, alle Stimmen waren froh und voller Ergebenheit, und der Kämmerer legte mit besonderer Sorgfalt die königlichen Kleider an jedem Abend zusammen.
Aber bei jeder Antwort, die er empfing, vernahm er die gefürchtete Stimme, die »Gib acht! Gib acht!« sagte, und es dauerte nicht lange, da begann er schweigend durch seine Säle und Gärten zu gehen und den Menschen auszuweichen, die er von ferne sah. Noch immer war er ohne Argwohn und Leid, und jeden Morgen stand er fröhlich von seinem Lager auf, aber immer war es ihm, als hätte er ein paar Becher schweren Weines getrunken und als werde ein grauer Morgen kommen mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge.
Nach ein paar Monaten erst bemerkte er, daß sein jüngster Sohn traurig einherging, nicht mehr mit seinen Hunden spielte und seine Pferde im Stall stehen ließ. Da folgte er ihm nun oft mit den Augen, und eines Abends trat er zu ihm, auf den Gängen des Gartens, und sagte: »Mein lieber Sohn, wenn etwas dich bedrückt, so sage es mir, damit ich dir helfe, denn mein Herz ist mir leicht und nur gewillt, Freude zu machen.«
Da blickte der Knabe zuerst bekümmert vor sich nieder, aber dann sah er den König an und antwortete: »Früher war dein Auge scharf, und du sahst in den Herzen der Menschen und warst traurig. Nun ist dein Auge blind, und du siehst nur bis zu den Lippen der Menschen und bist fröhlich. Und nun weiß ich nicht, ob es besser ist, traurig zu sein in der Wahrheit oder fröhlich zu sein in der Lüge.«
Da erschrak der König und lauschte noch einmal den Worten seines Sohnes nach, und er erkannte, daß zum erstenmal seit vielen Monaten die Stimme schwieg, die mit der leisen Warnung zu ihm gekommen war.
»So meinst du«, fragte er nach einer Weile, »daß es nicht allein darauf ankommt, ein fröhliches Herz zu haben auf dieser Welt?«
»Ich denke mir«, erwidert der Knabe, »daß ein gutes Herz mehr ist als ein fröhliches und daß ich nicht gut daran tue, mir die Ohren mit Wachs zu verschließen, nur um das Weinen von Kindern nicht zu hören. Und wer fröhlich ist mit geschlossenen Ohren oder mit geschlossenen Augen, der hat nicht die rechte Fröhlichkeit und ist wie ein Mann, der in den Keller geht, wenn oben im Hause getötet wird.«
Da dachte der König lange nach, und es war ihm, als fiele es wie Schuppen von seinen Augen, und endlich nahm er den Knaben bei den Händen, küßte ihn und sagte: »Wohl dem Vater, der ein Kind hat, wie du es bist.«
Und damit ging er, ohne sich zu verweilen, nach seinem Lusthaus, drehte den Ring an seiner Hand und wartete auf die Frau.
»Ich danke dir«, sagte er, als sie gekommen war und neben ihm saß, »aber ich bin es nun müde, diesen Ring zu tragen. Und wenn du mir den letzten geben willst, so will ich es auch mit ihm versuchen, und du mußt mir nur sagen, was für eine Bewandtnis es mit ihm hat und was für eine Stimme ich hören werde, sobald ich ihn trage.«
Da lächelte die Frau, steckte ihm den Ring an den Finger und sagte: »Mit diesem Ring hat es keine andere Bewandtnis, als daß du mit ihm alle Stimmen hören wirst, die du bisher gehört hast. Aber es werden nur Stimmen sein, und du wirst nicht dein Herz darauf gründen. Du wirst Wahrheit und Lüge erkennen, aber die Liebe wird sie beide umfangen, denn sie ist mehr als jede von ihnen. Und nun gehab' dich wohl, denn du wirst mich nun nicht mehr rufen, solange dein Herz schlägt.«
Und sie legte ihre Hand leise auf seine beiden Hände und war verschwunden, ehe er es merkte.
Da ging der König langsam durch den Garten nach seinem Palast, und als er in der Ferne den alten Gärtner sah, machte er einen Umweg, trat zu ihm und fragte freundlich, wie es ihm gehe.
Der alte Mann bedankte sich und meinte, daß er wohl immer älter werde, wie der Herr König auch, aber daß es schon noch für ein paar Jahre ausreichen werde. Und während der König von ferne die Stimme der Wahrheit und die der Täuschung vernahm, war es ihm plötzlich, als hätte er andere Augen bekommen, denn er sah nun weder ein böses noch ein freundliches Gesicht. Er sah nur einen alten Mann, von Arbeit und Sorgen gebeugt, der es auch einmal gut haben wollte; der Jahrzehnt auf Jahrzehnt sich über sein Tagwerk gebückt und darüber die Seligkeit der Kinderzeit vergessen hatte; den der Tod holen würde, ohne ihm einen Feierabend zu vergönnen als eben den letzten unter der Erde. Und eine große, schmerzliche Liebe zu diesem Mann und Tausenden seinesgleichen überströmte plötzlich sein Herz, so daß er dem Gärtner die Hand auf die Schulter legte und sagte: »Mein Lieber, glaube mir nur, daß wir alle unsere Last tragen, und vielleicht ist die desjenigen, der herrscht, schwerer als dessen, der dient. Ruhe dich nun aus und laß mich für dich und die Deinigen sorgen.«
Und bevor der alte Mann ihm Dank sagen konnte, war er schon weitergegangen, und der Garten und sein Palast und die ganze Welt schienen ihm nun in wunderbares, rötliches Abendlicht getaucht. Die Vögel sangen süßer als sonst, und die Rosen dufteten zärtlicher, und als der Kanzler die Treppen herunter ihm entgegenkam, schien ihm sein weißes Haar von demselben Licht überflutet und verschönt, so daß er gar nicht auf seine Worte hörte, sondern ihn bei der Hand nahm und sagte: »Schließe nun Frieden mit deinem alten Herzen und höre auf, an die Macht zu denken. Denn wenn sie uns die Hände auf der letzten Decke zusammenlegen, was wird dann aus unserer Macht geworden sein? Höre, wie süß die Vögel singen, und sieh, wie die Sonne untergeht. So viele Herzen sind warm geworden beim Lied der Vögel und beim Schein der Sonne. Macht aber wärmt nicht, sie beugt nur, und sie beugt Herren wie Knechte.«
Und ehe der verwirrte Kanzler etwas erwidern konnte, war der König schon die Stufen hinaufgeschritten.
In seinem Schlafgemach standen die Versammelten heute schweigend und bestürzt, und auch der König sah sie lange Zeit nur schweigend an. Aber seine Augen waren so gütig, wie keiner der Versammelten sie noch an einem Menschen gesehen hatte, und sie wagten kaum zu atmen vor großer Scheu.
»Schlaft nun ruhig, ihr meine Söhne und ihr meine Großen«, sagte der König endlich. »Und bevor ihr schlafen geht, betet, daß keine großen Gedanken euch heimsuchen.«
Da gingen sie alle schweigend hinaus.
Und von nun an geschah es täglich mehr, daß die Liebe des Königs wie ein Wasser war, das alle Durstigen herbeizog. Niemand sah tiefer in die Herzen als er, und niemand sah mehr an Bosheit, Neid und Begierde. Aber wenn er zu den Bösesten und Begierigsten sprach, erkannten diese, daß der König alles sah, nicht nur das Böse, sondern auch den guten Grund, aus dem es gewachsen war, und für eine Weile war auch das böseste Herz ohne Groll und Bitterkeit. Er strafte nie härter als mit einem Wort oder einem traurigen Blick, aber er lohnte auch nie schöner als mit einer Berührung seiner Hand oder einem Neigen seines Hauptes. Sie nannten ihn nicht nur den Allweisen, sondern auch den Allwissenden, und so vergaßen sie der Lüge als einer nutzlosen Mühe, und ihre Herzen öffneten sich vor ihm, wie die Blume vor der Sonne sich öffnet.
So herrschte er noch lange Jahre, ein stiller König, der niemals ganz fröhlich und niemals ganz traurig war, und als er fühlte, daß es zum Sterben ging, versammelte er seine Söhne und seine Großen, erzählte ihnen die Geschichte der drei Ringe und streifte den Ring der Liebe seinem jüngsten Sohn an die Hand. »Du bedarfst seiner nicht«, sagte er, »denn du besitzest schon, was er verleiht. Aber wie eine Weide für die Kreatur nie grün genug sein kann, so kann eines Königs Herz für sein Volk nie gut genug sein. So trage ihn in Liebe, und du wirst fühlen, wie er dich in Liebe trägt. Wahrheit ist gut, und Täuschung ist gut, aber das Beste ist die Brücke, die ein reines Herz über sie schlägt.«
Und darnach wollte er allein bleiben, saß am Fenster vor seinen dunklen Gärten die ganze Nacht, und am Morgen war er tot. Und das Volk begrub ihn wie einen Heiligen, und wenn ein Kind oder ein Erwachsener eine Lüge sprach oder Böses wollte, so hieß es: »Still, der König sieht zu!«
Und dann ging der Angeredete leise zur Seite, und es war ihm, als gingen die alten, müden Füße des toten Königs solange neben ihm, bis das Herz wieder gut geworden war.
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