Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Mutterherz

Vor langer, langer Zeit lebten an einem großen Strom ein Mann und eine Frau, die waren sehr arm. Der Mann war ein Flößer, und wenn die Holzknechte die großen Baumstämme bis vor seine kleine, windschiefe Hütte gebracht hatten, band er sie mit Weidenbändern zusammen, baute ein Schilfdach auf dem hintersten Floß, nahm einen Kochtopf und ein schwarzes Brot mit sich und ließ das Floß in den Strom treiben.

Er nahm niemals Abschied von seiner Frau, denn die Armut und sein schweres Handwerk hatten seinen Mund stumm und sein Herz böse gemacht, und er dachte bei Tag und Nacht an nichts anderes, als wie er schnell und für immer reich werden könnte. Und sollte es auch einem anderen Menschen das Leben kosten.

Zweimal im Jahr steuerte er so sein langes und schweres Floß den Strom hinunter bis an das Meer, wo die Kaufleute des Königs ihm seinen Lohn auszahlten. Dann band er die wenigen Taler, die er erhielt, in einen ledernen Beutel, verwahrte ihn auf der Brust und wanderte stromauf den langen Weg zurück. Er kehrte niemals in einer Herberge ein, sprach mit keinem der ihm Begegnenden ein Wort und sah nur immer vom frühen Morgen bis zum späten Abend rechts und links des Weges, ob niemand einen Beutel mit Gold verloren hätte oder ob ein Unterirdischer vor seiner Höhle säße, dem er den bewachten Schatz rauben könnte.

Kam er dann endlich zu Hause an, so achtete er nicht der Willkommensworte seiner Frau, sondern saß finster und gebeugt am Herdfeuer, starrte in die Torfglut und erblickte darin nichts als Haufen Goldes, die langsam auseinanderfielen und zu glühenden Strömen wurden, in allen Farben schimmernd wie ein abendlicher Regenbogen.

In den ersten Jahren hatte die Frau gelacht und gescherzt, wenn sie den Mann so hatte dasitzen sehen, und ihn an seinem langen dunklen Bart vom Feuer fortzuziehen versucht. Aber dann war sie stiller und stiller geworden, wie ein Weidenbusch im Nebel, und nun, wenn ihr Mann fort war, saß sie oft auf der Schwelle der Hütte, den Kopf in beide Hände gestützt, und weinte leise vor sich hin.

Tag und Nacht wünschte sie sich nichts anderes als ein Kind. Aber sie blieb unfruchtbar.

Da sah sie an einem kalten Wintertag, als der Rauhreif über allen Bäumen hing, ein Rotkehlchen in den Schlehen ihres kleinen Gartens sitzen, das mit seinen klugen Augen immer nach dem kleinen Fenster der Hütte blickte. Und da sie barmherzig war gegen alle Kreatur, nahm sie von dem Rest der Buchweizengrütze, die sie besaß, eine Handvoll der Körner, öffnete das Fenster und streute die Körner auf das Fensterbrett.

Dann trat sie leise zurück, lehnte sich an den Herd und sah zu, wie der kleine Vogel langsam und sorgfältig sein Futter aufpickte. Aber als das letzte Korn verschwunden war, flog das Rotkehlchen nicht davon, sondern es kam durch das geöffnete Fenster in die Hütte, setzte sich auf die rechte Schulter der Frau und drängte den kleinen Körper so dicht an ihren Hals, daß sie den Schlag des kleinen Herzens an ihrer Haut zu verspüren meinte.

Sie hielt ganz still. Eine tiefe Seligkeit begann sie zu durchströmen, und sie fühlte, ohne es erklären zu können, daß sie gesegnet war.

Dann flog der Vogel mit einem leisen Zwitschern davon, und sie sah ihm nach, wie er über den Garten zum Walde flog und wie der Rauhreif hinter den kleinen Flügeln blitzend zur Erde sank.

Der Vogel kam nie mehr wieder, aber im nächsten Herbst gebar die Frau einen schönen Knaben, und wenn sie allein war und ihn in ihren Armen wiegte, sah sie lange in seine dunkelbraunen Augen, küßte ihn und flüsterte zärtlich: »Mein Rotkehlchen ,...«

Der Knabe war ein schönes und stilles Kind und folgte seiner Mutter auf Schritt und Tritt. Aber als er größer geworden war, nahm der Vater ihn eines Tages bei der Hand, zog ihn zum Wasser herunter und wies ihn an, ihm bei seinem Tagewerk zu helfen. Er mußte die schweren, glatten Baumstämme mit Weidenruten aneinanderbinden, mußte Schilfmatten flechten und am Morgen und Abend mit einer Angel am Ufer sitzen, um ein Gericht Fische zu fangen. Und obwohl die Arbeit an den Flößen schwer war, im Morgennebel und im kalten Wasser, und obwohl er zu Anfang oft von den glatten Stämmen kopfüber in den Strom stürzte, so ertrug er dies doch leichter, als daß er die kühlen, silberglänzenden Fische in der Hand hielt und den scharfen Haken aus ihren blutenden Kiemen zog. Und oft ließ er die gefangene Beute heimlich wieder aus der Hand und sah ihr glücklich nach, wie sie gleich einem Silberstreifen durch das dunkle Wasser schoß und in der geheimnisvollen Tiefe verschwand.

Der Vater schlug ihn, wenn der kleine Weidenkorb nicht bis zum Rande gefüllt war, aber er ertrug es ohne einen Laut, und nachher verbarg er sich für eine Weile bei der Mutter, den Kopf an ihre Brust gelegt, und lauschte ihrem Herzschlag, der sanft und unermüdlich an sein Ohr schlug wie der Kuckucksruf, der im Frühsommer über den großen Wäldern stand.

Als er dann älter geworden war, nahm der Vater ihn auf seine Floßfahrten mit, nicht weil er Freude an ihm hatte, sondern weil der Knabe ihm eine Hilfe war und jemand, den er auf bequeme Weise schelten und schlagen konnte, wenn das böse Herz ihn dazu trieb.

Und obwohl es für seine jungen Glieder schwer war, das ungefüge Steuer des langen Floßes zu regieren oder mit einer langen Stange die Stämme von den Sandbänken oder dem Ufer fernzuhalten, so vergaß er doch alle Mühsal über den warmen, lautlosen Nächten, wenn das kleine Feuer zu seinen Füßen brannte, der Vater in der Schilfhütte schlief und die silbernen Sterne hoch über ihm mitzogen und ihr Spiegelbild zu seinen Füßen über der Tiefe schwamm.

Kehrten sie dann den langen Weg stromauf zurück, so ging er hinter dem Vater her, oft so weit, daß er ihn aus den Augen verlor, sammelte Beeren in den dunklen Wäldern, half einer alten Frau ihr Reisigbündel tragen und fand sich erst wieder am Abend ein, wenn sie in einem Heuschober übernachteten oder auch nur unter den Büschen am staubigen Wegesrand.

Die Mutter aber grämte sich, solange er fort war, und trug Sorge, daß ihm ein Unglück widerfahren könnte oder daß Zauberer und Hexen ihn vom Wege locken und verderben könnten. Und jeden Abend betete sie am Ufer des Stromes zu den Unterirdischen, daß ihm kein Leid widerfahre.

So ging es Jahr für Jahr, bis der Knabe ein Jüngling geworden war, mit braunem Gesicht und blonden Haaren, und die Menschen in der Hafenstadt und an den Ufern des Stromes stehenblieben und ihm nachsahen, so schön und freundlich war er anzublicken neben seinem düsteren Vater.

Und eines Tages, als dieser wegen eines kleinen Vergehens wieder die Hand gegen den Knaben erhob, sagte dieser mit bescheidener und fester Stimme, daß er nun zu alt dafür sei, daß er nun ein Mann werden wolle und der Herr Vater solches fortan unterlassen möge.

Zuerst starrte der Vater ihn sprachlos an, und die Hand blieb ihm in der Luft, wie er sie erhoben hatte. Aber dann lachte er höhnisch auf und meinte, sie wollten nun bald sehen, wie es mit der Mannheit stünde. Doch schlug er ihn von da ab nicht mehr.

Ein paar Tage später aber, als des Königs Leute den Lohn ausgezahlt hatten, reichte der Flößer seinem Sohn den dunklen, abgeschabten Lederbeutel mit den Talern und sprach: »Da du nun ein Mann sein willst, so bewahre dieses Geld an deiner Brust, bis wir zu Hause sind. Aber hüte dich wohl, es zu verlieren, wenn dein Leben dir lieb ist!«

Und darauf wanderten sie den Strom hinauf wie sonst.

Wohl tausendmal am Tag tastete der Knabe mit seiner Hand nach dem Beutel mit den Talern, obwohl bei jedem Schritt das leise Klingen der Münzen ihn versicherte, daß er den Schatz noch besitze.

Einmal aber, als sie nicht mehr fern von ihrer Hütte waren, vernahm der Knabe in dem Fichtengehölz neben der Straße den ängstlichen Ruf eines kleinen Vogels, so jammervoll, als befinde er sich in Todesnot. Und als er die Büsche eilends durchbrach, erblickte er eine Elster, die ein Rotkehlchen in den Krallen hielt und mit dem glänzenden Schnabel ausholte, um es zu töten.

Der Knabe hatte nichts in den Händen als seinen selbstgeschnittenen Weidenstock. Den warf er nach dem Räuber, traf ihn aber nicht, und so lief er hinter dem schimmernden Vogel her, der immer noch seine Beute an sich geklammert hielt, durch dick und dünn, über Wurzeln und vermoderte Baumstümpfe, bis er im dunklen Moos einen Stein liegen sah. Den hob er im Laufen auf und schleuderte ihn so gut, daß die Elster mit einem heiseren Weheruf zu Boden stürzte, wo sie mit ausgebreiteten Flügeln liegen blieb.

Als er sie aufhob, war sie schon tot, und unter ihren glänzenden Federn schlüpfte das Rotkehlchen davon, hob sich auf einen niedrigen Fichtenzweig und begann ein leises fröhliches Lied zu zwitschern, wobei es seinen Retter mit den klugen dunklen Augen anblickte, als ob es ihm gern etwas gesagt hätte.

Dieser aber, als er sich zu der toten Elster niedergebeugt hatte, war sich des schrecklichen Verlustes gleich bewußt geworden, als er den Druck des Beutels an seiner Brust vermißte und das leise silberne Klingen der schweren Münzen. Zuerst stand er eine Weile so regungslos wie die alten Bäume, die ihn rings umgaben. Dann schleuderte er die Elster weit von sich, beugte sich tief über das Moos und lief den Weg zurück, den er gekommen war. Aber schon nach wenigen Schritten sah ein Gebüsch ihm so aus wie das andere, ein Baumstumpf so vertraut wie der andere, und als er endlich die Landstraße wieder erreichte, schweißbedeckt und mit zerrissenem Gewand, war die Stelle ihm fremd, nicht diejenige, von der er den Ruf des Rotkehlchens gehört hatte, und da wußte er, daß er das Verlorene niemals wiederfinden würde, es sei denn durch Zufall oder mit unbekannter Zauberkraft.

Während er noch so dastand und zum erstenmal sein mitleidiges Herz zu verwünschen suchte, trat der Vater aus den Büschen am Wegrand, wo er gerastet hatte, sah ihn stehen und griff ihm sofort in sein Gewand, wo er den Lederbeutel verwahrt hatte. Er schlug ihm hart ins Gesicht und schüttelte ihn mit beiden Fäusten. »Talerdieb!« schrie er, »Talerdieb! So also sieht deine erste Mannestat aus!« Und er schwor, ihn totzuschlagen, wenn er ohne das Geld nach Hause komme, und ihn den Krebsen zur Speise vorzuwerfen.

Lange Zeit saß der Knabe auf einem Baumstumpf neben der Straße und weinte bitterlich. Nicht um die Taler, sondern um seine Mutter, die nun weinend am Herde stehen und Herzeleid um ihn tragen würde.

Da fühlte er plötzlich etwas Warmes und Weiches auf seiner Schulter, dicht an seinem Halse, und hörte das Rotkehlchen sprechen: »Weine nicht mehr! Zwar bin ich nicht klug genug, um dir das Verlorene zu finden, aber ich will dich zur Eule führen. Sie ist der klügste Vogel im ganzen Wald, und wenn dir jemand helfen kann, so ist sie es.«

Und damit hob es sich von seiner Schulter auf und flatterte zum nächsten Haselnußast, von dem es tröstend auf ihn niederblickte.

Und obwohl der Knabe noch niemals einen Vogel mit menschlicher Stimme hatte sprechen hören, so schien ihm jetzt in seiner Not nichts Wunderbares daran, und er erhob sich mit neuer Hoffnung und folgte seinem kleinen Führer.

Aber mitten im Walde blieb er doch einmal stehen, weil ihm eine Frage einfiel. »Weshalb«, sagte er, »sprichst du zu mir wie ein Mensch und willst mir helfen?«

»Du hast mir das Leben gerettet«, erwiderte der Vogel, »und den Wald von Bösem befreit. Aber es ist nicht das allein, sondern daß du mir lieb bist wie ein eigenes Kind.«

Da lachte der Knabe zum erstenmal, weil er groß und stark war und nun das Kind eines winzigen Vogels sein sollte.

Aber das Rotkehlchen verwies es ihm. Weil es in der Liebe nichts Kleines und Großes gebe; und wenn es ihm nicht um seinetwillen helfe, so doch um seiner Mutter willen, die nun Leid trage um ihn wie um einen Toten.

Aber als der Knabe erfahren wollte, was es von seiner Mutter wisse, schwieg es und flog wieder langsam voran, ganz tief in den Wald hinein, wo die uralten hohlen Eichen standen und wo nur das Klopfen der Spechte zu vernehmen war und hin und wieder der rote Schopf eines Schwarzspechtes um einen grauen Eichenstamm lugte.

Endlich hielten sie vor einer Eiche an, die war wohl schon tausend Jahre alt. Ihr Stamm, den viele Männer nicht hätten umfassen können, war gespalten, und eine dunkle Höhlung stieg in den Baum hinauf, von Moder erfüllt, und an ihrem Grunde lagen viele kleine Knochen, weiß und glänzend, wie ein Friedhof von Mäusen und kleinen Vögeln. Der Abendwind zog schauernd durch den dämmernden Wald, und der Knabe würde sich gefürchtet haben, wenn das Rotkehlchen nicht auf einem Eichenast über ihm sein stilles, zutrauliches Lied gesungen hätte.

Sie mußten warten, bis die Dämmerung noch tiefer geworden war, da die Eulen das Tageslicht scheuen, aber dann regte es sich doch einmal in einer Höhlung des Stammes über ihnen, und eine heisere, verdrießliche Stimme fragte, was das Lärmen bedeuten solle und ob der kleine Fant mit der roten Kehle seines kleinen Lebens überdrüssig sei.

Da schwieg das Rotkehlchen mit seiner Melodie, neigte sich artig auf dem dürren Ast und winkte dem Knaben, näher heranzutreten. »Frau Mutter, laß dir erzählen ,...«, begann es.

Und dann erzählte es, wie alles in Wahrheit zugegangen war. Daß die Elster nun tot sei, einer der bösesten und unermüdlichsten Feinde der Frau Mutter. Daß der junge Knabe das Geld bei der Jagd nach dem Bösen verloren habe. Daß der Vater gedroht habe, ihn zu erschlagen, und daß die Mutter nun bittere Tränen um ihr Kind weine. Und da jedermann bei Tieren und Menschen wisse, daß die Eule das klügste Tier des Waldes sei und daß ihre Augen schärfer seien als die des Falken, so bäten sie beide von Herzen, die Frau Mutter möchte das Verlorene suchen, ehe der Fuchs oder der Rabe es in ihre Höhlen schleppten.

Die Eule war nun aus ihrer Höhle ganz herausgekommen, und der Knabe sah, wie ihre großen Augen mit einem matten Leuchten sich zu ihm niederwandten, um ihn aufmerksam zu betrachten, und wie ihre fein befiederten Ohren sich bewegten, als wolle sie sich keinen Laut der zarten Stimme entgehen lassen.

Als das Rotkehlchen geendet hatte, war lange Zeit Schweigen unter den dunklen Bäumen. Glühwürmchen flogen lautlos von Busch zu Busch, eine Unke begann im fernen Moor zu läuten wie eine versunkene Glocke, und die ersten Sterne entzündeten sich über den dunklen Eichenwipfeln.

Es fror den Knaben ein wenig in seinem zerrissenen Kleid, und er fürchtete sich auch vor den großen Augen, die wie faulendes Holz schimmerten und reglos auf ihn hinabstarrten. Und es war ihm noch unheimlicher, wenn ab und zu eine dünne Haut sich über das Licht der Augen senkte, als lege eine Hand sich über ein Licht, und es war ihm, als habe er doch nicht recht getan, sich dem kleinen sprechenden Vogel anzuvertrauen.

Doch dann begann die Eule zu sprechen. »Ich liebe die Kinder der Menschen nicht«, sagte sie mit ihrer heiseren, erkälteten Stimme. »Sie werfen Steine und Knüppel nach mir, wenn sie mich am Tage sehen, und sie sagen, daß ich der Totenvogel sei und die Sterbenden rufe. Aber da es möglich ist, daß du ein reines Herz hast, so will ich dir helfen.«

»Ja, hilf mir«, bat der Knabe, »um meiner Mutter willen.«

»Nicht um deiner Mutter willen soll dir geholfen werden«, erwiderte die Eule, »sondern um deines reinen Herzens willen, wenn es sich erweist, daß du eines besitzest.«

»Ich weiß das nicht«, sagte der Knabe leise.

»Aber ich werde es wissen, ehe der Herbst über den Wald kommt. Und noch etwas anderes wirst du beweisen müssen: daß du klug und furchtlos bist. So wie wir. Denn es dient zu nichts, den Törichten und Feigen zu helfen auf dieser Erde. So werde ich dich dreimal ausschicken aus diesem Walde, damit du drei Aufgaben lösest, die ich dir stelle. Und darnach, wenn du sie gelöst hast, werde ich dir drei Fragen stellen. Versäumst du eine der Aufgaben oder gibst du eine falsche Antwort auf eine der Fragen, so mußt du im Walde bleiben, bis du den Beutel gefunden hast oder bis dein Vater gestorben ist. Und deine Mutter vielleicht dazu. Aber wenn du klug und gehorsam bist und ich auf dem Grund deines Herzens nichts Böses oder Falsches finde, so will ich dir helfen und noch zu mehr als deinem Beutel mit den Talern. Und nun sage, ob du tun willst, was ich dich heiße.«

Der Knabe versprach es, und er sah, daß das Rotkehlchen ihm zunickte.

»Nun höre mir wohl zu!« fuhr die Eule fort. »Wenn du aus diesem Walde hinausgehst und immer dem Nordstern folgst, so wirst du nach drei Monaten in eine große Ebene kommen, und mitten in ihr wirst du ein weißes Schloß erblicken. An jedem Morgen wird ein frisches Brot neben deinem Lager liegen, daß du nicht Hunger leidest. Wenn du Menschen oder Tiere oder Wesen zwischen beiden unterwegs antriffst und sie dich fragen, wohin du gehst, so brauchst du nur zu sagen, daß du ›das Große‹ holen sollst. Nichts weiter. Dann werden sie dich ziehen lassen. Aber hüte dich, daß sie dich nicht auf einen anderen Weg verlocken als den, über dem der Nordstern steht. Hast du mich wohl verstanden?«

Der Knabe nickte.

»Das weiße Schloß«, sagte die Eule weiter, »hat nur ein einziges Tor, und dieses Tor ist aus Gold. Von weitem wirst du glauben, daß die Sonne dort aufgehe. Wasche deine Füße an der Quelle, die neben dem Tor entspringt, und dann klopfe dreimal an. Es wird sich öffnen, und du kannst hineingehen. Du wirst durch viele Säle kommen, und überall werden Jünglinge und Mädchen schlafend liegen. In dem letzten Saal wird der Zauberer auf einem Thron von Gold sitzen. Du wirst ihn daran erkennen, daß er eine blaue Brille vor den Augen trägt. Diese Brille sollst du mir bringen, denn mit ihr kann ich auch bei Tage alles sehen und werde selbst nicht gesehen. Sie ist für mich ›das Große‹, denn ich werde aufhören blind zu sein.«

»Und wie soll ich sie von ihm bekommen?« fragte der Knabe.

»Das ist deine Sache, und mehr kann ich dir nicht sagen. Die Klugen bedürfen keiner Krücke.«

»So will ich es versuchen«, sagte der Knabe. »Und wenn es mir mißlingt ,...«

»Wenn es dir mißlingt, wirst du bei den anderen schlafen bis zum Jüngsten Tag.«

Da machte sich der Knabe auf. Das Rotkehlchen begleitete ihn bis zum Ausgang des Waldes. »Sei unverzagt!« tröstete es ihn. »Und schneide dir unterwegs eine Weidenflöte. Vergiß das nicht!«

Der Knabe bedankte sich und machte sich auf die Wanderung. In der Nacht blickte er zum Nordstern auf, und am Tage wußte er, wie man nach der Sonne sich richten konnte. Er wanderte durch große, dunkle Wälder und über weite Ebenen. Nirgends sah er ein Haus und nirgends einen Menschen, aber an jedem Morgen lag das Brot neben seinem Lager, und er pflückte sich Beeren, die er aus der hohlen Hand aß. Er fürchtete sich nicht, aber es war ihm einsam zumute, und oft hatte er Sehnsucht nach seiner Mutter und dem vertrauten Schlag ihres Herzens.

Dann schnitt er sich eine Weidenflöte, und manchmal, wenn in der Dämmerung die Furcht ihn ankommen wollte, spielte er sich eines der stillen Lieder, die er am Ufer des Stromes gespielt hatte.

Am Ende des ersten Monats, als er in der Morgenfrühe aus einem großen Walde trat, sah er unter den Haselnußbüschen im niedrigen Gras einen Knaben sitzen, der war jung und schön. Und da er das erste lebende Wesen war, das er bisher auf seiner Wanderung gesehen hatte, trat er näher, um zu sehen, was der fremde Knabe tat. Dieser griff nämlich mit seinen weißen, schmalen Händen über sich in die Sträucher, die voller Nüsse hingen, und sobald er sie gepflückt hatte, verwandelten sie sich unter seinen Fingern in Gold. Er hatte schon ein geflochtenes Körbchen mit ihnen gefüllt, und als das Flößerkind dazutrat, schüttete er alle goldenen Nüsse in das Gras, so daß die Sonne sich funkelnd in ihnen spiegelte und es ein lieblicher Anblick war.

»Komm mit mir«, sagte der fremde Knabe, »und ich will dir soviele Körbe davon geben, wie du willst. Es ist nicht länger als eine halbe Stunde zu gehen.«

Das Flößerkind zauderte. »Wenn ich ein solches Körbchen hätte«, dachte es, »so brauchte ich nicht bis zu dem weißen Schloß zu gehen und hätte tausendmal mehr, als ich verloren habe ,...«

Aber da erinnerte es sich der Worte der Eule und schüttelte den Kopf. »Ich darf nicht«, sagte es bekümmert. »Ich darf nicht vom Wege abweichen, weil ich ›das Große‹ holen muß.«

Und bei diesem Wort verlor der fremde Knabe seine blühende Farbe. Er wurde blaß, und sein schöner junger Körper schrumpfte so schnell zusammen wie eine Blume im Gewitterwind, bis nur etwas wie ein grauer, dürrer Ast im Grase lag. Und auch die goldenen Nüsse verloren ihren Glanz, und nichts als ein Haufen von Kieselsteinen blieb von ihnen zurück.

Der Knabe aber setzte seine Flöte an den Mund und wanderte über die Ebene weiter, so daß die Sonne zu seiner Rechten blieb.

Am Ende des zweiten Monats aber stand in der Morgenfrühe ein gesatteltes Pferd auf seinem Wege, das war so schwarz wie Meilerkohle, und sein Sattel und Zaumzeug waren aus reinem Golde. »Komm mit mir«, sagte das Pferd, und ich will dich so schnell zu dem weißen Schloße tragen, daß du es heute bei der Abendsonne noch erreichen wirst.«

Wieder zauderte der Knabe, denn seine Füße waren müde und blutig von dem langen Wege. Aber dann bedankte er sich und sagte, daß er »das Große« holen müsse, und das müsse man wohl zu Fuß erreichen.

Und wieder schrumpfte bei diesem Wort die schöne Erscheinung zusammen, und nichts als ein Stück Kohle blieb auf dem Wege liegen, von einem verdorrten Grashalm umschlungen.

Der Knabe aber setzte seine Flöte an den Mund und wanderte weiter.

Am Ende des dritten Monats aber, als er in der Abenddämmerung am Ufer eines Baches saß und seine Füße kühlte, teilte sich das dunkle Wasser vor ihm, und ein wunderschönes Mädchen mit offenem goldenem Haar hob sein Antlitz aus der feuchten Tiefe und blickte ihn mit traurigen Augen an. Und da sein weißer Körper ohne Hülle war, so erschrak der Knabe in einer tiefen Seligkeit und konnte den Blick nicht abwenden.

»Was willst du von mir?« fragte er leise.

»Wenn du dich auf meinen Rücken setzest«, sagte das Mädchen, »so will ich dich bis an das goldene Tor bringen und dich liebkosen unterwegs, soviel du willst.«

Wieder zauderte der Knabe, noch länger als die beiden anderen Male, und das Herz wurde ihm schwer und süß von einer unbekannten Gewalt. Aber dann sah er, wie der letzte Abendschein in das Wasser fiel, daß der schöne weiße Mädchenleib in einem silbernen Fischschwanz endete, und er erwiderte leise, daß er doch »das Große« holen müsse und daß das Mädchen doch auf ihn warten möchte, bis er wiederkomme.

Da schäumte aber das Wasser auf wie in einem dunklen Strudel, und statt des weißen Mädchenleibes stand ein großer Hecht mit bösen Augen zu seinen Füßen und zeigte die langen, spitzen Zähne.

Da sprang der Knabe auf und ging davon, und in der Abenddämmerung klang das Lied seiner Flöte weithin über die Ebene unter dem Sternenhimmel.

Und nach drei Tagen sah er eines Morgens das weiße Schloß vor sich liegen, und das goldene Tor leuchtete wie eine aufgehende Sonne. Er fand alles, wie es ihm gesagt worden war, und nachdem er seine Füße in der Quelle gewaschen hatte, klopfte er dreimal an das Tor und schritt zwischen den sich lautlos öffnenden Flügeln in einen blühenden Garten. In den Sträuchern und Bäumen saßen viele tausend buntfarbige Vögel und sangen so lieblich, daß er den Atem verhielt und sich seiner Flöte schämte. Am lieblichsten aber erschien ihm ein funkelnder Springbrunnen, der aus einer riesigen Silberschale aufstieg und zwischen seinen funkelnden Wasserstrahlen eine große goldene Kugel schwebend hielt.

Von ihm konnte er sich kaum trennen, und erst als eine ferne Glocke wie mahnend schlug, stieg er die breiten Marmortreppen zum Schlosse hinauf und trat in die schweigenden Säle. Und wie es ihm gesagt worden war, so sah er überall an den Wänden Jünglinge und Jungfrauen in tiefem Schlafe ruhen, wunderbar schön von Antlitz und Gestalt, und auf den Wangen jedes von ihnen ruhte eine Träne, als ob sie im Winterfrost erstarrt wäre.

Und sein Herz wurde immer trauriger, je weiter er schritt, und er dachte daran, daß auch er hier bis zum Jüngsten Tage schlafen würde, wenn es ihm nicht gelänge, »das Große« zu erwerben.

Im letzten Saal aber, auf einem goldenen Thron, saß unbeweglich eine in dunkle Gewänder gehüllte Gestalt mit weißem Haar und Bart und blickte ihm durch eine blaue Brille schweigend entgegen, und der Knabe konnte nicht erkennen, ob hinter den gefärbten Gläsern zwei Augen ihn ansahen oder nur die leeren Augenhöhlen eines Toten.

»Was willst du?« fragte endlich eine tiefe Stimme, und sie klang so fern, als spräche sie weit hinter der Marmorwand.

Es schauerte den Knaben. Er wollte antworten, daß er gekommen sei, um »das Große« zu holen, aber es fiel ihm ein, daß der Zauberer sehr wohl wissen werde, was das bedeute. Und da er nichts zu sagen wußte, so hob er seine Weidenflöte an die Lippen und begann, ein einfaches Tanzlied zu spielen, das seine Mutter ihm aus ihrer Mädchenzeit gesungen hatte.

Aber wie die ersten Töne erklangen, wollte ihm das Herz stille stehen, und kaum vermochte er seine Finger auf der grauen Rinde weiter zu bewegen. Denn mit den ersten Tönen hatte der Zauberer sich von seinem Thron erhoben, war die Stufen hinunter geschritten und begann nun, sich auf dem spiegelnden Marmorboden zu drehen, immer schneller, je schneller der Knabe spielte, bis zuletzt seine dunklen Gewänder wie ungeheure Fledermausflügel um ihn sich drehten und sein langes weißes Haupthaar wie eine silberne Scheibe um seine Stirn stand. Die blaue Brille fiel herab und glitt auf dem Marmorboden bis an die Füße des Knaben, und nun sah dieser, daß der Zauberer statt der lebendigen Menschenaugen zwei leere dunkle Höhlen hatte, die ihn grauenvoll anstarrten.

Da hob er schnell »das Große« vom Boden auf, und, immer spielend, ging er langsam rückwärts, immer weiter, durch alle Türen und alle Säle, und hinter sich sah er die Schlafenden sich von ihren Polstern erheben, langsam zuerst, wie träumend, und dann einander in die Arme sinken, Jünglinge und Jungfrauen, und aus allen Sälen vernahm er hinter sich her den vielstimmigen Jubelruf: »Er ist blind! Er ist blind! Ein Knabe hat ihm ›das Große‹ genommen!«

Und so, immer spielend, ging er durch den Garten und das goldene Tor, bis er auf der Ebene war und ferne die großen Wälder sah. Da verbarg er die Brille an seinem Herzen und lief immer weiter und immer schneller, bis er niemanden ihn verfolgen sah.

Und wieder nach drei Monaten erkannte er schon von ferne den Eulenwald, und das Rotkehlchen kam ihm singend bis auf die Heide entgegengeflogen und setzte sich auf seine rechte Schulter, daß er den kleinen Herzschlag spüren konnte, und sang immerzu: »Sei getrost, sei getrost! Deine Mutter ist gesund.«

Und es war dem Knaben, als halte er seine Wange an die Brust seiner Mutter gedrückt, und es war ihm froh und leicht um sein junges Herz.

»Du warst tapfer und du warst klug«, sagte die Eule und setzte die Brille auf ihre gebogene Nase. »Und nun sehe ich alles, was unter der Erde ist, und du sollst es nicht bereuen.«

Nach drei Tagen aber, als der Knabe sich ausgeruht hatte, bat er um seine zweite Aufgabe, und die Eule sagte: »Nun höre mir wohl zu! Wenn du aus diesem Walde hinausgehst und immer dem Morgenstern folgst, so wirst du nach drei Monaten an ein großes Meer kommen, tausendmal so groß, wie dein Strom lang ist. Und in dem Meer wirst du eine Insel erblicken mit einem Schloß aus rotem Marmor, und von weitem wirst du glauben, daß die Sonne dort untergeht. Wasche deine Füße am Meeresufer und dann steige in die Flut. In dem Schloß wirst du durch viele Säle kommen, und überall werden Vögel aller Art auf silbernen Stangen sitzen, alles Getier der Erde, das nur vier Finger hat wie ich. Und alle werden schlafen.

In dem letzten Saal aber wird eine Prinzessin auf einem Thron sitzen, die Handschuhe an ihren Händen hat. Denn sie ist schön über alle Maßen, aber sie hat nur vier Finger an jeder Hand wie ich, und deshalb trägt sie Handschuhe aus Menschenhaut.

Diese Handschuhe sollst du mir bringen, daß ich im Winter nicht friere, und mit ihnen werden alle schlafenden Vögel in allen Sälen erwachen und erlöst werden. Sie sind für mich ›das Barmherzige‹, damit niemand sieht, daß Gott sich bei meinen Händen versehen hat.

Und auch diesmal wird an jedem Morgen ein frisches Brot neben deinem Lager liegen, daß du nicht Hunger leidest. Und wenn dich jemand fragt, wohin du gehst, so brauchst du nur zu sagen, daß du ›das Barmherzige‹ holen sollst. Nichts weiter. Dann werden sie dich ziehen lassen. Aber hüte dich, daß du nichts von deinem Brote abgibst, wenn sie auch noch so sehr darum bitten. Denn sie wollen nicht dein Brot, sondern deine Seele.

Hast du mich wohl verstanden?«

Der Knabe nickte. »Aber wie soll ich die Handschuhe von den Händen der Prinzessin ziehen?« fragte er bekümmert.

»Das ist deine Sache«, erwiderte die Eule. »Die Tapferen bedürfen keines Schildes.«

»So will ich es versuchen«, sagte der Knabe. »Aber wenn es mir mißlingt?«

»Wenn es dir mißlingt, wirst du den Ringfinger an jeder Hand verlieren und bei den anderen Vögeln schlafen bis zum Jüngsten Tag.«

Da machte sich der Knabe auf. Wieder begleitete ihn das Rotkehlchen bis zum Ausgang des Waldes. »Sei unverzagt!« tröstete es ihn. »Und sammle Körner von wildem Mohn unterwegs, soviel du kannst. Vergiß das nicht!«

Der Knabe bedankte sich und machte sich auf die Wanderung.

Diesmal ging er der aufgehenden Sonne entgegen, und am Abend ging sein Schatten ihm lang und dunkel voraus. Am Morgen lag das frische Brot neben seinem Lager, und wo er die Früchte des wilden Mohnes an der Straße sah, pflückte er die Kapseln in ein Kästchen von Birkenrinde, und wenn sie reif und trocken waren, schüttete er den Samen in das Kästchen und warf die Kapseln fort.

Am Ende des ersten Monats aber, in einer Abendstunde, sah er plötzlich ein Rotkehlchen, das saß in einem Holderbusch neben seinem Wege. Und als er stehenblieb, voller Freude, daß sein kleiner Gefährte wieder bei ihm war, sagte der Vogel: »Gib mir von deinem Brot, daß meine Kinder nicht verhungern.«

Der Knabe zog schnell den Rest seines Brotes aus der Tasche, aber dann gedachte er der Worte der Eule und sagte: »Fliege dorthin zu mir, wo du am liebsten saßest!«

Aber das Rotkehlchen wiederholte nur: »Gib mir von deinem Brot!«

Da sagte der Knabe, daß er es nicht geben dürfe, weil er ausgeschickt sei, »das Barmherzige« zu holen.

Und wie er das gesagt hatte, schrumpfte der Vogel in einem Augenblick zusammen und war nichts als ein dunkle Beere an einem leeren Strauch.

Am Ende des zweiten Monats aber, wieder in der Abendstunde, stand ein kleines Hündchen auf seinem Wege, schwarz, mit einem buschigen Schweif, so wie er als Kind eines auf dem Floß gehabt hatte. Das wedelte freundlich und bat: »Gib mir von deinem Brot, daß meine Kinder nicht verhungern.«

»Spitz, mein Lieber, bist du wieder da?« fragte der Knabe fröhlich und zog schnell den Rest seines Brotes aus der Tasche. »Aber zeige mir noch einmal dein schönstes Kunststück, das du immer machtest, als ich klein war.«

Doch das Hündchen wiederholte nur: »Gib mir von deinem Brot!«

Da erinnerte sich der Knabe, ließ die Hand sinken und sagte: »Ich darf es dir nicht geben, weil ich ausgesandt bin, ›das Barmherzige‹ zu holen.«

Und wie er es gesagt hatte, schrumpfte das Hündchen in einem Augenblick zusammen und war nichts als ein dunkler Fichtenzapfen im grünen Moos.

Am Ende des dritten Monats endlich, als er im Abendschein auf eine öde Heide hinaustrat, saß am Wegesrand eine alte Frau, die hatte ihr Gesicht mit einem Tuch verhüllt und war müde und gebeugt. Sie hatte ihre runzligen Hände um einen Stab gefaltet und sagte leise: »Gib mir von deinem Brot, damit ich meinen verlorenen Sohn speisen kann.«

Dem Knaben blieb das Herz stehen, und während seine Hand nach dem Rest seines Brotes griff, sank er auf die Knie in das Heidekraut und sagte: »Liebe Mutter, bist du es denn?« Denn so wie diese alte Frau hatte seine Mutter am Ufer des Stromes gesessen, wenn sie auf ihn gewartet hatte.

»Ja, ich bin es«, erwiderte die alte Frau.

Da zog er sein Brot aus der Tasche, tränkte es mit seinen Tränen und streckte die Hand nach ihr aus. Aber als sie mit ihrer Hand nach der Speise greifen wollte, sah er, daß ihre Finger dürr waren, mit langen Nägeln, und es war nicht die Hand seiner Mutter.

Da sagte er schnell: »Sage mir, wo mein liebster Platz war, wenn ich bei dir war.«

Doch die Frau wiederholte nur: »Gib mir von deinem Brot!«

Da sagte der Knabe voller Angst: »Ich darf es dir noch nicht geben, weil ich ausgesandt bin, ›das Barmherzige‹ zu holen.«

Und wie er es gesagt hatte, schrumpfte das Weib in einem Augenblick zusammen und war nichts als ein Häuflein Asche, und der Abendwind nahm es und trieb es über die Heide.

Und nach ein paar Tagen stand der Knabe am Ufer des Meeres und sah die Insel vor sich in der blauen Flut. Und er erschrak über das große Wasser, so groß, wie er es noch niemals gesehen hatte, und saß verzagt im Sande, über den der weiße Schaum spielend lief. Und das rote Schloß leuchtete, als ginge die Sonne in den Gärten der Insel unter.

Aber dann faßte er wieder Mut, wusch seine Füße in dem kühlen Wasser, verbarg das Rindenkästchen mit dem Mohnsamen und seine Kleider in seinem Haar und schwamm langsam zu der Insel hinüber.

Dort kleidete er sich an, ging durch die schweigenden Gärten, an Springbrunnen und bunten Zelten vorbei, schritt durch alle Säle, in denen die Vögel auf silbernen Stangen schliefen, und stand dann vor der Prinzessin, die ihre Hände in weißen Handschuhen im Schoß gefaltet hielt. Und er erschrak vor der Schönheit ihres Angesichts und dem großen Schweigen, das ihn umgab.

»Was willst du?« fragte endlich eine sanfte Stimme. Nun hatte der Knabe während des letzten Tages seiner Wanderung um den Ringfinger seiner beiden Hände einen Grashalm so fest gebunden, daß an der Wurzel der Finger noch immer ein schmaler, roter Einschnitt zu sehen war wie von der Narbe eines Schnittes.

Er streckte nun der Prinzessin seine beiden Hände entgegen und sagte: »Ich habe gehört, daß Gott ein Unglück auf dich gelegt hat. Auch mir war es auferlegt, aber ich bin geheilt worden, und du siehst noch die Stellen, an denen das Fehlende wieder angewachsen ist. So bin ich gekommen, um auch dich zu heilen.«

Die Prinzessin hatte ihre Hände schnell mit einem goldgewirkten Tuch bedeckt, aber ihre Augen ruhten mit großer Begier auf den Händen des Knaben. »Und wie bist du geheilt worden?« fragte sie.

»Es gibt den Samen einer Pflanze«, erwiderte der Knabe, »das ist die Pflanze der Barmherzigkeit. Und wenn du einen Becher mit warmem Wein damit trinkst, so wirst du wieder so sein wie alle anderen auch, und dein Herz wird ohne Kummer sein.«

»Gib mir davon!« sagte die Prinzessin schnell. Und während sie in einem goldenen Becher einen dunkelroten Wein erwärmte, bis er Blasen warf, zerrieb der Knabe zwischen zwei Marmorsteinen den Mohn, den er gesammelt hatte, schüttete ihn dann in den Becher und hieß die Prinzessin trinken.

Und schon als sie die Hälfte des heißen Weines langsam getrunken hatte, fielen ihr die Augen zu, und der Knabe fing den Becher auf, der ihr aus den Händen glitt. Er wartete, bis ihr Haupt nach rückwärts gegen die Lehne des Thrones gesunken war, und dann zog er langsam und vorsichtig die weißen Handschuhe von ihren Händen. Er sah, daß an jeder Hand der Ringfinger fehlte, verbarg das weiche Leder an seiner Brust und ging langsam rückwärts hinaus, immer weiter, durch alle Türen und Säle, und hinter sich sah er die Vögel sich auf ihren silbernen Stangen recken, zuerst wie träumend, und dann mit den Flügeln schlagen, und aus allen Sälen vernahm er hinter sich den vielstimmigen Jubelruf: »Sie schläft! Sie schläft! Ein Knabe hat ihr ›das Barmherzige‹ genommen!«

Und so ging er durch die Gärten bis zum Ufer, durchschwamm von neuem den Meeresarm und lief, immer weiter und immer schneller, bis er niemanden ihn verfolgen sah.

Und wieder nach drei Monaten kam das Rotkehlchen ihm entgegen und setzte sich auf seine rechte Schulter, daß er den kleinen Herzschlag spüren konnte, und sang immerzu: »Sei getrost, sei getrost! Deine Mutter ist gesund.«

Und dem Knaben war es froh und leicht um sein junges Herz.

»Du warst tapfer und du warst klug«, sagte die Eule und zog die weichen Handschuhe über ihre Hände. »Und nun wird niemand wissen, daß Gott sich bei meinen Händen versehen hat.«

Nach drei Tagen aber sprach die Eule: »Nun höre mir wohl zu! Wenn du aus diesem Walde hinausgehst und immer dem Abendstern folgst, so wirst du nach drei Monaten in eine große Wüste kommen, wo dein Auge nichts als Sand sehen wird. Und in der tiefsten Öde dieser Wüste wirst du einen Berg erblicken, so steil, daß du Mühe haben wirst, seinen Gipfel zu erklimmen. Auf dem Gipfel aber wirst du eine alte Frau sitzen sehen, so alt und still, als ob sie schon gestorben wäre. Ihr Antlitz wird verhüllt sein, und rings um sie herum, an allen Abhängen des Berges, wirst du kleine, müde Kinder sehen, die werden mit silbernen Sieben den Sand in große Körbe zu schöpfen versuchen, aber es gelingt ihnen nicht.

Die alte Frau aber hält in ihrer rechten Hand ein Weizenkorn verborgen.

Dann wasche deine Hände mit den Tränen der Kinder, die den Sand schöpfen, und nimm das Weizenkorn aus der Hand der Frau, damit ich Speise habe im harten Winter. Und wenn du es gewonnen hast, werden alle Siebe der Kinder sich in silberne Schaufeln verwandeln, und sie werden jubelnd ihre Körbe damit füllen und erlöst sein. Denn das Korn, das du mir bringen sollst, ist ›das Ewige‹, und es ruht nutzlos und unfruchtbar in einer verwelkten Hand.«

Und dann warnte sie ihn, von dem Wasser zu trinken, das man ihm in der Wüste reichen werde, auch wenn er am Verdursten sein werde.

»Und wenn es mir mißlingt?« fragte der Knabe.

»Wenn es dir mißlingt, so wirst du ein Kind werden wie die anderen und Sand mit einem Sieb schöpfen bis zum Jüngsten Tag.«

Und wieder tröstete das Rotkehlchen ihn am Ausgang des Waldes. »Sei unverzagt!« zwitscherte es. »Sei ganz unverzagt! Aber vergiß nicht, deine Tränen zu sammeln, die du unterwegs vergießen wirst. Vergiß es ja nicht!«

Der Knabe bedankte sich und machte sich auf die Wanderung. An jedem Morgen lag das frische Brot neben seinem Lager, aber er war besorgt, die ganze Zeit lang, weil er nicht zu weinen vermochte, und das große leere Schneckenhaus, das er aufgehoben hatte, um seine Tränen darin zu sammeln, blieb leer.

Aber schon am Ende des ersten Monats verließ er die Wälder und Heiden und kam in eine ungeheure Wüste. Da gab es keinen Schatten und keinen Bach, und die Sonne brannte ohne Erbarmen auf seinen nackten Scheitel. Da lag er an jedem Abend zu Tode ermattet in einem Bett von Sand und weinte bitterlich, und sein Schneckenhaus war ihm bald gefüllt mit salzigen Tränen.

Und ein paar Tage später, um die heißeste Mittagszeit, sah er einen wundervollen, schattigen Garten in dem Tal zu seinen Füßen liegen und erkannte die Früchte der Bäume von ferne und die hohen Strahlen der Springbrunnen und lief mit letzter Kraft, so schnell er konnte, bis er den Schatten erreichte. Und an dem ersten Springbrunnen saß ein Mädchen, das war so schön wie ein Engel, und füllte einen silbernen Becher mit kühlem Wasser, so kühl, daß das Silber des Bechers beschlug, und bot ihm das Wasser zum Trinken an.

»Und wenn ich sterben müßte«, dachte der Knabe, »so will ich dieses Wasser doch trinken ,...« Aber dann erschrak er, weil die Hand, die ihm den Becher reichte, wohl weiß und schmal, aber voller Warzen war, und langsam sagte er: »Ich würde ja trinken, aber ich muß doch ›das Ewige‹ holen ,...«

Und wie er es gesagt hatte, verschwand der Garten und das Wasser, die Früchte und das Mädchen, und ein kleines, weißes Tierskelett lag zu seinen Füßen, und die Sandkörner trieben darüber hin.

Da warf er sich in den heißen Sand und weinte bitterlich. Aber dann machte er sich doch wieder auf bis zum Abend, und der glühende Sand verbrannte seine nackten Füße.

Einen Monat später aber, wieder um die heißeste Mittagszeit, fand er einen Pilger im Sande sitzen, der war alt und so schwach, daß er seine Hand nicht mehr bewegen konnte. Und neben ihm stand ein großer Tonkrug, der war so kühl, daß die Tautropfen an ihm herunterliefen.

»Mein Kind«, sagte der Pilger mit verlöschender Stimme, »Gott segne dich, daß du in letzter Minute vorbeikamst. Hebe nun den Krug an meine Lippen, damit ich trinke, bevor ich sterbe, denn meine Hand ist schon zu schwach, ihn an meine Lippen zu heben.«

»Das ist mir wohl nicht untersagt«, dachte der Knabe und hob den Krug an die Lippen des Sterbenden und fühlte, wie kühl seine Hände wurden, und sah den Pilger trinken und die Tropfen von seinen Lippen abwärts fallen. Und er sah, wie die abgezehrte Gestalt des Trinkenden sich aufrichtete und frisch und stark wurde wie die eines gesunden Mannes.

»Trinke nun auch!« sagte der Pilger, »und Gott soll es dir lohnen.«

Aber da sah der Knabe, daß unter dem Kleid des Pilgers eine Schlange sich ringelte und mit kalten höhnischen Augen auf seine ausgestreckte Hand starrte. Und er ließ den Krug sinken, und mit Tränen in den Augen erwiderte er, daß er ausgesandt sei, »das Ewige« zu holen, und daß es ihm verboten sei, auch um Gottes willen zu trinken.

Und siehe da, kaum daß er es gesagt hatte, so verschwand der Pilger und der Wasserkrug, und eine große Kreuzspinne saß regungslos im Sande und hielt zwischen ihren Füßen eine tote Fliege, die war von dünnen, weißen Fäden wie von Seide umsponnen.

Da verschluckte der Knabe seine Tränen und lief über Hügel und Täler und drehte sich von Zeit zu Zeit um, ob die schreckliche Spinne ihm nicht folge.

Am Ende des dritten Monats aber, als schon der Abendstern über den glühenden Hügeln aufgegangen war, sah er über dem dämmernden Tal zu seinen Füßen eine Schar von Geiern kreisen, immer enger und immer niedriger, und so matt sein Herz ihm auch schlug, so lief er doch mit letzter Kraft hügelab und sah im Licht der Abendröte eine junge Frau im Sande liegen, die hielt mit ihren abgemagerten Armen drei kleine Kinder an ihre welke Brust gedrückt, und die Kinder waren wie Skelette, mit großen, tiefliegenden Augen, so daß es ihn erbarmte bis auf der Seele Grund. Über ihnen kreisten die hungrigen Geier, aber zu ihren Füßen sprang mit leisem Plätschern eine klare Quelle aus dem Sand, und der Fuß der Frau, mit einem goldenen Reifen geschmückt, reichte bis in das Wasser, und sie versuchte immer wieder, ihn an den Körper zu ziehen, damit die Kinder die Tropfen von seiner Haut trinken könnten. Aber sie war zu schwach dazu.

»Gott segne deinen Schritt!« flüsterte sie. »Ich sterbe, aber lege doch meine Kinder mit den Lippen an die Quelle, damit sie trinken können und nicht verderben.«

»Das ist mir wohl nicht untersagt«, dachte der Knabe und nahm die winzigen Geschöpfe, die ihn mit großen Augen anblickten, legte sie an die Quelle, hielt ihre Stirnen in beiden Händen und sah zu, wie ihre gesprungenen Lippen das köstliche Wasser tranken.

»Nun trinke auch du«, sagte er dann, schöpfte von dem Wasser in seine gefalteten Hände und reichte es der Frau.

Aber sie schüttelte den Kopf. »Wenn ich trinke, bevor du getrunken hast«, sagte sie, »so verwandelt es sich in Feuer und verbrennt meinen Leib. Wenn du mich also nicht sterben lassen willst, so trinke um Gottes willen zuerst, auch wenn du nur deine Lippen befeuchtest.«

»Meine Lippen zu befeuchten, war mir wohl nicht verboten«, dachte der Knabe und hob die gefalteten Hände zitternd vor Verlangen an seinen Mund. Aber siehe, als er die Hände hob, begannen die Kinder leise und verstohlen zu lachen, und er sah, wie blutiger Speichel ihnen aus den Mundwinkeln floß.

Da entsetzte er sich und warf das Wasser von sich. Da schwangen die Geier sich mit häßlichem Kreischen über die Abendhügel davon. Da verschwand die Frau und verschwanden die Kinder und statt der Quelle stand eine trübe, stinkende Lache im Sand, und auf ihrem flachen Grunde saßen vier Kröten, eine große und drei kleine, und nagten an weißen, verdorrten Menschenknochen und sahen mit rötlichen Augen tückisch zu ihm empor.

Und wieder lief er voller Grausen davon und weinte bitterlich in einem dunklen Dünental, bis sein Schneckenhaus von den Tränen längst übergeflossen war. Und bis der große rote Mond über den Hügeln stand, so einsam wie eine vergessene Lampe in einem Totenhaus.

Und als er dann schließlich den steilen Sandberg vor sich sah, war alles so, wie die Eule es ihm gesagt hatte. Die Sonne stand ihm im Scheitel, und in ihrem weißglühenden Licht sah er Tausende von winzigen, elenden Kindern im heißen Sande kauern und mit silbernen Sieben vergeblich den weißen Sand in ihre kleinen Körbe schaufeln. Sie achteten nicht auf ihn. Ihre großen, traurigen Augen waren mit Tränen gefüllt und auf den rieselnden Sand gerichtet, und von der Bewegung der tausend silbernen Siebe ging ein unaufhörliches Blitzen über die Abhänge des Berges, als mähten tausend Sicheln in einem Kinderfeld.

Keuchend und atemlos schleppte der Knabe sich den Abhang hinauf. Mitunter berührte er einen der kleinen Füße oder eine winzige Hand, die sich um das Silbersieb gekrampft hatte, aber Hände und Füße waren so eiskalt, als ob sie längst gestorben wären.

»Ihr Armen, was tut ihr da?« sagte der Knabe weinend. »Laßt doch ab von eurer sinnlosen Mühe, sonst brecht ihr mir das Herz.«

Aber die Kinder tauchten weiter die Siebe in den Sand, als hätten sie kein Wort vernommen, und die Hände und Füße rückten sie nicht aus seinem Wege, als wären ihre Augen blind, und er sah auch, daß ihre kleinen Leiber keinen Schatten warfen.

Auf dem Gipfel aber, wo die Luft wie in einem feurigen Ofen war, saß die alte Frau, still und verhüllt, und ihre rechte verdorrte Hand war fest um etwas geschlossen, das er nicht sah.

Da stand er ratlos und voller Entsetzen. Sie öffnete nicht die Lippen, um ihn etwas zu fragen, und nur der heiße Wind trieb die Sandkörner mit leisem Rauschen über den glühenden Gipfel.

Aber wie er sich niederwarf, um zu sterben oder in eines der kleinen starren Wesen verwandelt zu werden, fühlte er an seiner Brust etwas Hartes, das sich in seine Haut drückte, und es war das Schneckenhaus, das mit seinen Tränen gefüllt war.

Da erinnerte er sich der Worte der Eule, wusch seine Hände in den Tränen der Kinder, nahm das Schneckenhaus in seine rechte Hand und ließ die Tränen seiner Wanderung auf die geschlossene Hand der Frau tropfen.

Und siehe, mit eins war die Frau verschwunden, aufgelöst in die glühende Luft, und statt ihrer stand ein Weizenhalm im kahlen Sand, aufrecht und stolz, und in seiner Ähre hing ein einzelnes goldenes Weizenkorn, das nahm der Knabe und verbarg es an seiner Brust.

Und mit einemmal verwandelten sich alle silbernen Siebe in kleine blitzende Schaufeln, und der weiße Sand begann die kleinen Körbe zu füllen, und alle Kinder lachten und jubelten, und ein einstimmiger jauchzender Schrei stand über den Abhängen des feurigen Berges: »Sie wächst! Sie wächst! Ein Knabe hat ihr ›das Ewige‹ genommen!«

Da ging er still den Berg hinunter, und die Wüste verwandelte sich in einen blühenden Garten, wohin er seinen Fuß setzte, und überall sprangen die kühlen Quellen aus dem Grase, und er kniete vor ihnen nieder und trank das Wasser des Lebens mit seinen verschmachtenden Lippen.

Und wieder nach drei Monaten kam das Rotkehlchen ihm entgegen und setzte sich auf seine rechte Schulter und sang noch fröhlicher als sonst: »Sei getrost, sei getrost! Bald wirst du deine Mutter wiedersehen.«

»Du warst tapfer und du warst klug«, sagte die Eule und hielt das goldene Weizenkorn in ihrer weiß bekleideten Hand. »Und nun wird es keinen Hunger mehr auf dieser Erde geben, denn du hast ›das Ewige‹ heimgebracht ,... Heute aber darfst du in meinem Hause schlafen, und morgen in der Frühe will ich dich drei Fragen fragen; da sieh nur zu, daß du sie recht beantwortest und die Zeit deiner Prüfung beendest.«

Und der Knabe schlief in dem hohlen Eichenstamm und sah die Sterne an seinem schmalen Fenster vorüberziehen, und es war ihm nun gleich, ob es der Morgen- oder der Abendstern war.

Am nächsten Morgen aber, als der Tau noch in den Büschen funkelte, saß die Eule schon auf dem Rande ihres Astloches und hatte die Brille auf dem gekrümmten Schnabel und die Handschuhe an den Händen und das goldene Weizenkorn in der rechten Hand. Und sie sah freundlich auf den Knaben hinunter, der seine wunden Füße im Tau wusch, und sprach: »Nun höre mir wohl zu, daß du dich nicht versiehst! Weißt du wohl, was das Schwerste auf Erden ist?«

Da dachte der Knabe zuerst an die Steine auf dem Grund des Stromes, aber das Rotkehlchen, das neben dem Eichenstamm auf einem Haselnußzweig saß, schüttelte leise den Kopf.

Da dachte er an die Bleikugeln, mit denen der Vater die Netze beschwerte, die er in den Strom warf, aber wieder schüttelte das Rotkehlchen leise den Kopf.

»So muß das etwas sein, was nicht nur unseren Händen schwer ist«, sagte sich der Knabe. Und plötzlich dachte er an seine langen und mühsamen Wanderwege, an Durst und Grauen, und wie das Herz ihm schon solange schwer nach seiner Mutter war. Und er sagte leise: »Das Schwerste auf Erden ist ein schweres Herz!«

Da nickte die Eule freundlich und legte die blaue Brille beiseite. »Gut hast du es getroffen«, sagte sie, »und nun mache es weiter ebenso. Weißt du wohl, was das Bitterste auf Erden ist?«

Da dachte der Knabe an alle Kräuter des Waldes, die er kannte, und er wollte gerade sagen, daß Wermut das Bitterste auf Erden sei, aber das Rotkehlchen schüttelte leise den Kopf, und er schwieg.

Dann dachte er, daß Hunger und Durst vielleicht das Bitterste seien, aber wieder schüttelte der kleine Vogel den Kopf.

Aber da fühlte seine Hand, die in seinem Kleide ruhte, das leere Schneckenhaus, das er von seiner letzten Wanderung mitgebracht hatte, und nun wußte er, was er antworten sollte. »Das Bitterste auf Erden«, sagte er leise, »sind die Tränen, die der Verlassene weint.«

Da nickte die Eule freundlich und zog die Handschuhe von ihren Händen und legte sie zur blauen Brille.

»Gut hast du es getroffen«, sagte sie, »und nun mache es weiter ebenso. Weißt du wohl, was das Wärmste auf Erden ist?«

Da dachte der Knabe zuerst an die Sonne und wie sie seinen Scheitel auf der letzten Wanderung verbrannt hatte. Aber das Rotkehlchen schüttelte leise den Kopf, und er schwieg.

Dann dachte er an das abendliche Herdfeuer in der Hütte am Strom, und wie warm es dort nach einem Herbsttag auf dem Wasser gewesen war. Und er öffnete schon die Lippen, um die Antwort zu geben.

Aber da schrie das Rotkehlchen auf, als sei die böse Elster wieder im Gebüsch, und flüchtete sich auf die rechte Schulter des Knaben und drückte den kleinen warmen Leib so eng an seinen Hals, daß er den stillen, festen Herzschlag des Vogels an seiner Haut verspürte.

Und da fiel es dem Knaben wie Schuppen von den Augen, und ohne sich weiter zu besinnen, sagte er ruhig und gewiß: »Das Wärmste auf dieser Erde ist das Mutterherz!«

Da neigte die Eule sich tief zu ihm herunter, ließ das goldene Weizenkorn in seine gefalteten Hände fallen und sagte: »Nun hast du alles bestanden, was dir an Prüfungen zugedacht war, und nun sollst du alles haben, was du für mich geholt hast, und deinen Beutel mit den verlorenen Talern dazu. Denn du mußt nicht denken, daß ich das alles für mich habe holen lassen, oder daß die Kraft dieser Dinge nur so klein ist, wie ich gesagt habe. Denn die blaue Brille ist nicht dazu geschaffen, daß ich bei Tage so gut wie bei Nacht sehe. Wer sie trägt, kann erkennen, was gut und böse ist, an Menschen, Tieren und Dingen, und du sollst sie tragen.

Und die Handschuhe sind nicht dazu geschaffen, daß sie meine Hände verhüllen oder wärmen. Wer sie trägt, kann nicht nur Wasser- und Feuersnot bannen, nicht nur Krankheit und Siechtum, sondern er kann alles Blut und alle Tränen stillen, und das ist etwas Großes auf dieser bösen Erde. Und du sollst sie tragen.

Und das Weizenkorn ist nicht geschaffen, daß ich mich an einem Goldkorn freue, sondern wenn eine gute Hand es aussät, wird es tausendfältig Frucht tragen und in einem Jahr ein Feld sein, so groß wie diese Wälder. Und in zehn Jahren ein Feld, so groß wie alle Wälder. Und der Hunger wird aufhören auf dieser Erde, die Not und die Mißgunst. Und du sollst es aussäen. Weil du klug und tapfer warst, und treu und gehorsam, und barmherzig zu allen Leidenden!«

Und die Eule ließ die Brille und die Handschuhe in seine Hände fallen, wo er das Weizenkorn hielt, und sah nun so alt und einsam aus wie zuvor.

Der Knabe aber neigte sich tief vor ihr und sagte: »Ich danke dir, Frau Mutter, daß du es gar so gut mit mir meinst. Aber wenn ich dich von Herzen bitten darf, so laß mich nur das Weizenkorn behalten, und das andere nimm wieder zu dir. Denn es steht mir nicht zu, zu wissen, was gut und böse ist, und es ist mir besser, wenn ich es erfahre im Umgang mit den Menschen, auch wenn es mir Leid und Kummer bringt.

Und es steht mir nicht zu, Wasser und Feuer zu bannen oder Blut und Tränen zu stillen mit einem Zaubertuch. Denn wenn ich Blut vergieße, so soll ich dafür büßen, und wenn ich Tränen fließen mache, so soll ich solange Gutes tun, bis sie wieder zu fließen aufhören.

Das Weizenkorn aber will ich säen, daß alle Menschen Speise haben und daß ich nie mehr Kinder zu sehen brauche, die so arm und elend waren wie die auf dem Berg in der Wüste.«

Da sah ihn die Eule lange an und nickte und sagte, daß es so sein solle, wie er gesagt habe.

Und dann setzte sie die Brille auf ihren gekrümmten Schnabel und flog ihm langsam voran, und über einem niedrigen Fichtengebüsch hielt sie an und flatterte in die Luft, bis der Knabe sich über etwas Dunkles und Vermodertes gebeugt hatte, und da war es der verlorene Beutel, aber statt der Talerstücke schimmerte nun Gold zwischen den Lederschnüren hervor.

Da schrie er auf vor Freude und bedankte sich tausendmal, nahm Abschied und lief die Landstraße am Strom entlang, nach der Hütte seiner Mutter zu, und alles Ungemach des letzten Jahres schien ihm nun gering und schon vergessen. Das Rotkehlchen aber blieb bei ihm, flog ihm in den Weiden des Ufers voran, von Zweig zu Zweig, und sein kleines Lied erfüllte den Morgen mit lauter Fröhlichkeit.

Und als der Knabe vor die Hütte kam, da saß seine Mutter auf der Schwelle, so wie die alte Frau auf der öden Heide gesessen hatte, müde und gebeugt, und ihr Gesicht war mit einem Tuche verhüllt. Da warf er sich vor ihr nieder, und alles, was er sagen konnte, war nur dieses: »Liebe Mutter ,... liebe Mutter ,...«

Und sie weinten vor Freuden, bis der Flößer vom Strome heraufkam. Er sagte nichts. Er streckte nur seine schwielige Hand aus, und seine Augen waren noch finsterer als sonst.

Da zog der Knabe den Beutel aus dem Kleide, und sie sahen, wie das rote Gold zwischen den Schnüren funkelte. Der Flößer riß ihm den Beutel aus der Hand, aber wie er ihn erfaßte, im selben Augenblick, glühte das Gold auf wie schmelzendes Metall, und eine hohe blaue Flamme schoß an dem Flößer empor und verbrannte ihn zwischen zwei Herzschlägen zu einem Häuflein Asche.

Das trugen sie in einem kleinen Weidenkorb zu den Eichen am Waldrand und begruben es dort.

Das Weizenkorn aber senkten sie am Abend in den Acker, und schon in der Frühe des nächsten Tages lag ein grünes, bebautes Feld weithin vor ihren Blicken, und die Lerchen stiegen jubelnd aus ihm in den blauen Himmel empor.

* * *


 << zurück weiter >>