Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Eine arme Witwe hatte einen einzigen Sohn, der war ihr Trost und ihre Herzensfreude, seit man ihren Mann im Streit erschlagen hatte. Der Knabe war wohl folgsam und guten Herzens, aber er war auch ungeduldig und von jähem Zorn wie sein Vater, der darum mit seinem Leben gebüßt hatte. Sie ermahnte den Knaben oft und sprach ihm freundlich zu, und er gelobte von ganzem Herzen Besserung, aber wenn die Ziegen einmal störrisch waren, stieg ihm der Zorn in die Augen, und er zerbrach den Hirtenstab an den Tieren oder schleuderte wohl auch die Axt auf sie. Und wenn ein Werkzeug ihm nicht so gehorsam war, wie er wollte, zerbrach er es und schleuderte die Stücke ins Gras oder ins Feuer, wobei er sie verfluchte wie lebende Geschöpfe.
Dann sah seine Mutter ihn traurig an und sagte: »Soll ich auch dich verlieren durch die Wut deines Blutes? Und ist es nicht an einem genug, den sie mir tot vor die Schwelle gelegt haben?«
Dann knirschte er wohl noch eine Weile mit den Zähnen, aber dann schämte er sich oder sagte traurig, daß er nichts dafür könne.
Das ging so eine Reihe von Jahren, ohne daß sich etwas änderte, und da sie ganz allein lebten und selten ein Mensch zu ihnen kam, so gab es auch keinen anderen Streit außer eben mit den Ziegen oder einem widerspenstigen Gerät.
Einmal aber sollte er den Rock seines toten Vaters bürsten, den hatte die Mutter aus der Truhe genommen und mit Tränen an die Hauswand getragen, wo sie ihn an einen Holznagel hängte.
Nun geschah es, daß der Knabe in seiner Hast so eifrig an die Arbeit ging, daß der Rock von dem Nagel ihm vor die Füße fiel. Er hob ihn auf und hängte ihn wieder an seinen Platz. Aber nach einer Weile ging es ebenso, und der Knabe, der über die Heide laufen wollte, hob ihn noch einmal auf, sagte aber mit drohender Stimme: »Nun bleibe, wo ich dich hingehängt habe, sonst wird es dir schlecht ergehen!«
Ein drittes Mal fiel der Rock herunter, und nun gab es kein Halten mehr. Der Knabe trat den Rock unter die Füße, stieß ihn dann von sich und schrie: »Du Satansstück, kannst du nicht tun, was ich dich heiße?«
Da trat die Mutter hinzu, die auf der Schwelle gestanden hatte, und zum erstenmal in ihrem Leben hob sie die Hand und schlug ihn auf die zornglühenden Wangen.
Zuerst stand er so erstarrt, als sei er zu Eis gefroren, und dann, während alle Dinge vor seinen Augen verschwammen, hob er seine Hand und schlug zurück.
Aber kaum war das Schreckliche geschehen, so fiel der Arm ihm herunter, als sei er gelähmt. Er starrte auf seine Hand, und sie war weiß wie die Kieselsteine am Fluß. Er berührte sie mit der Linken, aber er fühlte nichts als eine eisige Kälte, die in seinem rechten Arm aufwärtsstieg, immer weiter, bis zum Herzen. Er versuchte die Finger zu bewegen, aber sie gehorchten ihm nicht, und er konnte sie nur soweit krümmen, daß die Hand eine Höhlung bildete, als wollte er Wasser damit schöpfen.
Er blickte auf seine Mutter, aber sie bückte sich weinend über den Rock, der im Staube lag, und sah den Jungen nicht an.
»Mutter«, sagte er flehend, »meine Hand ,...«
»Wer seine Eltern schlägt, dem wird die Hand aus dem Grabe wachsen«, sagte sie leise und barg den bestaubten Rock an ihrer Brust. »So sagte meine Mutter, und so sagte meine Großmutter zu ihr.«
Und damit ging sie ins Haus, und ihre Schultern waren gebeugt, als trage sie eine schwere Last über die niedrige Schwelle.
Der Knabe stand noch eine Weile da, indes die schwere Hand seinen rechten Arm zu Boden zu ziehen schien. Dann ging er langsam auf die Heide hinaus, immer weiter, als sei er für ewig verstoßen, und er wußte, daß er nicht wiederkehren würde, ehe die Strafe nicht von ihm genommen war.
Er wußte nicht, wohin er gehen sollte. Die große, weite Welt war ihm ganz leer geworden, und es war ihm, als sei sie überall nur von der schweren steinernen Hand erfüllt. Die Vögel, die über ihn dahinflogen, schienen nur nach ihr zu blicken und die Kunde davon von einem Walde zum anderen zu tragen. Die Sonne schien sich nur um sie zu drehen, und die Bienen in der Heide, die summend herangeflogen kamen und sich an ihrer Eiseskälte stießen, flogen zornig davon und trugen die Nachricht von Blüte zu Blüte.
Er schob sie unter den Rock, um sie zu verbergen, aber sie war ihm zu schwer, und er mußte sie wieder herausnehmen, bis sie seinen Arm wieder zu Boden zog.
Er wußte nur, daß er in den großen Wald gehen mußte, wo es dunkel und still war und wo nur die Eichhörnchen oder der Schwarzspecht von seiner Schande erfahren würden. Und im Walde wohnten auch alle die, von denen er gehört hatte, daß sie mehr als Menschenmacht besaßen: die drei Köhler am schwarzen Meiler, oder die drei Schwestern, die Gold spannen, oder die Zwerge, die nach Edelsteinen gruben. Und eines von ihnen würde ihm vielleicht helfen können.
So wanderte er ganz allein durch den tiefen Wald und flocht sich eine starke Schlinge aus Lindenbast, die schlang er sich um den Nacken, so daß sie vor seiner Brust hing und er die steinerne Hand hineinlegen konnte. Und immer wenn er auf sie niederblickte, sah er das Antlitz seiner Mutter vor sich, und das Herz war ihm so schwer, als trüge er einen zweiten Stein tief in seiner Brust.
So kam er in der Dämmerung bis zu der Lichtung, wo der weiße Rauch senkrecht und still über dem Meiler stand. Er fürchtete sich, denn er sah von weitem die drei Köhler vor ihrer Hütte sitzen, und sie waren so groß, daß ihre Scheitel bis zu dem oberen Türbalken reichten. Und ihre Meilerstangen ragten wie junge Bäume über das Dach hinaus.
Da faßte er sich ein Herz, wünschte ihnen einen guten Abend und bat, ob er ein wenig bei ihnen sitzen dürfte.
Der älteste sah ihn mit weißen Augen aus dem verrußten Gesicht an, nickte ihm zu und sagte gutmütig: »Du wärst gerade groß genug, um in unserer Pfanne auf dem Feuer zu liegen.«
»Ich will es gerne tun«, sagte der Knabe, »wenn dies in eurem Feuer wieder lebendig wird.« Und er nahm die Hand aus der Schlinge und wies sie ihnen.
Da erschraken sie und sagten, daß das eine schlimme Sache sei. Und er mußte ihnen erzählen, wie es zugegangen war.
Da schüttelten sie die schwarzen Köpfe, berieten sich leise untereinander und sagten dann: »Wir meinen, daß du die Hand über eine Nacht in den Meiler legen solltest. Im Meiler wohnt eine heilende Kraft, vielleicht daß sie den Fluch von dir nimmt. Aber du darfst kein Wort sprechen, auch wenn ein Stück von deinem Arme dabei hingeht.«
Das versprach er, und sie hießen ihn sich so vor den Meiler legen, daß die Hand in die Glut reichte. Da lag er nun die ganze lange Nacht, und der Rauch fraß ihn in die Augen, daß sie tränten und die Sterne ihm wie zitternde Kreise in einer schwarzen Flut erschienen. Und der Arm begann ihm zu glühen von der Hitze des Meilers, und manchmal meinte er, daß er es nicht überstehen könnte.
Doch hielt er tapfer aus, und die großen Köhler gingen ab und zu und versuchten, ihn zu trösten.
Am Morgen aber, als die Sonne über den Wald stieg und er zitternd die Hand aus dem Meiler zog, war sie wie zuvor, nur geschwärzt von der Glut, und sein Arm darüber war mit Brandblasen bedeckt.
Da strichen die Köhler ihm Öl auf die Wunden und schüttelten die schweren Köpfe. »Feuer ist zu schwach dagegen«, sagten sie. »Du mußt es mit Blut versuchen. Todsünden werden immer mit Blut abgewaschen.«
Und sie wiesen ihm den Weg zu den drei Schwestern, die Gold spannen. Die seien klüger als die armen Köhler und würden schon etwas für ihn wissen. Und sie gaben ihm von ihrem schwarzen Brot und ihrem Speck und ließen ihn bekümmert gehen.
Da war er nun wieder allein und noch verzagter als am Tage vorher. Er hatte nie gewußt, was eine Todsünde war, nur daß sie etwas Schreckliches war, und nun wußte er es. Ein paar Tränen traten ihm in die Augen, aber da er nicht gewohnt war zu weinen, so wischte er sie schnell mit der Linken fort und achtete dann genau auf seinen Weg. »Die Schwestern werden mir schon helfen«, dachte er, aß von seinem Brot und ging tapfer vorwärts.
Am Abend kam er zu einem kleinen grauen Haus, das war ganz von Wildrosen umrankt, und die Abendsonne spiegelte sich in den Fenstern. Vor der Tür aber saßen die drei Schwestern, die waren alt wie seine Muhme, aber sie hatten strenge Augen, mit denen sahen sie ihm schweigend entgegen. Dabei hörten sie nicht auf, ihre Spinnrocken zu drehen, so daß es klang, als drehten drei schwere Hummeln sich im Grase, und die goldenen Fäden, die sie spannen, schimmerten herrlich in der Abendröte.
Da blieb er ängstlich vor ihnen stehen und wußte nicht, wie er von seinem Unglück berichten sollte.
»Weshalb trägst du deine Hand in der Schlinge?« fragte ihn endlich die älteste.
Da erzählte er alles und verbarg nichts von seiner Sünde.
»Das ist eine schlimme Sache«, sagten sie und sahen ihn an, als hätte er einen Menschen erschlagen. Aber als die Tränen ihm wieder in die Augen stiegen, wurden sie freundlicher und berieten leise miteinander.
»Feuer ist für kleine Sünden gut«, sagte dann die älteste. »Aber nicht für eine Todsünde. Todsünden muß man mit Blut waschen. Nun höre zu! Jede Nacht kommt ein Wolf zu unseren Schafen, von denen wir die Wolle nehmen, und wir können uns seiner nicht erwehren. Denn er ist größer und wilder als alle Wölfe des Waldes. Diesen mußt du bezwingen und seinen Leib öffnen und deine Hand eine Nacht lang in seinem Blute baden. Vielleicht daß sie davon wieder lebendig wird. Und das ist alles, was wir dir raten können.«
Da bedankte er sich, nahm eine Axt, die sie ihm reichten, in die linke Hand und machte sich in die Heide auf, wo er die Schafe in einer Hürde erblickte. Er lag unter ihnen, bis die Sterne am Himmel erschienen, und setzte sich dann in das kleine Tor, die Axt über den Knien und die Augen auf den Wald gerichtet.
Als die Schafe sich dichter aneinander zu drängen begannen, merkte er, daß es Zeit sei, stand auf und nahm die Axt in die linke Hand. Zuerst sah er die Augen des Wolfes als zwei grüne Lichter, die dicht über der Heide standen, und dann den großen dunklen Schatten, der lautlos näher schlich. Da hob er die Axt und schlug sie mit aller Wucht nieder, aber die Schneide zersplitterte an der Stirn des Tieres, und es wich nur um einen Schritt zurück.
Da wußte er sich in seiner Not keinen andern Rat, als daß er die steinerne Faust auf den Kopf des Wolfes niederfallen ließ, und im selben Augenblick lag das Tier tot zu seinen Füßen.
Da erschrak er, daß solche Kraft in der leblosen Hand lag, und erst nach einer Weile konnte er sich niederbeugen, den toten Leib öffnen und seine Hand in das warme Blut legen. Und obwohl es ihn ekelte, lag er doch die ganze Nacht so still wie ein totes Holz, fühlte den Tau langsam in sein Haar fallen und sah die silbernen Sternbilder ganz, ganz langsam aufsteigen und wieder über den Wald niedersinken.
Am Morgen aber, als die Sonne über die Heide stieg und er zitternd die Hand aus dem Leib des Wolfes zog, war sie wie zuvor, nur gerötet vom Blut, und nur die Brandblasen waren geheilt.
Da ging er traurig zu den Schwestern zurück und wußte sich keinen Rat. Aber sie trösteten ihn, dankten ihm, daß er den Wolf getötet hatte, und schickten ihn zu den Zwergen, die am Fuße des Gebirges lebten. »Sie sind im Unterirdischen zu Hause«, sagten sie, »und sie werden besser über Todsünden Bescheid wissen als wir.«
Und zum Dank nahmen sie ihm die Schlinge aus Lindenbast ab, die war trocken und brüchig geworden, und flochten ihm eine neue aus ihren Goldfäden. Darein legte er nun seine schwere Hand und ging mit neuer Hoffnung davon.
Als er viele Tage gewandert war, sah er das Gebirge blau und hoch vor sich aufsteigen, und er verwunderte sich, wie viel doch auf dieser Erde zu sehen war. Er stieg immer höher, über Wiesen, die waren mit blauen Blumen bedeckt, durch Lärchenwälder und niedriges Gestrüpp, und endlich sah er die erste Steinwand vor sich aufragen.
Da setzte er sich ein wenig nieder, weil ihm die Knie zitterten, trank etwas von dem kalten Quellwasser und machte sich dann wieder auf, um die Zwerge zu suchen.
Er suchte auf und ab, bis er in der Ferne ein leises Klingen hörte, als schlage ein kleiner silberner Hammer auf einen kleinen Amboß. Darauf ging er dann zu, und als er um eine Bergecke bog, sah er sie fast zu seinen Füßen sitzen.
Es waren drei Zwerge, einer älter als der andere, und sie hämmerten alle drei an einem kleinen Armreifen, der war aus Gold und so dünn wie ein Hauch.
»Was will das Menschenwesen?« fragte der eine und sah ihn unter seinen grauen Augenbrauen mit Strenge an.
Da erzählte der Knabe von seinem Unglück und wie die drei Schwestern ihn geschickt hätten.
»Eine schlimme Sache«, sagte der zweite und klopfte mit seinem kleinen Hammer vorsichtig an der steinernen Hand herum. »Eine sehr schlimme Sache, und so etwas ist uns noch nicht vorgekommen.«
Dann standen sie alle drei um ihn herum, befühlten seine Hand und schüttelten die kleinen Köpfe. »Wir könnten dir eine eiserne Hand schmieden und ansetzen«, sagte der älteste, »oder auch eine silberne, aber es würde dir zu nichts nütze sein, denn du würdest sie nicht bewegen können. Die Sünde ist es, die sie leblos macht, und die Sünde muß aus ihr herausgezogen werden, darauf kommt es an.«
Schließlich nahmen sie ihn freundlich in ihre Mitte und führten ihn in den Berg hinein. Da gingen dem Knaben wohl die Augen über von dem, was er an Schätzen und Herrlichkeit sah, aber das Herz war ihm schwer, und er wußte nicht, was er beginnen sollte, wenn ihm auch hier keine Hilfe wurde.
Die Zwerge aber führten ihn durch viele Gänge und Hallen bis in einen prächtigen Raum, der war von silbernen Lampen erhellt, und in seiner Mitte lag auf einem goldenen Bett ein Zwerg, der war uralt und ganz schwach vor Alter und Krankheit, und es war der weiseste von ihnen allen.
Da erzählten sie ihm von der Todsünde des Knaben und daß sie sich keinen Rat wüßten.
Der Alte blickte den Knaben bekümmert an und ließ seine verrunzelte Zwergenhand langsam über die Hand von Stein gleiten. »Wußtest du denn nicht«, fragte er mit seiner leisen Stimme, »daß sie dich geboren hat? Und wieviel sie geduldet hat um dich? Dulden und gedulden aber ist das Gleiche. Wer seine Hand in Feuer legt, hat noch nicht Geduld gelernt. Und wer seine Hand in Blut legt, hat noch keine Geduld gelernt. Etwas anderes wirst du tun müssen und die anderen werden es dir sagen.«
Und damit nickte er ihm bekümmert zu, und die Zwerge führten ihn wieder hinaus. »Sei nur getrost«, sagten sie leise, »er wird dir schon helfen.«
Nach einer Weile kamen sie dann wieder, führten ihn schweigend aus der Höhle hinaus und forderten ihn auf, sich auf eine Steinbank zu setzen, die stand unter einem überhängenden Felsen, und von dort konnte man weit hinaussehen über Wälder und Täler, bis an den fernen blauen Horizont.
Und wie er so dasaß und das Herz ihm vor Erregung klopfte, legten sie ein paar Körner in seine geöffnete Steinhand, die waren von einer Pflanze, die er nicht kannte, und hießen ihn ganz still sitzen, solange, bis es ihm anders befohlen würde.
Da saß er nun und dachte an seine Mutter und wie ihr Herz sich grämen würde um ihn. Und gegen Abend kam ein kleiner bunter Vogel auf seine Hand geflogen, der sah ihn zutraulich an und nahm eines der Körner in seinen Schnabel und flog davon.
Die Zwerge aber brachten ihm Speise und Trank und eine Decke für seine Schultern, nickten ihm zu und ließen ihn allein. Das Tor der Höhle schloß sich hinter ihnen, die Sterne zogen über den dunklen Tälern auf, der Tau fiel lautlos vom Monde herab, und der Knabe saß still, ganz still, und wartete auf den Morgen.
Am Morgen aber kam der Vogel wieder und nahm ein Korn, und als er das letzte Korn geholt hatte, begann er, Moos und Grashalme in die steinerne Hand zu legen, solange bis ein warmes Nest entstanden war. Darin setzte er sich nieder, und wenn er bisweilen zur Quelle flog, um zu trinken, sah der Knabe, daß drei buntgefärbte Eier im Neste lagen, die waren rund und schön wie bunte Kieselsteine, und er hielt die Hand ganz still, daß sie nicht durcheinanderrollten.
Und als die Eierschalen zerbrachen und die winzigen Jungen im Nest lagen, wagte er kaum zu atmen, daß sie sich nicht fürchten sollten, und sah nun voller Erstaunen zu, wie unermüdlich und geduldig der Vogel Futter für die Kleinen trug.
Der Sommer ging hin, und erst als die Nadeln der Lärchen sich zu färben begannen, hoben sich eines Morgens die jungen Vögel aus dem Nest und flatterten ungeschickt zu den nächsten Ästen hinüber.
Da atmete der Knabe tief auf und dehnte seine Glieder und lächelte den drei Zwergen zu, die herbeikamen und das verlassene Nest vorsichtig aus seiner steinernen Hand hoben.
Und dann schrie er leise auf, denn die Fingerspitzen waren gerötet, und als der eine der Zwerge leise mit dem kleinen Hammer an sie schlug, empfand er die Kühle des Metalls.
»Das ist nun alles, was wir tun können«, sagten die Zwerge, »und es ist wenigstens ein Anfang. Und du darfst nicht traurig sein, weil es nur ein Anfang ist. Gehe nun an dieser Quelle abwärts, so weit, bis sie ein Strom geworden ist. Und wo drei alte, ganz verkrümmte Weiden am Ufer stehen, dort wirst du eine Frau sitzen sehen, die ist schwarz gekleidet und trägt Trauer um ihre kleine Tochter, die dort ertrunken ist. Der erzähle von deiner Not und tue dann, was sie dir sagen wird.«
Da bedankte sich der Knabe, legte seine Hand wieder in die goldene Schlinge und stieg bergab. Es dauerte lange, bis die Quelle ein Bach wurde, und noch länger, bis sie ein Fluß wurde, und der ganze Winter und ein Teil des Frühlings gingen dahin, ehe der Fluß ein Strom wurde.
Aber dann blühte schon das Vergißmeinnicht am Ufer, und die Rohrsänger sangen im Schilf, und weiße Wolken spiegelten sich in der ziehenden Flut, als er in der Ferne die drei gekrümmten Weiden erblickte und eine dunkel gekleidete Frau, die saß an ihren Wurzeln und hielt einen kleinen verwelkten Kranz in den Händen, der ihr von ihrem Kinde übriggeblieben war.
Da ging er nur ganz langsam näher, denn er fürchtete sich noch mehr als bei den Zwergen oder den drei Schwestern. Denn das Gesicht der Frau war so steinern vor Schmerz wie seine Hand, und ihre Augen waren so leer, als wären sie erblindet. Da war ihm, als würde auch seine Mutter so aussehen, wenn er jemals heimkäme, und die Tränen stürzten ihm nun das erste Mal aus den Augen, solange er denken konnte, als er vor ihr niederkniete und seine schwere Hand auf ihren Schoß fiel.
Da sah sie ihn mit ihren leeren Augen wie aus der Ferne an und fragte leise: »Weshalb weinst du?«
Und als er es ihr erzählt hatte, strich sie ihm sanft über das Haar und sagte: »Du armes Kind, du hast nicht gewußt, was du tust. Nun sitzt sie und weint nach dir, und du weißt noch nicht, wie bitter Tränen sind. Weißt du es?«
Nein, er wußte es nicht.
»Siehst du, aber ich weiß es«, sagte sie traurig und strich mit ihren weißen Fingern über den verwelkten Kinderkranz. »Und weil ich es weiß, will ich dir auch helfen. Nicht Feuer und nicht Blut können dich heilen und keine Geduld, die du bei den Zwergen gelernt hast, so nötig sie dir ist. Denn auch sie wußten nur das Vorletzte und nicht das Letzte, weil keiner von ihnen ein Kind geboren und verloren hat.
Höre mir nun zu! Ich habe solange geweint, Jahre um Jahre, daß ich keine Tränen mehr habe. Nur wenn der Vollmond scheint, um die Mitte der hellsten Nacht, fallen zwei Tränen aus meinen Augen, zwölfmal im Jahr, und es sind blutige Tränen, weil sie nicht aus meinen Augen, sondern aus meinem Herzen kommen. Und diese Tränen sollst du in deiner armen verlorenen Hand auffangen, bis das Jahr zu Ende ist. Und sollst sie Schritt für Schritt bis zu deiner Mutter tragen und ihr damit die Wange waschen, auf die du sie geschlagen hast. Und wenn du das getan hast, dann wird deine Hand sein wie früher, und der Fluch wird von dir genommen sein. Willst du das tun?«
Da versprach er alles mit ergriffenem Herzen und baute sich ein Lager von Schilf unter den Weiden und achtete jede Nacht auf den Mond bis er sich erfüllt hatte. Und in der hellsten Nacht kniete er vor der Frau nieder, und um die Mitternachtsstunde fing er die beiden schweren Tränen in seiner Hand auf, die waren rot, und er glaubte sie brennen zu fühlen durch seine steinerne Hand hindurch bis in sein Herz hinein.
Und dann saß er so still da, als wäre er ganz aus Stein und nicht nur seine Hand, und hielt in ihr die beiden roten Tränen, noch stiller und sorgsamer, als er die Vogeleier oder die flaumigen Jungen gehalten hatte, und die Frau gab ihm Speise und Trank und wärmte ihn an ihrer Brust in den kühlen Nächten.
Und als der Vollmond sich zwölfmal gerundet hatte, war der Boden seiner Hand mit ihren Tränen gefüllt, und sie entließ ihn und trug ihm auf, nichts davon zu verschütten, und sollte er auch ein Jahr mit ihnen unterwegs sein.
Da nahm er Abschied von ihr und bedankte sich und ging langsam den Strom hinunter, Schritt für Schritt, so langsam, als trüge er ein brennendes Licht in der Hand. Und die Vögel lärmten nun nicht mehr über ihm, sondern sahen ihm still nach, und manchmal setzte sich ein Buchfink auf seine Schulter, weil er so still und gerade vor sich hinging, und zwitscherte leise an seinem Ohr und flog wieder davon.
Da nahm er es als ein gutes Zeichen.
Und als die Buchen am Strome sich leise zu färben begannen, sah er das Haus von ferne, und er sah, daß das Dach sich geneigt hatte und die Rohrdecke von den Stürmen hier und da aufgerissen war. Da wurde ihm das Herz wieder schwer, weil er so lange fort gewesen war und niemand der Mutter geholfen hatte.
Und als er vor der Schwelle stand und nicht wußte, ob er eintreten sollte oder nicht, trat die Mutter heraus, und sie war alt geworden und ihr Haar war weiß an den Schläfen.
Da weinte er bitterlich auf, fiel vor ihr nieder und bat, daß sie ihm vergeben möchte.
Sie aber zog ihn schnell an ihre Brust, küßte und tröstete ihn, und während sie die Tränen aus seinen Augen wischte, tauchte er die Fingerspitzen der linken Hand in die Tränen, die in seiner steinernen Hand lagen, und glitt damit über die Wangen der Mutter.
Da blühten ihre Wangen wieder auf, und das weiße Haar an ihren Schläfen wurde wieder blond, und von seiner rechten Hand fiel alle Starrheit ab, und sie war jung und lebendig wie ehedem.
Da schrie er auf vor Freude und Glückseligkeit und bat seine Mutter, doch einmal wieder seine Hand zwischen ihre Hände zu nehmen, damit er wisse, daß sie ihm vergeben habe.
Sie aber umfing ihn mit ihren Armen und sagte leise zu ihm: »Wußtest du denn nicht, daß diese Hand einmal unter meinem Herzen gelegen hat? Und glaubst du, daß eine Mutter jemals dessen vergessen kann, was sie unter dem Herzen getragen hat?«
Und sie brachte eine Schüssel mit Wasser herbei und wusch ihm die wunden, staubigen Füße.
* * *