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Ein Dialog
(Geschrieben 1904)
Der Junge:
Es ist wohl über ein Jahr her, daß wir uns nicht gesehen haben. Seit meine Freundin gestorben ist, bin ich kaum mehr unter Menschen gekommen, und ich verlasse mein Zimmer nur zu einsamen Spaziergängen. Mein einziges Vergnügen sind die Bücher und das Nachdenken über den Eindruck, den sie mir gemacht haben. Ich glaube, wenn ich jetzt wieder die Feder in die Hand nähme, so könnte ich etwas Tüchtiges leisten.
Der Alte:
And wozu treibt es dich denn? Ein Künstler darf nicht wie ein Jäger sein, der, unbekümmert, was ihm vor den Schuß kommen mag, durchs Gelände streift, sondern er muß wie ein Seemann sein, der den inneren Sinn, das innere Auge unablässig auf ein vielleicht nicht sichtbares, doch tief gewußtes Ziel richtet. Also wozu treibt es dich? Wozu glaubst du dich geboren? Welche Insel des Geistes willst du dir entdecken?
Der Junge:
Ich fühle zu nichts anderm Lust und Freude, als Geschichten zu erzählen. In den Stunden der Einsamkeit und der Sammlung ist es mir, als ob mein Inneres bis zum Rand angefüllt wäre mit Ereignissen und Schicksalen. Oft ist mir zumut, als müsse der ganze Lauf der Welt, von Adams Zeiten an, sich mir in einer besonderen Weise enthüllen, und ich spüre das unbezwingliche Verlangen, wie soll ich es nur sagen? … zu erzählen, zu erzählen.
Der Alte:
Das ist prächtig. Wenn du dieses Verlangen wirklich hast und es nicht darin mißverstehst, wie du es befolgst, dann wärest du allerdings dazu geboren, zu erzählen.
Der Junge:
Wie sollte ich es mißverstehen? Warum zweifelst du? Was gibt es denn Einfacheres?
Der Alte:
Daß es keineswegs einfach ist, keineswegs selbstverständlich, könnte dich schon ein Blick auf die heutigen Erzeugnisse dieser Kunst lehren. Die meisten wissen ja gar nicht mehr, was es heißt: eine Geschichte erzählen, und selbst die Begabtesten bringen lauter Zwitter- und Mißformen hervor.
Der Junge:
Du bist zu streng. Ich glaube nicht, daß du recht hast. Niemals war so viel im Werk wie gerade jetzt.
Der Alte:
Der ewige Irrtum der Jugend.
Der Junge:
Dann muß ich fürchten, daß du auch, was ich selbst bisher geschaffen, verwerfen wirst.
Darauf könnte ich erst antworten, wenn ich wüßte, wie es mit dir steht und ob dich nichts anderes erfüllt als die Liebe zur Sache, ob dein Geist nichts anderes erstrebt als die Vollendung in ihr, ob dir vor der Wahrheit bangt oder ob leichtsinniges Lob dich nicht schon für immer geblendet hat. Wenn du Angst vor einer bitteren Stunde hast, dann verbirg es nicht, ich schweige gern. Du besinnst dich?
Der Junge:
Hältst du denn dein Urteil für unumstößlich, für das einzig mögliche? Kann es nicht auf Täuschung, auf Unmilde, auf Eigensinn beruhen?
Der Alte:
Ich will es dir zu begründen suchen, und wenn du meine Argumente entkräften kannst, werde ich mich zufrieden geben.
Der Junge:
Also sprich.
Der Alte:
Es gibt dreierlei Arten von Schriftstellern: solche, die einen eigenen Stil haben und ihn zur höchsten Vollkommenheit auszubilden vermögen; solche, die einen eigenen Stil suchen, und endlich solche, die einen Allerweltsstil vorfinden und sich zu ihm verhalten wie die Gäste eines Wirtshauses zu den Tischen und Krügen und Stühlen; sie können niemals zum Herrn ihres Wortes, ihrer Gedanken, ihrer Phrase werden, das glühendste Erlebnis muß ihnen erstarren, erhabene Stimmungen werden trivial, jede Inspiration wird Absicht, jede Beeinflussung von außen Nachahmung, alles, was kräftig ist, brutal, und was fein ist, schwächlich. Aber von diesen Schriftstellern, die die Marktware für den großen Haufen besorgen, wollen wir nicht sprechen. Du gehörst zur zweiten Art.
Der Junge:
Das wäre ja weiter nicht schlimm. Suchende sind wir alle. Ja, man kann sagen, daß der größte Meister bis zu seinem Todestage nicht aufgehört hat zu suchen. Warum lächelst du?
Der Alte:
Weil ich an dieser Bemerkung sehe, wie wenig du mich noch verstanden hast. Wenn die großen Meister suchen, so wollen sie den Einklang schaffen zwischen Stoff und Form. Sie wissen, daß es ohne solche Harmonie überhaupt kein Kunstwerk gibt. Und weil sie das wissen und auf diesem Wege zur Vollkommenheit streben und sich wohl hüten werden, die Fülle ihrer Mittel an den falschen Gegenstand oder am falschen Ort zu verschwenden, so wird immer etwas entstehen, was der Kunst und ihrer eigenen Schöpferpersönlichkeit gemäß ist. Sie suchen mit sehenden Augen, ihr aber sucht als Blinde; sie gehen den geraden Weg und kommen an ein Ziel, wenn auch nicht immer an das gewünschte; ihr aber taumelt im Kreise herum. Die Suchenden, die nicht um das Wesen wissen, sind zum Untergang verurteilt.
Der Junge:
Du machst mich wirklich unruhig. Ich könnte dich hassen, wenn ich nicht wüßte, wie ernst du es meinst. Ich ahne, wo du hinaus willst. So rede doch endlich von mir.
Der Alte:
Gut. Zwei Dinge, ein scheinbar äußeres und ein scheinbar inneres, habe ich zunächst an deinen Arbeiten auszusetzen: nämlich, daß sie den Leser nicht mit Behaglichkeit erfüllen und daß es dem Stoff selbst an Daseinsnotwendigkeit gebricht. Beides hängt aber inniger zusammen, als du glaubst; das werde ich dir beweisen.
Der Junge:
Was meinst du mit Behaglichkeit? Das Gegenteil bezwecken wir doch, wenn wir Dichtungen ersinnen: Erregung, Spannung, Teilnahme, Erschütterung. Ich glaube, du treibst deinen Spaß mit mir.
Der Alte:
Geduld. Ich verstehe die Behaglichkeit hier in einem höheren Sinn. Ich verstehe darunter das unbegrenzte Vertrauen des idealen Lesers zum Erzähler. Dieses Vertrauen entsteht durch Glaubwürdigkeit, und die Glaubwürdigkeit entsteht aus der Notwendigkeit des erzählten Gegenstandes. Du siehst, wie fest der Zusammenhang zwischen den beiden Dingen ist, und noch untrennbarer wird er für das Auge und für das Gefühl durch das, was der Laie, der Dilettant, der Durchschnittskritiker die Technik nennt: durch die Art des Erzählens; auch sie ist nur ein scheinbar Äußerliches, denn in Wirklichkeit ist sie die Seele der epischen Kunst.
Das wird zu weit und breit. Du wolltest doch von meinen Arbeiten reden.
Der Alte:
Ich sage, daß deinen Produkten die Behaglichkeit fehlt, weil du nicht die Mittel und das Wissen hast, sie hervorzubringen. Was du schreibst, trägt unverkennbar den Stempel des direkten und indirekten Erlebnisses, aber diese Erlebnisse sind nicht künstlerisch verklärt und erhöht und bleiben daher ohne poetische Wirkungen. Du hast eine starke und natürliche Empfindung, die aber nur selten in ihrer Reinheit wirkt, weil sich der Stoff nicht ganz in ihr aufzulösen vermag. Merkst du nun, wo es hinaus will, merkst du, wie alles Innerliche zugleich ein Äußerliches ist und umgekehrt?
Der Junge:
Ich merke nichts als Pedanterie und höre nichts als Worte. Wenn eine Kunstform nicht ausreicht für das, was ich zu sagen habe, nun, dann erweitere man mir die Form. Wo stehen diese gelehrten Gesetze geschrieben, denen ich mich fügen soll? Wer hat sie gemacht, und wie käme ich dazu, mich vor ihnen zu beugen?
Der Alte:
Wo sie geschrieben stehen? Im menschlichen Gefühl. Wer sie gemacht hat? Das menschliche Gefühl. Warum du dich ihnen beugen sollst? Weil du sonst nicht wirken wirst, weil dein Wort und dein Werk sonst von flüchtigerem Bestand sind als ein Stück Eis in der Sonne. Man hat nämlich im Lauf der Jahrhunderte, der Jahrtausende herausgefunden, was die Menschheit ergreift, tröstet und erfreut, was aus ihren Tiefen stammt und zu ihren Tiefen strebt. Die es befolgten und solche hohen Wirkungen erreichten, nicht blind, sondern durch klarstes Wissen, das waren die Meister. Wer der Belehrung trotzt, kann nicht einmal Schüler werden.
Der Junge:
Also belehre mich.
Der Alte:
Ich sagte vorhin, daß die Elemente sich in dir nicht mischen wollen; Stoff und Empfindung bleiben feindlich und unaufgelöst einander gegenüber. Die Folge davon ist eine immerwährende und überall ersichtliche Dissonanz. Du erzählst eigentlich nicht Ereignisse, sondern du schilderst Begebenheiten und Zustände. Gerade das erscheint dir wichtig, was bei der Erzählung unwichtig ist und sein muß. Du hüpfest von Situation zu Situation, das Dazwischenliegende ist dir ein Notbehelf, wird zum gezwungenen Bericht und enttäuscht durch Nüchternheit. Da du dies Schwanken als Schaffender selbst sehr deutlich empfindest, drängt es dich, Ausgleiche zu bringen, und du mußt zu pathetisch-lyrischen Beschreibungen greifen, in denen die Handlung um keinen Schritt weiter kommt. Denn daran liegt es, wohlgemerkt: Bewegung ist alles, alle Kunst entsteht durch Bewegung. Damit hängt nun aufs engste die Gestaltung deiner Menschen zusammen. Deine Gestalten haben keine Ruhepunkte. Sie sind geschickt und glaubhaft gezeichnet, soweit und solange sie mit der Handlung verknüpft sind, aber davon losgelöst und als Eigenlebende betrachtet, werden sie matt und hölzern. Sie wissen zu genau, was sie sollen, nicht in ihrer Welt, sondern in deiner Welt. Es fehlt die höhere Täuschungsabsicht und Täuschungsmacht. Eine Figur muß leben trotz der Handlung, nicht durch die Handlung. Woher käme es sonst, daß bei allen mittelmäßigen Schriftstellern gerade die Figuren am glaubhaftesten sind, die am wenigsten mit der Handlung und ihren Spannungen verquickt sind, die sogenannten Episodenfiguren? Nur sie verbreiten Behaglichkeit, das heißt Glaubwürdigkeit, weil sie scheinbar keinen Zweck verfolgen. Wenn man also sagen kann, Kunst entstehe durch Bewegung, so muß man hinzufügen, sie wirke durch die scheinbare Zwecklosigkeit der Bewegung.
Der Junge:
Ich habe Zweifel über Zweifel. Hundert Fragen drängen sich mir auf, denn ich sehe schon, wie tief du greifst. Und mir dämmert manches, von dem ich früher nichts ahnen konnte. Aber laß mich fragen. Du sagtest, daß ich nicht Ereignisse erzähle, sondern Begebenheiten und Zustände schildere, und ich muß gestehen, dabei verwirren sich mir die Begriffe. Ist es nicht bloß ein Wortspiel? Welcher Unterschied scheint dir denn zwischen Erzählung und Schilderung zu bestehen? Ich meine, inwiefern die Wirkung eines Werkes dadurch beeinträchtigt wird. Sind das nicht schulmäßige Begrenzungen?
Nehmen wir einmal an, du habest eine schwierige und gefahrvolle Reise hinter dir, habest lebensgefährliche Abenteuer bestanden, habest jahrelang als verschollen und verloren gegolten und seiest nun doch zurückgekehrt. Alles ist gespannt zu hören, wie du das bewerkstelligt hast und wie es dir ergangen ist. Du setzest dich in den Kreis der Neugierigen und Teilnehmenden und erzählst, beginnst mit der Fahrt übers Meer, der Aufzählung deiner Gefährten und kurzer Andeutung ihrer Art und ihrer bisherigen Schicksale, fährst fort mit der Landung, dem Aufbruch in die unbekannten Gebiete und so weiter und so weiter. Wäre es nun angebracht, das Interesse der Zuhörer durch Beschreibungen von Landschaften, von Tieren, von Pflanzen zu ermüden? Wenn du dies tätest, würde in ihnen ein leises Mißtrauen gegen den Ernst und die Schwere deiner überstandenen Schicksale entstehen. Sie wollen wissen, wie es dir ergangen ist, nichts weiter, und je einfacher und sachlicher du bist, je glaubhafter werden deine Erlebnisse klingen. Nicht mit einem Wort brauchst du zu schildern. Das Bild der Landschaft und des Landes wird ganz von selbst in der Phantasie entstehen; je weniger du davon sprichst, je stärker wird die Phantasie der Hörer es erblicken, und zwar durch dein Erlebnis selbst. Unwillkürlich gehen sie deinen Weg mit und sehen sie mit deinen Augen. Es kommt ganz und gar nicht darauf an, daß das Bild der Wirklichkeit entspricht, das sie sich davon machen, es handelt sich nur darum, daß durch ihre seelische Bewegung ein Bild entsteht. Diese seelische Bewegung bildet sich nun wieder durch die Bewegung der künstlerischen Materie, und so siehst du abermals, wie Äußeres und Inneres verschmolzen sind und sich verschmelzen müssen.
Der Junge:
Das Beispiel leuchtet mir ein. Es leuchtet mir ein, daß das Abschweifen von einer Sache, die man sich vorgesetzt hat, in der Kunst ebenso unwahrhaftig wirkt wie im Leben, und ich verstehe auch, daß man das Vertrauen des Lesers auf diese Weise verlieren kann. Aber du sagtest etwas von Verklärung und Erhöhung und poetischer Wirkung des Stoffes. Das alles scheint mir nun überflüssig, sobald einmal die Wahrheit, die Wahrhaftigkeit außer Zweifel steht.
Der Alte:
Gewiß, wenn es ein und dasselbe wäre, mündlich zu erzählen oder schriftlich. Dazwischen liegt ein so tiefer Abgrund, daß ihn nicht Geist, nicht Wissen, nicht Wahrhaftigkeit zu überbrücken vermögen, sondern lediglich künstlerische Genialität. Es ist der Abgrund zwischen Wesen und Schein, zwischen dem Spiegel und der Person, die davorsteht, zwischen Leben und Erinnerung, zwischen der Minute und der Ewigkeit. Deine lebendigen Zuhörer sehen dich, sie sehen dich ergriffen, begeistert, bedrückt, das lebendig gesprochene Wort hat eine ganz unabweisbare Zeugniskraft durch sich selbst. Wenn du dieselbe wahre und erschütternde Erzählung deiner Reise mit denselben Worten deines mündlichen Berichtes niederschreibst, kann sie abgeschmackt, verlogen und sozusagen grundlos klingen. Es ist also wieder das scheinbar Äußerlichste, das die Kunstwirkung hervorbringt: der Stil. Um dieselbe Einfachheit, die der Hörer ohne dein besonderes Hinzutun spürt, sofern du nur eine einfache und wahre Natur bist, dem Leser eines Buches glaubhaft zu machen, dazu gehört ein halbes Leben unablässiger Versuche, aufreibender Mühe, qualvollsten Ringens. Im Leben ist das Selbstverständliche, oder wenden wir ein Fachwort an, das Naive eine Voraussetzung, in der Kunst ist es eine letzte Konsequenz, ein Gipfel.
Der Junge:
Die Aufgabe besteht also darin, den Anschein des Selbstverständlichen zu erreichen, innerhalb der Kunst ein Gebilde zu schaffen, das die Züge der Natur trägt. Darüber bin ich mir klar. Doch hat jedes Individuum seine besondere Naivität, jedes »Selbst« seine eigene Selbstverständlichkeit. Gäbe es dennoch gewisse Gesetze, an die unbewußt alle gebunden sind, Schöpfer wie Genießende?
Der Alte:
Wollen wir einmal vom Engsten ausgehen, um ins Weite zu gelangen. Wer sprachliches Gefühl und ein aufmerksames Ohr besitzt, wird wissen oder unbewußt schon früh empfunden haben, daß die vorzüglichste Schönheit unserer Sprache in ihrem Vermögen liegt, eine organisch gegliederte, gleichsam lebende Periode zu bilden. Der Gedanke, die Vorstellung entsteht und kommt zur Erscheinung durch Hauptwort und Zeitwort; das Beiwort tritt heran, um zu verdeutlichen oder zu schmücken, eine zweite Vorstellung oder Handlung will die erste begründen und weiterführen, und der Nebensatz ist geboren, an dem sich dieselben Erscheinungen vollziehen wie im Hauptsatz, nur abgetönt, verkleinert, gemildert. Darin liegt der Rhythmus der Prosa: das An- und Abschwellen des Tones und der Betonung, die gegenseitige Beziehung von Sätzen und Satzteilen untereinander, die freie und eigenbewegliche Anpassung, die Fülle des Ausdrucks bei größter Sparsamkeit mit dem Wort. Die eigentümlichste Kraft der deutschen Sprache ruht im Zeitworts dieses auszubilden, zu formen, gewissermaßen zu isolieren, kennzeichnet den guten Prosaisten, während der mittelmäßige sich mehr auf das schmückende Beiwort verlegt – ganz natürlich. Prüfe doch den Stil unserer guten Erzähler auf diesen Umstand hin: wie das flutet und in majestätischer Ruhe hinfließt, immer bewegt und immer gegen ein erreichenswertes Ziel bewegt. Das Beiwort wirkt erstarrend und ist nur mit Vorsicht zu gebrauchen, und nur die anschauende Phantasie kann es an den rechten Platz stellen; das Verbum belebt und ist das eigentlich motorische Element im Satzbau. Es ist stets interessant, den guten Erzählerstil lediglich auf seinen sprachmelodischen Gehalt hin zu prüfen, sich zu überzeugen, wie die Periode der Atmung entspricht, wie sinnvoll gegliedert Satz und Nebensatz auftreten, und wie der Gesang abläuft, wenn der Absatz zu Ende ist. Eigentlich müßte man ein gutes Prosabuch schon an der typographischen Anordnung erkennen, die sozusagen seine Fassade vorstellt. Dazu kommt nun beim epischen Künstler das geistige Erlebnis des Bildes und die seltsame Empfindung für die plastische Nähe des Wortes, die ihn vor Verflachung seines Ausdrucks bewahrt. Denn wie könnte sonst eine Schriftsprache jahrhundertelang gesund und triebfähig bleiben? Die Auserlesenheit der Wendungen tut es nicht, Geschmack und Formensinn allein sind ebenfalls nicht zeugungskräftig, nur das Mitleben mit dem Wort als einem Organismus bewahrt die Sprache der Epik vor dem Verwelken und Absterben. Das begreiflich zu machen ist schwer, wenn du es nicht fühlst.
Der Junge:
Ich fühle es.
Der Alte:
Die meisten jungen Prosaisten sind Wortsucher, aber was schlimmer ist, sie verstehen auch nicht in großem Atem zu erzählen. Ich leugne nicht die Berechtigung des Schriftstellers, seine Sätze auseinanderzureißen und sie im stürmischen Tempo aufmarschieren zu lassen, wenn ihn die Situation und seine Natur dazu auffordern. Aber so wenig ein Mensch lange Zeit hindurch im Zustand der Atemlosigkeit verweilen kann, so wenig verträgt dies ein Buch, ohne daß es Unbehagen und Widerwillen erregt. Ich habe Bücher in der Hand gehabt, in denen lauter enge und engbrüstige Sätzchen nebeneinander standen, stumpf und traurig wie Soldaten bei der Parade. Einzelne Satzglieder schwammen wie abgeschnittene Hände und Füße in einer Brühe überflüssiger Interpunktionen, und der Rhythmus war zerfetzt, weil eine anständige Mittelmäßigkeit des Schreibens weniger geachtet wird als ein gequälter Unsinn, oder weil das Gefühl erweckt werden sollte, der Verfasser sei tief ergriffen gewesen von dem, was er geschrieben. Von dem Verfasser wird gar keine Ergriffenheit verlangt; Gott hat nicht jedem Baum und jedem Berg einen Zettel umgehängt, auf dem zu lesen steht: wie schön, wie gewaltig, wie charakteristisch bin ich. Gott ist bescheiden, er ist unsichtbar in seiner Welt versteckt, und mit den großen Künstlern ist es ebenso. Vom Erzähler wird Unsichtbarkeit verlangt, von dem, was er erzählt, höchste Sichtbarkeit.
Der Junge:
Dagegen ist nichts einzuwenden. Es ist aber keineswegs zu leugnen, daß etwa in einem dickbändigen Roman die strenge Form der Erzählung schwer, wenn nicht unmöglich, festzuhalten ist. Ein solches Buch müßte durch seine Eintönigkeit langweilen, glaube ich, und man kann dem Autor nicht Unrecht geben, wenn er dies Schicksal durch dramatische Gespräche und aufregende Schilderungen von seinem Buche abzuwenden sucht.
Der Alte:
Das ist ein Thema für sich. Man kann von einem Kochbuch nicht verlangen, daß es wissenschaftliche Aufgaben löst. Wenn es einem Dichter zu schwer fällt, ein Kunstwerk zu schaffen, so begnüge er sich mit dem Machwerk, aber er soll dann nicht beanspruchen, ein Künstler genannt zu werden. Müssen denn die dickbändigen Ungeheuer geschrieben werden, von denen du sprichst? Hier finde ich den Alten entschieden im Irrtum. Seine etwas akademische Manier verhindert ihn, die Polyphonie eines epischen Werkes zu erfassen. J.W. Und wenn sie geschrieben werden müssen, bin ich etwa verpflichtet, mich mit ihnen zu beschäftigen? Wollten wir unsere Erörterungen in diesen niedern Kreis stellen, was wäre da nicht alles zu sagen, worüber zu klagen: über die Frauenschreiberei, das Zeitungswesen, die elenden Übersetzungen aus andern Sprachen und so weiter. Doch wir wollen das künstlerischste aller Gesetze auch auf unsere Unterhaltung anwenden und bei der Sache bleiben.
Der Junge:
Dennoch gibt es Mischprodukte, die man nicht verwerfen darf und die eine tiefere Wirkung und ein gewaltigeres Entstehungsmotiv haben als die reinen Kunstwerke. Das darf man nicht vergessen.
Der Alte:
Ich halte das für falsch. Diejenigen Werke der Kunst, die an Wirkung und Dauer hinter den Erzeugnissen zurückstehen, die du erwähnst, sind eben dann nicht wahrhaftig lebendig, und ihr Untergang ist nur eine Frage der Zeit.
Der Junge:
Alles ist dem Untergang geweiht. Selbst Homer und Shakespeare.
Der Alte:
Eine törichte Phrase. Sie werden untergehen, wenn der Erdball versinkt und das Licht sich in Finsternis verwandelt. Sie gehören eben der Menschheit an, und von einer Unsterblichkeit über die Menschheit hinaus zu reden, hat keinen Sinn.
Folgendes ist mir nicht ganz klar. Es handelt sich doch bei der Erzählung um das Darstellen eines Vorganges und innerhalb des Vorganges wieder um das Ausmalen einzelner Bilder oder Situationen, denn ohne solche Bilder würde ich doch mehr Geschichtsschreibung treiben als Kunst. Wie bringe ich nun die Situation, ohne gegen das Gesetz des epischen Weiterströmens zu verstoßen? Mit einem Wort, wie kann ich erzählerisch und plastisch zugleich sein?
Der Alte:
Zur Beantwortung dieser Frage will ich dir eine Stelle aus »Wilhelm Meisters Lehrjahren« vorlesen. Es heißt da: »Zwei bis drei Häuser standen in vollen Flammen. In den Garten hatte sich niemand retten können wegen des Brandes im Gartengewölbe. Wilhelm war verlegen wegen seiner Freunde, weniger wegen seiner Sachen. Er getraute sich nicht, die Kinder zu verlassen, und sah das Unglück sich immer vergrößern. Er brachte einige Stunden in einer bänglichen Lage zu. Felix war auf seinem Schoße eingeschlafen, Mignon lag neben ihm und hielt seine Hand fest. Endlich hatten die getroffenen Anstalten dem Feuer Einhalt getan. Die ausgebrannten Gebäude stürzten zusammen, der Morgen kam herbei, die Kinder fingen an zu frieren, und ihm selbst ward in seiner leichten Kleidung der fallende Tau fast unerträglich. Er führte sie zu den Trümmern des zusammengestürzten Gebäudes, und sie fanden neben einem Kohlen- und Aschenhaufen eine sehr behagliche Wärme. Der anbrechende Tag brachte nun alle Freunde und Bekannte nach und nach zusammen,« und so weiter. Du siehst' hier deutlich, wie keusch und zurückhaltend das außerordentliche Ereignis in der allgemeinen erzählerischen Stimmung sich auflöst. Ruhig schließt sich an die sparsame Ausmalung der schönen Situation von den am Aschenhausen liegenden Personen der neue Vorgang, und im Satzgefüge herrscht nicht die mindeste Erregtheit. Vergleiche damit einmal die Darstellung einer Feuersbrunst bei Zola; Einzelheit drängt sich an Einzelheit. Die ungeheure Flut der Einzelheiten vernichtet das Bild und überschwemmt die Phantasie. Aus fünfzig Seiten eines Schilderers macht der Epiker zehn Zeilen. Auch dies scheint mir heute nicht mehr ganz wahr. J. W.Der erzählende Stil beruht keineswegs auf der Ausmalung der Situationen, sondern er ruft die Situation nur zu höherem Zweck hervor, um sie in vollkommener Ruhe vorübergleiten zu lassen. Geradezu musterhaft ist darin Kleist, der vielleicht das reinste erzählerische Genie ist, das wir besitzen. Wie im Volksmärchen, mit einer erhabenen Knappheit erzeugt er Bewegung um Bewegung. Nur dadurch entsteht zugleich die Lebendigkeit der Periode, es wird ihr das Papierene genommen, das sie auch beim vollendetsten Schilderer hat; sie besitzt plötzlich innere Kraft, das Blut des atmenden Geschöpfes, und wie das Werk im Ganzen, ist sie für sich allein ein Organismus mit Fleisch und Seele. Der Baum setzt sich aus winzigen Zellen zusammen; die Gesundheit seiner Früchte hängt ab von der Gesundheit jener unscheinbaren Gewebe. Die Breite und Fülle der Periode bedingt die Breite und Fülle des Ganzen; nicht Abenteuerlichkeit der Vorgänge, nicht Weitspurigkeit der Anlage, nicht die ausgesuchteste psychologische Tüftelei, keine Neuartigkeit des Themas, keine äußere Spannung, nicht Geist, nicht Witz, nicht philosophische Tiefe kann ein Werk, dem jene Eigenschaften wahrer epischer Breite und Ruhe mangeln, zum Rang eines Kunstwerkes erheben.
Der Junge:
Jetzt ist es auf einmal wieder die Ruhe. Wir haben doch festgestellt, daß es die Bewegung ist, die der Kunst das Leben gibt, wir haben es sehr schön gefunden, daß die Zwecklosigkeit der Bewegung den Kunsteindruck hervorbringt, nun soll auf einmal die Ruhe das Allesbedingende sein. Das ist verwirrend. Ruhe? Das wäre ja gleichbedeutend mit Kälte, das hieße ja, das ganze Wesen des Dichters verkennen, dem Artistentum das Wort reden.
Der Alte:
Beschwichtige deinen Eifer, du wirst gleich sehen, wie unbedacht er ist. Die erzählende Kunst stellt Vergangenes dar. Es handelt sich um ein Gelebt-Haben, Gesehen-Haben, Geschehen-Sein. Während das Drama auf der Gegenwärtigkeit der Geschehnisse, der Leidenschaften beruht, ist das Epos oder die Novelle ein Zurückgewandtes, Zurückschauendes, – ganz natürlich, und so ist es durch seine Form zu einer größeren Ruhe und Gemessenheit verurteilt, denn seine Wiedergabe setzt doch einen Betrachter voraus, einen Beobachter, einen Urteilenden, Zusammenfasser. Während das Drama ein scheinbar freistehendes, isoliertes Eigenprodukt ist, weist die Erzählung beständig und auf jeder Zeile auf den Erzähler zurück, und von dessen Haltung hängt alles ab. Es handelt sich also nur um eine scheinbare Kälte und Ruhe, um ein Zurückhalten des Feuers. Der Schöpfer eines solchen Werkes ist um so mehr darauf angewiesen, seine eigene Persönlichkeit zu verbergen, da er es doch selbst ist, der die ganze Welt, die er hervorbringt, repräsentiert. Wenn er aufhört, unsichtbar zu bleiben, leidet unsere Illusion Schaden, und die scheinbare Ruhe enthält also für ihn alle Wirkungen seiner Kunst. Uns dennoch aufs innigste mit dem Werk zu verknüpfen, uns alles mit seinem eigenen Auge, seiner eigenen launigen oder tragischen Seelenstimmung erleben zu lassen, das hängt von seiner Person und seinem Dichterwert ab. Seine Weltanschauung und geistige Kraft einerseits und die Ruhe andererseits, die ihn befähigt, Licht und Schatten zu verteilen, Bilder zu erzeugen, Zeitperspektiven zu bilden, können die beiden Pole genannt werden, zwischen denen sich seine Kunst bewegt. Deswegen verlangt die epische Kunst eine vollkommene Reife des Geistes.
Der Junge:
Es handelt sich also nicht um unterdrücktes Gefühl, sondern um gebändigtes Gefühl, um verteilte Wärme. Dann leidet auch das Werk Schaden, wenn zu viel Licht auf eine einzelne Gestalt fällt? Offenbar. Wie verhält es sich also mit den Gestalten? Wie weit dürfen sie sich aus der Fläche der Erzählung plastisch heben?
Das hängt von Stoff und Ton des Ganzen ab. Laß uns einmal den Gang verschiedener Werke epischer Prosa auf diesen Umstand hin vergleichen: »Herodots Geschichten«, den »Don Quichotte«, den »Wilhelm Meister« und Tolstois »Krieg und Frieden«.
Herodot besitzt die natürliche, persönliche Naivität, die dem Zeitalter und einer jungen, aufsteigenden Kultur entsprechen. Er hat weder Vorbilder, noch bedarf er ihrer. Er ist nicht bemüht, eine Kunstform zu prägen. Er vermeidet Schmuckworte. Er hält sich von allen Abstraktionen fern. Er »erzählt«. Sein Ton ist der eines Mannes, der reich an Erfahrungen und an Wissen unter den Seinen sitzt und ebenso einfach wie wahrhaftig von allem Kunde gibt. Gleichwohl zeigt sein Werk eine feste Stileinheit, und das nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich: die Handlungen des Menschen stehen unter dem Walten der Nemesis. Von dieser Weltanschauung durchdrungen, erhält seine Schöpfung nicht nur sittliche Größe, sondern auch künstlerische Macht.
Cervantes fußt natürlich bereits auf Traditionen. Aber er vernichtet sie, indem er sich ihrer bedient. Die Sittenschilderung und die Aktion ordnen sich äußerlich einem Plan und geistig einer Idee unter. Indem er gegen den pathetischen Heros des Katholizismus zu Felde zieht, findet er jene hohe Form der Darstellung, die wir Humor nennen und die seinen Gestalten weitaus bedeutungsvollere Konturen gibt, als sie in der Realität ihrer Existenz zu haben scheinen. Auch Cervantes ist ein (im banalen Sinn) naiver Erzähler; aber an seiner Naivität hat der Kunstverstand schon wesentlichen Anteil. Es ist klar: das ist nicht mehr der Berichterstatter wahrhafter Begebenheiten. Mit der Schöpfung einer Phantasiewelt hat die unbefangene Freude am Ereignis und seiner Wiedergabe ihr Ende erreicht. Dem Erzähler muß sich der Fabulist beigesellen, und Fragen technischer Natur entstehen wie von selbst. Hier ist alles schon Kunst: die Charaktere und ihre Gestaltung, die planvoll geschürzten Fäden der Handlung, der Dialog und seine motorische Bedeutung. Aber durch einen wunderbaren Instinkt hat all dies wieder die Farbe der Natur erhalten, das täuschende Gewand der Wahrheit.
Goethes Roman ist in erster Linie das Manifest einer großen Persönlichkeit. Wenn der spanische Dichter Bilder entrollte, hinter denen er wortlos verschwand, so bleibt der Deutsche vor dem Geschaffenen stehen und bringt es durch sein Wesen, durch seine Gebärde, durch seine begleitenden Worte erst ins rechte Licht und zur rechten Geltung. Seine Darstellung ist kühl und überlegen, philosophisch gemessen, und nie vergißt man über den Figuren den Zauberer, der sie in Bewegung zu setzen vermag. Cervantes ist groß durch Don Quichotte; Wilhelm Meister ist groß durch Goethe.
In der Dichtung des russischen Dichters endlich sind Stoff und Darstellung in eine unauflösliche Verbindung getreten. Der Schöpfer selbst wird hier zu einem wesenlosen Etwas, ähnlich der Naturkraft, die einem Strom sein Bett anweist. Die Menschen darin sind so stark individuell und andererseits so sehr von dem Schicksale ihres Temperaments getrieben, daß man die Illusion hat, sie müßten, auch aus Milieu und Handlung losgelöst, doch zu denjenigen Erlebnissen und Erfahrungen gelangen, zu denen sie in der Dichtung durch den Willen des Dichters kommen. Sittenschilderung, nationale Besonderheit, menschliche Bedeutsamkeit, künstlerische Ruhe, Einfachheit und Größe, alles verbindet sich zu klarster Wirkung. Der Dialog hat keine motorischen Zwecke mehr, auch nicht philosophische oder tendenziöse, sondern lediglich charakterisierende.
Der Junge:
Stoff und Darstellung sind in eine unauflösliche Verbindung getreten, sagst du. Ich möchte lieber sagen: Stoff und Künstler. Aber was ist der Stoff? Wann wird der Stoff »daseinsnotwendig«? Wann erhält er die Unleugbarkeit eines von der Natur selbst Geschaffenen? Wahrscheinlich muß der eine ihn erleben, der zweite erfinden, der dritte aus der Geschichte nehmen. Dieser braucht eine regelrechte Fabel, jener webt seine Gebilde wie aus einem Traum heraus, der die Bewegung und Stimmung des Lebens und doch die Gesammeltheit der Dichtung hat. Das Wichtige ist demnach nicht die Art des Stoffes selbst, sondern die Intensität der Vision, die er erzeugt und die nicht auf einem Bild zu beruhen braucht, sondern oft, dem Nebelball der Urwelten gleich, Feuer und Vegetation noch in sich verborgen tragen kann.
Der Alte:
Ohne Zweifel. Die Kraft der Vision im Dichter bestimmt die Kraft des Werkes, ihre Dauer und Unvergeßlichkeit aber seine Harmonie. Alles andere hat mit inspiratorischen Dingen nichts mehr zu tun, sondern unterliegt den Gesetzen der Entwicklung. Wo die Vision aufhört, beginnt die geistige Arbeit, das Reich des Geschmacks, des Urteils, der Wahl. Hier ist auch die Grenze zwischen dem Dichter und dem Schriftsteller. Der Dichter und seine Stoffe verhalten sich zueinander wie der Baum zu seinen Blättern, die Stoffe des Schriftstellers aber gleichen den beliebig ausgewählten, ärmlichen oder luxuriösen Möbeln eines Zimmers. Dort wird jeder Mangel die Kehrseite eines Vorzuges sein, hier wird selbst jeder Vorzug auf einen einzigen Mangel zurückdeuten. Dort ein lebendiger Organismus, gleichviel ob kränklich oder stark, hier eine Maschinerie, stümperhaft oder in ihrer Art vollkommen.
Der Junge:
Demnach müßte also eigentlich der Dichter seine Stoffe erleben, der Schriftsteller sie erfinden.
Der Alte:
Das läßt sich nicht auseinanderhalten. Da müßten wir erst feststellen, was es heißt, erleben. Es wäre doch recht ärmlich gedacht, wenn man nur eine äußere Aktion darin sehen wollte, dann wäre es schlimm um jene bestellt, die der Zufall oder soziale Stellung oder persönliche Eigenart vom großen Getriebe fernhält. Das hieße dann: nur derjenige, der einen Mord begangen, kann die Seele eines Mörders enthüllen, und die Frau als eine Welt für sich wäre dem Dichter ein für immer verschlossenes Ding. Ich stelle nicht in Abrede, daß ein gewisses Maß allgemeiner Lebenserfahrung notwendig sei, aber dem, der nicht innerlich das Leiden der Welt und ihrer Geschöpfe erlebt, dem wird es wenig frommen, wenn er seine Tage mit Abenteuern füllt, wenn ihm auch hierdurch die seltsamsten und tiefsten Seiten der menschlichen Natur offenbar werden. Das ist ja eben die besondere Natur des Dichters, daß in ihm gleichsam die Erfahrungen aller andern sich sammeln und zu einem hohen Bewußtsein gelangen; es ist, als ob ihm Gott die Andeutungen und Stichworte gäbe, aus denen er das Gewebe einer zweiten zur knappsten Folgerichtigkeit verdichteten Welt formt. Er ist es, der im Mittelpunkt der Dinge wohnt, er stellt das lebendige Gewissen der Völker dar, er lebt nicht nur in der Gegenwart, nein, ihm ist alles Vergangene zugleich Gegenwart. Und nun der Stoff.
Der Junge:
Ich glaube, daß es gleichgültig ist, ob er die Geschichte eines Schneiders oder eines Welteroberers wählt. Und das Milieu kann immer nur ein Mittel sein, Charaktere zu entfalten und Schicksale zu motivieren.
Der Alte:
Sehr wahr.
Der Junge:
Und doch haben wir von einer Daseinsnotwendigkeit des Stoffes gesprochen.
Der Alte:
Es ist oft genug gesagt worden, daß der Dichter aus einem unbesiegbaren inneren Drang heraus schaffe. Oft im Kampf mit den äußeren Lebensumständen, oft, ja fast immer, im Kampf mit sich selbst. Deswegen ist es eine abgegriffene Phrase, von dem Glück des Schaffens zu sprechen. Es gibt nur eine Verzweiflung des Schaffens und einen ganz kurzen Glücksrausch des Geschaffenhabens. Und dann erst muß der Dichter lernen, sein Werk zu hassen, damit er seine Gebrechen zu erkennen vermag, und je stärker er sein Werk hassen wird, je tiefer wird er die Kunst lieben. Es ist klar, daß das, was unter solchen Widerständen Dasein und Form gewinnt, innere Lebensmöglichkeit und -notwendigkeit haben muß, wenigstens für den Schöpfer. Die Frage ist nur, ob und in welchem Maße das Werk zu den andern Menschen spricht, wieviele Lebenskreise es durch seine Existenz berührt, wieviel andern Wesen es ebenfalls notwendig wird. Das hängt nun von seinem Stoff ab. Ich möchte behaupten, ein Stoff ist um so größer und allgemeiner gültig, je mehr Mythos er in sich trägt, das heißt, je tiefer er in dem Geheimnisvollen, Unbewußten, Religiösen, Phantasiegemäßen eines Volkes und damit der Menschheit wurzelt. Der Dichter ist ja der Mund der Schweigenden. Je größer ein Dichter ist, je mehr Schweigende sprechen aus ihm. Nicht er wählt seinen Stoff, sondern der Stoff wählt ihn. Er trifft ihn, wie der Blitz zuckt er auf ihn herab. Deshalb wird man ebensowenig von Erfinden wie von Erleben eines Stoffes reden können, im höchsten Sinne nämlich. Dichter, die ihre Erlebnisse, sagen wir verwerten, sind immer in Gefahr, diese Erlebnisse sehr zu überschätzen, wenn nicht ein großes typisches Schicksal dahintersteht. Die Vision ist alles. Sie vermag einen tausendmal behandelten Gegenstand so zu verklären und zu erhöhen, daß er zum unerhörten Ereignis wird. Je mehr du durch dein enges, kleines und in jedem Fall bescheidenes Schicksal dich ins Weite, Menschliche, Mythische hinausspürst und -lebst, je weniger brauchst du tatsächlich zu »erleben«, je freieren Spielraum gewinnst du für die Kunst.
Der Junge:
Frühere Ästhetiker haben das, was du den Mythos nennst, als Idee bezeichnet.
Der Alte:
Nenn es, wie du willst. Man spricht immer davon, daß die Kunst keine Tendenzen habe, keine Nützlichkeitsziele verfolgen soll. Aber in einem anderen höheren Sinn muß doch mit jedem Kunstwerk etwas bewiesen werden, wenn es nicht dem Fluch des Spielerischen verfallen soll. Gewiß muß es um seiner selbst willen hervorgebracht werden. Aber es darf, wie das lebendige Geschöpf, nicht um seiner selbst willen existieren. Weiter können wir in unserer Erörterung kaum gelangen. Hier ist schon die Grenze des Traumes und der Träumerei.
Fünf Jahre später
Der Alte:
Daß uns der Zufall auf einer Reise zusammenführt!
Man könnte glauben, du habest mich während all dieser Zeit geflissentlich gemieden.
Der Alte:
Wie könnte ich mich unterfangen! Du bist ein berühmter Mann geworden, ich sinke mehr und mehr ins Dunkel zurück.
Der Junge:
Hoffentlich hat mir dieser sogenannte Ruhm nicht deine gute Meinung geraubt.
Der Alte:
Das wäre nur der Fall, wenn er dich zur Selbstgenügsamkeit verführte. Solche Leute stehen als Leichname inmitten ihrer Werke, und ihre Werke sind krankgeborene Kinder, zu frühem Tod bestimmt.
Der Junge:
Vor allem, es gibt doch zweierlei Arten von Ruhm. Der eine geht von dem Zeitlichen, Zufälligen, Augenblicklichen, Problematischen unserer Taten aus; er kann dem echten wie dem verlogenen Werk gleicherweise zuteil werden und hat wenig zu schaffen mit dem andern Ruhm, der durch unser ganzes Wesen bedingt ist, sich an den Zusammenhang unserer Werke knüpft. Jener ist wie der kurze Erfolg eines Witzboldes oder guten Plauderers in einem geselligen Kreis, dieser wie das tiefe, stille, langsame Wirken eines Priesters oder Menschenfreundes; jener wird von andern hervorgebracht und entsteht oft zu unserer eigenen Überraschung, dieser aber strahlt von unserm Innern, von unserer Persönlichkeit aus und kann auf alle Fälle erst nach dem Tod eintreten oder nach dem Abschluß unseres Lebenswerkes; jener muß um den Beifall jedes Zeitungsschreibers besorgt sein, dieser hat keinen andern Richter als das eigene Herz.
Der Alte:
Es freut mich, daß du so denkst. Aber hast du auch immer in solchem Sinn gelebt, gedichtet? Du meinst, ich sei dir in all den Jahren mit Absicht ferngeblieben; dein Gefühl trügt dich nicht ganz. Aufrichtig muß ich gestehen, daß mich dein Erfolg beunruhigt hat. Er war mir zu schnell, zu laut, er ging mir zu wenig von der Sache aus und konnte sich zu wenig auf die Kunst berufen. Ich wollte warten, und ich wartete dein nächstes Buch ab. Ich war enttäuscht. Nicht als ob du dir darin untreu geworden wärst, aber du warst unruhig in dir selbst. Die Vision deiner Phantasie war nicht rein, sondern du sahst darin gleichsam die neugierigen Gesichter deiner Leser, deiner Freunde. Du trachtest, sie zu befriedigen und nicht dich selbst.
Der Junge:
Wahr, wahr. Doch habe ich gebüßt. Ich habe gebüßt, indem ich verachten lernte. Ich habe gebüßt, indem meine Seele immer schmerzlicher nach mir selber schrie. Kennst du diesen geheimnisvollen Zustand, der jedes Verweilen friedlos, jedes Nachdenken bitter macht? Es ist, als ob man nach der Heimat reisen wolle und scheugewordene Pferde stürmten mit einem nach fernen wüsten Ländern. Was für ein rätselhaftes Ding ist es doch, das im Innern der Brust wohnt. Es hat eine Stimme, die den schrillsten Marktlärm übertönt, und bist du dann in der Einsamkeit, so schweigt es unvermutet, als wolle es sich rächen dafür, daß du ihm nicht früher gehorchtest. Immer aufmerksamer, immer stiller mußt du werden, um die Stimme nicht zu verlieren, nicht Weib und Kind und Geld und Gut darfst du festhalten, wenn sie es nicht will.
Der Alte:
So viel Einsicht bei so viel Irren!
Der Junge:
Wie könnte man Einsicht gewinnen, ohne geirrt zu haben? Erinnerst du dich unseres Gesprächs von damals über Wesen und Gesetze der Erzählungskunst? Ich habe oft darüber nachgedacht. Ich habe daraus in den entscheidenden Punkten eine nicht mehr zu trübende Klarheit gewonnen. Und doch, sobald ich nur eins dieser Gesetze, und wenn es das lapidarste war, auf meine Arbeit anwenden wollte, so zerfloß es in eitel Dunst. Es geht wie mit den aufgeschriebenen Paragraphensammlungen der Justiz gegenüber der lebendigen Menschenwelt. An sich betrachtet: wahr, gerecht und klar. Auf das Ereignis, auf die Tat, den Augenblick angewandt: nichtssagend, absurd, tot. Daraus schloß ich allmählich, daß es kein anderes Gesetz gibt als dasjenige, das wir selbst durch die Kraft unseres Werkes exemplifizieren. Jeder darf, was er kann.
Der Alte:
Willst du aber leugnen, daß dir unser damaliges Gespräch förderlich und notwendig war?
Durchaus nicht.
Der Alte:
Es ist das Problem der Erziehung. Gut und böse liegt im Menschen. Beispiel weckt Kräfte. Belehrung zeigt die Wege, zeigt die Schranken. Der Philister, der immer nur die Landstraße wählt, und der Boheme, der im Gestrüpp steckenbleibt, keiner von ihnen kann Führer werden, jener ist überflüssig, dieser schädlich. So ist es auch mit der Kunst und ihren Gesetzgebern. Ich habe freilich gesehen, mit Kummer habe ich beobachtet, daß du alles, was du damals so eifervoll, so leidenschaftlich zu ergreifen schienst, verächtlich beiseite geworfen hast. Nun, du bist oft genug im Gestrüpp steckengeblieben, und noch heute sehe ich weder Weg noch Ziel für dich; so hart es klingt, ich muß es sagen.
Der Junge:
Es klingt mir nicht hart. Ich muß dir so erscheinen. Du schaust vom Ende eines Wegs auf mich zurück. Du weißt natürlich, wie du gegangen bist, aber wie ich gehen muß, das glaubst du nur zu wissen. Jedem ist sein Schmerz notwendig, jedem seine Sehnsucht, sein Suchen, und wo ich nach deiner Meinung verderbe, da ist vielleicht mein Heil. Wollte man doch alles Kritisieren lassen, das sich nicht aufs engste beschränkt, aufs Greifbare, Haltbare! Ein menschliches Dasein ist kein Brettergerüst, kann nicht mit dem Richtscheit ausgemessen werden, kann nicht mit Nägeln und Klammern vor dem Geschick in Schutz genommen werden. Wenn es doch keine Schulmeister mehr gäbe! In jedem Lehrer steckt soviel Härte und Verhärtetsein, und was soll man erst zu jenen sagen, die aus bloßer verwerflicher Lust an Überlegenheit einem Organismus, den die Natur geschaffen hat, die Berechtigung zur Existenz absprechen.
Der Alte:
So redest du für dich. Wehrst du dich aber nicht selbst gegen die Stümper, gegen die frivolen Allesmacher? Und bist du immer gerecht in der Unterscheidung? Täuscht dich niemals ein Vorurteil und das deiner Natur Fremde, suchst du es auch zu verstehen, oder verwirfst du es nicht oft, nur weil es eben fremd ist?
Der Junge:
Ja. Aber der Verdruß gegen die Schwätzer und Windbeutel enthält oft das wünschenswerte Entgegenkommen den noch unerschlossenen und ringenden Kräften vor. Bei uns in Deutschland ist es besonders traurig. Unter hundert Betrachtern und Beurteilern eines Kunstwerks ist kaum einer, der imstande ist, nur gerade, sagen wir: das Postament zu begreifen, auf dem es ruht. Eitelkeit und Nüchternheit diktieren ihnen ihr begeistertes oder verwerfendes Urteil. Überall guckt der Schulmeister heraus, und wenn sie wohlwollend sind, dann glauben sie schon weit zu gehen. Verzeih, daß ich jäh und bitter werde, aber sogar du ziehst es vor, Diktator zu sein, anstatt Freund, Versteher, Billiger, Mitdeuter. Warum willst du nicht die Notwendigkeit hinnehmen, die mich erfüllt? Vielleicht ist das, was ich unter unbesieglichem Zwang schaffe, gar nicht so verschieden, wie du meinst, von dem, was die Formeln wollen. And wer nie eine der anscheinend ehernen Regeln verletzt und selbst das erlauchteste Kritikerhaupt zum Schütteln zu bringen vermag, der ist kein Schöpfer, der bleibt stets ein Beckmesser.
Der Alte:
An der hohen Meinung von dir selbst hat es dir nie so sehr gefehlt als an der von den andern. Aber ich bin dir keineswegs böse. Im Gegenteil muß ich gestehen, daß mich dein Feuer erwärmt und daß mir dabei der Gedanke aufsteigt, wie gleichgültig, fern und matt all dies eifervolle Mühen um Dinge ist, die doch, man könnte fast glauben mit einem spöttischen Lächeln, ihre eigenen Wege gehen. Der Mensch ist alles, das Lebendige ist alles, und eine Natur, mit Sehnsucht, Mut und Schöpferwillen begabt, wird, sei sie noch so eng, stets den Nörgler beschämen. Aber es würde mich nun interessieren, wie du dir die Zukunft deiner Kunst denkst, denn aus deinen Reden atmen mir Revolutionen entgegen.
Der Junge:
Liebster Freund, wie schnell werden wir uns verständigen, wenn du so sprichst.
Der Alte:
Und wie erstaunt werden wir sein, zu bemerken, daß jeder nicht den andern bekämpft hat, sondern sein eigenes Mißverstehen, seine eigene Ungeduld, seine eigene Unsicherheit. Lassen wir also alles Allgemeine für diesmal beiseite und erzähle mir von dir selbst, von dir allein. Ich denke, daß ich so am meisten auch über deine Kunst erfahre.
Der Junge:
Meine Kunst! Ich gestehe dir, daß mir dieses Possessivpronomen erstaunlich und fremd klingt. Wenn ich mich ehrlich prüfe, so habe ich eigentlich keine Kunst. Was mich zur Arbeit treibt, ist nicht der Drang, etwas zu vollenden, nicht der Wunsch, von etwas außerhalb meiner Sphäre Liegendem Besitz zu ergreifen, nicht oder doch nicht in erster Linie die Sehnsucht nach farbigem Bild oder plastischer Gestalt oder Deutung eines Schicksals, sondern es ist etwas anderes. Es ist eine tiefe, immer wachsende Unruhe in meinem Innern; es ist, als ob in meiner Brust ein Wesen verborgen wäre, das sich selbst kennenzulernen, über sich selbst Klarheit und Wahrheit zu erlangen wünscht, und für das die Arbeit meiner Hand, das Geschaffene, nichts ist als ein Spiegel, in dem es sich betrachten kann und der es je mehr befriedigt und beglückt, je ruhiger und ungetrübter er das Bild seiner vorigen Verzweiflung um sich selbst wiedergibt.
Der Alte:
Das haben viele Dichter von heute. Deshalb vermögen sie ihre innere Welt nicht mehr genügend zu objektivieren.
Der Junge:
Schon wieder der Schulmeister. Dein Tadel trifft nur jene, die noch nicht starke Menschen genug sind oder starke Künstler (denn in meinem Sinn bedeutet das dasselbe), um dem Dämon, dem Zwerg, dem unruhigen Wesen genug zu tun. Ihr Spiegel ist nicht rein legiert. Dies ist eben das Neue: immer wichtiger, bedeutungsvoller, ich möchte sagen göttlicher wird der Mensch und seine Seele. Alle Erlebnisse verdichten sich nach innen, alle Verwicklungen betreffen nur das Herz, oder sie sind wesenlos und für den Dichter unbrauchbar. Warum das alles so ist und wie es gekommen ist, das zu entwickeln fühle ich mich nicht kühl und begabt genug, aber daß es so ist, beweisen tausend Zeichen. Den groben Augen und groben Sinnen scheint das in solcher Luft Gestaltete und Geschaffene noch schattenhaft, aber mit der Zeit werden sie schon sehen und fühlen lernen.
Der Alte:
Das alles klingt mir gar nicht so neu und überrumpelt mich nicht so sehr, wie du anzunehmen scheinst. Ich glaube sogar, deine wortreiche Tirade ist völlig zu ersetzen, wenn wir sagen, du habest dich ganz den Forderungen der Gegenwart ergeben.
Der Junge:
Und damit glaubst du etwas gesagt zu haben? Gut. Ja. Meinetwegen. Wenn es dich befriedigt, ein Wort dafür zu wissen, meinetwegen. Glaubst du denn, daß es Laune ist oder Trotz oder die eitle Lust zu verblüffen, was unsere Besten in ihren besten Stunden bewegt? Sie sind nicht Eigenwillige, sie sind Geschöpfe der Zeit, in ihnen kristallisiert sich die Sehnsucht und das geistige Bedürfnis der Menschheit.
Von dir wollte ich etwas wissen, von deiner Art etwas erfahren.
Der Junge:
Vielleicht bin ich dazu nicht imstande. Was nützte es, sofern du mein Vermögen in Zweifel ziehst, wenn ich dir sagen wollte: Ich will Gestalten geben, deren Seele das reinste und empfindlichste Instrument ist für das unbegreifliche Spiel des Schicksals? Ich will meine eigene Furcht, mein eigenes Entzücken, meine eigenen Vorstellungen von Leben, Gott und Tod zum Bilde machend, Wesen darstellen, die unter dem Druck und Anhauch solcher Gefühle unvermittelter, vielfacher tönend reagieren; die das Erstaunen des Kindes noch in sich tragen, vereint mit der Erfahrenheit des weisen Zuschauers, und die unter dem Kleid des Alltags dennoch wandeln, wie wir alle wandeln, unwissend, woher, unwissend, wohin. Ich will den einen zum Schatten machen, denn sein Dasein, seine Leidenschaften, seine Triebe, seine Taten sind ihm und andern unbewußt dunkel und nichtig wie Schatten, jenem aber, der zur Seite steht, nichts will, nichts gibt, nichts vermag, nichts bedeutet, zur charakteristischen Gestalt verhelfen. Ich will nicht die Verknüpfung äußerer Erlebnisse geben, sondern die Wirrnis der inneren, ich setze keinen Ehrgeiz darein, Fäden zu knüpfen und zu lösen. Ich möchte keine Gewitter geben, sondern die Entwicklung des Gewitters, die schwülen Lüfte des ahnungsvollen Tages, alles, was vorhergeht, was Verantwortung trägt. Ich will keine prahlerischen Ereignisse, sondern ich suche den kleinen Schmerz, der in tausendfachen Bildungen die Seele dem Verderben entgegenschleppt, und dies alles will ich wieder einer großen Harmonie zuführen, die mannigfach geteilten Motive dem Unendlichen vermählen.
Der Alte:
Das geht weit, das hat Schwung, das klingt nicht übel.
Der Junge:
Wie es klingt, ist nicht so wichtig wie das, wohin es zielt. Wir alle, Kleine und Große, sind Glieder eines einzigen Körpers. Jeder hat teil an jedem. Verworfen wird nur der Leugner. Lernen wir es, andächtig und ehrfürchtig zu sein.
Der Alte:
Und wenn wir alt sind, laßt uns nicht vergessen, zur rechten Zeit zu sterben.
(1928)
Dieses Zwiegespräch wäre fortzusetzen. Und diesmal: zwanzig Jahre später. Leider fühle ich mich nicht fähig dazu, das Leben ist stärker geworden als Theorie und Meinung. Es schwebte mir einmal etwas dergleichen vor, es sollte den Titel tragen: Selbstwiderspruch. Denn heute, in meinem sechsundfünfzigsten Jahr, kann ich mich nicht mehr so überlegen und kunstvoll in einen »Alten« und einen »Jungen« zerspalten, die beiden Figuren sind in eine Einheit zusammengeschmolzen, und vieles an der künstlerischen Unbedingtheit des einen und der sentimentalisierten Grenzenlosigkeit des andern klänge dann überraschend fragwürdig (ohne daß ich das erlebte Erkennen bei beiden in Frage zu stellen wünschte). Aber laßt nur einen Mann mit seinem innersten Wesen nach außen wirken: zerschlägt er nicht alle zehn Jahre die von ihm selbst geschaffenen Gesetze, so ist nicht eine unsterbliche Faser an ihm.