Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einige Notizen zu »Goethes Wahlverwandtschaften«

Die »Wahlverwandtschaften« sollten ursprünglich unter den kleinen, für »Wilhelm Meisters Wanderjahre« bestimmten Geschichten ihren Platz finden. Im Tagebuch vom 11. April 1808 taucht zum erstenmal der Titel auf. Während der Arbeit scheint sich der Plan rasch erweitert zu haben.

Aus Karlsbad schreibt Goethe an Riemer, seine Idee bei dem Roman sei, soziale Verhältnisse und ihre Konflikte symbolisch gefaßt darzustellen. In Riemers Mitteilungen heißt es dann: »Für Charlottens Persönlichkeit fand ich bald unter den Badegästinnen eine Goethen nicht unwillkommene Repräsentantin. So fehlte es auch nicht an einem Hauptmann, nicht an einem leibhaftigen Lord; und für Mittlern wie für den Architekten ließ sich sogar eine porträtähnliche Verwandtschaft nachweisen.«

An Zelter schreibt Goethe: »Ich hoffe, Sie sollen meine alte Art und Weise darin finden. Ich habe viel hineingelegt, manches hineinversteckt. Möge auch Ihnen dies offenbare Geheimnis zur Freude gereichen.« Und an Marianne v. Eybenberg, während das Werk seine endgültige Fassung erhielt: »Man findet sich schon glücklich genug, wenn man in dieser bewegten Zeit in die Nähe der stillen Leidenschaften flüchten kann.« In einem Brief an Frau v. Stein bekennt er, daß er zum letzten Ausarbeiten der größten inneren Harmonie bedürfe, damit das Werk harmonisch würde.

Das Buch erschien im Oktober 1809. Es fand beim deutschen Publikum die Aufnahme, die man etwa einem verwunderlichen Fremdling gewährt. Goethe selbst macht gelegentlich die Bemerkung, daß seine Landsleute mit dem Roman nichts anzufangen wüßten. Die Dichtung war zu neuartig, der trägen Teilnahme des Alltags- und Alleslesers war sie undurchschaubar. Sie war zu groß; die Menschheit war ihr noch nicht gewachsen. Wie rührend ist es, wenn Goethe sich um Ankündigungen in Journalen bewirbt, wenn er einen Freund ermuntert, seine schriftlichen Äußerungen über das Werk drucken zu lassen!

Der Enthusiasmus der Freunde entschädigte ihn nicht für den Mangel an allgemeiner Wirkung. Was er im Hinblick auf eine Welt geschaffen, will der Dichter auch von dieser Welt erkannt und gewürdigt wissen. »Das Publikum, besonders das deutsche,« schreibt Goethe an Reinhardt, »ist eine närrische Karikatur des Demos; es bildet sich wirklich ein, eine Art von Instanz, von Senat auszumachen und im Leben und Lesen dies und jenes wegvotieren zu können, was ihm nicht gefällt. Dagegen ist kein Mittel als stilles Ausharren. Wie ich mich denn auf die Wirkung freue, welche dieser Roman in ein paar Jahren auf manchen beim Wiederlesen machen wird. Wenn ungeachtet alles Tadelns und Geschreis das, was das Büchlein enthält, als ein unveränderliches Faktum vor der Einbildungskraft steht, wenn man sieht, daß man mit allem Willen und Widerwillen doch nichts daran ändert, so läßt man sich in der Fabel zuletzt auch so ein apprehensives Wunderkind gefallen, wie man sich in der Geschichte nach einigen Jahren die Hinrichtung eines alten Königs und die Krönung eines neuen Kaisers gefallen läßt. Das Gedichtete behauptet sein Recht wie das Geschehene.«

Eine Äußerung von souveräner Ruhe, zu der in reizendem Kontrast die empörte Antwort steht, die er Knebel gab, als dieser sittliche Bedenken gegen das Buch geltend machte. »Ich hab's ja auch nicht für euch, ich hab's für die jungen Mädchen geschrieben,« sagte er.

Denn nach der Weise der Zeit zerbrach man sich wichtigtuend die Köpfe über den Kampf zwischen Sittlichkeit und Neigung, und ob die Pflicht auch wirklich den Sieg behalte gegen die Liebe.

Es scheint ein Gesetz zu sein, daß die großen Kunstwerke unmittelbar nach ihrem Entstehen den Zeitgenossen ein verzerrtes Bild darbieten; es scheint, als blendeten sie mehr, statt zu leuchten, und als ob sie erst in der Zeitenferne in ihrer wahren und unvergänglichen Gestalt erkennbar seien.

Desungeachtet waren die Stimmen vieler Freunde von ehrfürchtiger Bewunderung erfüllt, und das Arteil derer, die in Goethes Atmosphäre lebten und aus ihr die geistige Nahrung zogen, hat dem Werk schon damals jenen Platz eingeräumt, auf welchem es unnahbar seit einem Jahrhundert thront.

Sehr schön sind Zelters Worte: »Es gibt gewisse Symphonien von Haydn, die durch ihren losen liberalen Gang mein Blut in behagliche Bewegung bringen … Meine Finger werden dann weicher und länger, meine Augen möchten etwas ersehen, was noch kein Blick berührt hat, die Lippen öffnen sich, mein Inneres will hinaus ins Freie. So ist mirs geworden, wie ich heute Ihre Wahlverwandtschaften las. Das mutwillige, geheimnisvolle Spiel mit den Dingen der Welt und den Figuren, die darinnen angestellt und geleitet werden, kann Ihnen niemals mißlingen, mag auch zwischen durchlaufen, was Platz hat oder sich Platz macht. Dazu eignet sich endlich noch eine Schreibart, welche wie das klare Element beschaffen ist, dessen flinke Bewohner durcheinander schwimmen, blinkelnd oder dunkelnd auf und ab fahren, ohne sich zu verirren oder zu verlieren.«

Es geht nicht an, die zahlreichen und oft sehr gründlichen Untersuchungen aus der Schar der mit Goethe fühlenden, von ihm bezauberten oder ihm widerstrebenden Zeitgenossen hier anzuführen oder nur darauf zu verweisen. Eine Ausnahme fordert lediglich die Solgersche Kritik, die in einem Brief an Tieck enthalten und später in Solgers nachgelassenen Schriften aufgenommen worden ist. Genialität der Auffassung zeichnet sie aus; Goethe freute sich noch am Abend seines Lebens über sie und zollte ihr bedeutendes Lob.

Nachdem sich Solger über den Begriff von Schicksal und Individualität in der antiken Welt verbreitet hat, gelangt er zu dem Satz: »Das Drama ist die wahrste Darstellung der Gattung als des Erstgebornen und des Individuums als des Zweiten. Die alte Kunst ist in ihren innersten Gründen dramatisch; selbst in der Erzählung, wie bekannt, im Homer.« Er spricht dann von denselben Phänomenen in der modernen Welt und wie das Individuum zum Erstgebornen wird. »Es kann heutzutage jeder seinen Gott nur in sich selber finden, und auch seine Philosophie und seine Kunst oder wie ihr es nennen wollt. Das Zweite ist die Gattung, und um kurz zu sein, sage ich nur: der Mensch lebt in der Gattung durch Anschauung aller übrigen Individualitäten, welches das System der Ehre und der zweckmäßigen Staatseinrichtung bildet. Sein Geschick aber ist seine Individualität oder (recht verstanden) sein Charakter und der Ausdruck dieses Geschicks die Liebe und die Freundschaft. Nur dadurch kann das Ebenbild Gottes in ihm zugleich wirklich werden. Der Mensch hat jetzt kein anderes Geschick als die Liebe. Wer seiner Individualität sein Verhältnis zur Gattung unterwirft oder dies mit ihr vereinigt, der kommt durch. Und das stellt die Kunst im Roman dar. Alle heutige Kunst beruht auf dem Roman, selbst das Drama. Wer seine Individualität falsch versteht und meistert oder die Stimme des Gewissens überhört und dem klügelnden Verstand folgt, der geht unter. Und das ist der Gipfel der heutigen Kunst, der tragische Roman. Bei den Alten gibt es dagegen eine romantische Tragödie, wo der Charakter gerechtfertigt und im Sturz selbst verklärt wird. (Ödipus in Kolonos.)«

Im weiteren Verlauf seiner Betrachtung beweist Solger, wie in der Handlung des Goetheschen Romans alles von den Individuen ausgeht und diese immer einseitiger werden, besonders Eduard, je mehr sie gegen die Umgebungen zu kämpfen haben. »Aber das Größte und Heiligste,« fährt er fort, »ist die wahrlich so tief innerliche Ottilie, die ihr keusches Inneres herausgeben muß an den Tag des Schicksals, der dieser Sturm ihre Knospe aufweht und ihren heiligen Blütenstaub verstreut. Und göttlich ist es, daß auch ihr erhabener Vorsatz und ihr Gelübde nichts mehr hilft. Sie kann ihre eigene innere Macht nur noch dazu anwenden, sich durch sich selbst zu vernichten.«

»Die Größe des Gegenstandes« heißt es dann, »und die erhabene reine Ansicht desselben hat eine solche Einfachheit der äußeren Hilfsmittel der Darstellung hervorgebracht, daß sich hierin das Werk der alten Tragödie sehr nähert und daß man nach geheimer Ansicht die Geschichte selbst fast nur das Gerippe eines Romans nennen könnte. Daher rührt auch die große Kürze der Erzählung gegen die langen und häufigen Reflexionen, und auch dies, daß die Erzählung oft in das Präsens übergeht und mit kurzen, auf den ersten Anblick hart scheinenden Zügen Zustände der Personen umreißt.«

Es ist für den Heutigen keine einfache Aufgabe, sich gegenüber einem solchen Vorfahr in bezug auf die Tiefe des Urteils und Größe der Empfindung zu behaupten. Wenn das Wesentliche schon gesagt ist, spielt man bei allen Deutungen die Rolle des Ährenlesers nach der Ernte.

Mit Recht erkennt Solger unter den Gestalten des Romans den Preis Ottilie zu. Sie hat ihresgleichen kaum im Gebiet der modernen Kunst, und in der alten ist nur eine Antigone oder Iphigenie von ähnlicher Vollkommenheit der Bildung.

Wir, die, was die Dichtung betrifft, von den Töchtern, Enkelinnen und Urenkelinnen dieser Figur umgeben sind, vergessen allzu leicht die elementare Schöpferkraft, die sie ins Leben rief, denn vor Goethe hatte die Literatur, die deutsche wenigstens, solche Gebilde nicht aufzuweisen; es ist möglich, daß in Richardsons »Clarissa« etwas wie eine Ahnung und Verkündigung davon enthalten ist. Dort ist auch der Konflikt zwischen Leidenschaft und Entsagung schon vorgebaut, der in Goethes Werk so ergreifend in die Tiefe, so erstaunlich in die Höhe wächst.

Aber Clarissa ist noch ganz im Weltlichen gebunden, und Lovelace wird aus einem Abenteurer zu einem Teufel. Jenes Weltliche freilich war gerade von großer Bedeutung für Goethe; der Engländer des achtzehnten Jahrhunderts hatte schon seine Welt, als der Deutsche sie noch dichten mußte; ihm war Überlieferung und Realität, was dieser, halb willkürlich, halb seherisch, erst erzeugen sollte und was ohne die gebietende Macht einer Persönlichkeit im Grenzenlosen zerflatterte oder im Gewöhnlichen verblaßte.

Man gewahrt noch im »Wilhelm Meister« die Willkür, die den gesellschaftlichen Bestandteilen anhaftet; auch ein wenig von der Grenzenlosigkeit, die durch den Mangel sozialer Tradition hervorgerufen wird.

Ottilie, das zarteste Wesen, das Gefäß des Sittlich-Erhabenen, hebt das Werk über jede Gefährdung solcher Art hinweg. In ihrer reinen Glut werden alle geläutert, die ihr nahen. Eduard, ein Edelmann von zeithaft bedingtem Charakter, wird zum tragischen Helden; Charlottes schwankendes Gefühl wird in weisheitsvoller Entsagung befestigt; der Hauptmann, durch Zucht und Herzenskraft bezwungen, gewinnt durch ihr Beispiel Ruhe und höheres Bewußtsein; sogar ein Bürgermädchen wie Nanny verwandelt sich im Sturm dieses Schicksals, den die äußere Stille der Gestalt nur noch gewaltiger erscheinen läßt, in eine Büßerin und Heilige.

Das Orchester dieses Werkes hat, bei aller Sparsamkeit der Instrumente, eine außerordentliche Schönheit und einen ganz wundersamen Reichtum der Polyphonie. Wie tiefsinnig ist Luziane, mit ihrer Vorliebe für Affen, Ottilie gegenübergesetzt, wie entzückend der Graf und die Baronesse gegen den Hauptmann und Charlotte, gegen Eduard und Charlotte, wie rührend und wahr der Architekt gegen den Hauptmann und der Gehilfe wieder gegen den Architekten! Wie wirkt da alles Innere gegen die Umwelt und die Welt wieder gegen das Innere! Park und Schloß und See spielen mit; die Grundsteinlegung eines Gebäudes erscheint als Symbol von einer Größe, als ob wir am Anfang aller Dinge stünden, als ob noch keine Häuser wären und der Zustand bürgerlicher Gesittung erst mit diesem Augenblick begänne. Eine Vorstellung lebender Bilder hat plötzlich einen ungeahnten Bezug nicht nur in der Dichtung selbst – dort, wo der Architekt am Sarg Ottiliens steht –, sondern gibt auch Bilder von hieratischer Reinheit und geheimnisvoller Bedeutung.

Dabei der lebendige Wechsel der Bewegung; die heitere Bindung von ländlichen Motiven mit höfischen; von idyllischen mit heroischen; jedes einzelne wirft ein Licht aufs Ganze; der verwegene Bettler, so karg behandelt als unheimlich im Effekt, vervollständigt die soziale Sphäre gegen den Hintergrund; der Krieg, in welchem Eduard sein Schicksal versucht, erscheint trotz zeitlicher und räumlicher Unbestimmtheit als ein höchst Gegenwärtiges und knüpft die privaten Ereignisse an die öffentlichen und allgemeinen. »Zart Gedicht wie Regenbogen wird nur auf dunkeln Grund gezogen.«

Die Nacht, die Eduard, verwirrt und erregt, im Zimmer der gleich ihm aus der Bahn gelockten Charlotte verbringt, gehört zum kühnsten, was ein Dichter je geschaffen hat. Doch ruht über diesen Vorgängen eine sanfte, ja fast majestätische Schwermut; es ist ihnen alles Gewicht genommen, sie sind förmlich hingehaucht, deshalb atmen sie im letzten Sinne etwas wie sublime Heiterkeit aus, und es ist, als ob man einen Gott über die irdischen Dinge lächeln sähe.

So plastisch auch jede Situation hervortritt, so haben doch diejenigen, in denen Ottilie handelnd oder leidend steht, die höchste Vollendung. Der Charakter der Einmaligkeit und Erstmaligkeit ist ihnen in gleicher Weise eigen. Und sie sind dem Gedächtnis der einzelnen wie dem der Menschheit unvergeßlich. Die Szene im Wald, wie Eduard von Ottilie das Medaillon fordert, die im Kahn mit dem ertrunkenen Kind, diejenige, wo sie vor Charlotte auf den Knien liegt und scheinbar schlafend und betäubt Zeugin ihres Gespräches mit dem Hauptmann ist, jene andere schließlich, wo sie im Wirtshaus von Eduard überrascht wird und seine Bitten, seine Vorwürfe, seine Beteuerungen, seine Klagen schweigend über sich ergehen läßt, nur mit der einzigen Gebärde antwortend, dem innigen Zusammenfalten der Hände und Vorbeugen des Körpers, aus welchem Sinn und Herzen könnten diese Bilder jemals getilgt werden? Sie gehören zu unserm Schatz von persönlichen Erfahrungen; sie sind uns, waren es den Geschlechtern vor uns und werden vielen nach uns behilflich sein, Welt und Schicksal zu deuten, in ihnen ist der Geist ohne die trübe Materie und der Leib ohne seine zufällige Bedingtheit; sie sind erzeugt durch eine Idee und gegenwärtig durch die formende Macht einer Schöpferhand.

Es beruhen alle diese Wirkungen, vom Boden des Metiers aus gesprochen, auf einer bewundernswerten Einfachheit und Sparsamkeit der Mittel. Was wir Detail zu nennen pflegen, die Geste, das malende Wort, Charakteristik der Stimmen, der Mienen, der Blicke, alles das, was in neueren Produkten in so störender Fülle und Überfülle auftritt und die Vision verdunkelt auch dort, wo eine vorhanden ist, wird hier auf das schlechthin Notwendige und Unentbehrliche beschränkt. Die Folge ist eine Klarheit der Fläche, die nur mit einem herrlich geschliffenen Spiegel zu vergleichen ist. Jene Worte, die eine mittlere Stimmung und mittlere Zustände kennzeichnen, fehlen ganz. Alles sogenannte Gemütliche, Bürgerliche, gemein Vertraute ist ausgeschlossen. In der Wiedergabe der Empfindungen herrscht eine kaum zu übertreffende Simplizität, die alles Flüchtige, Rudimentäre, Technische und Hilfsmittelhafte verzehrt hat.

Es ist, als säße ein Mann unter uns, ja, mitten unter uns, der von wunderbaren Ereignissen mit einer wunderbaren Stimme und in wunderbarer Eindringlichkeit erzählt; aber trotz des zauberhaften Bannes, in den er uns schlägt, können wir ihn mit Augen nicht sehen. Wir sehen nur das, was er erzählt, denn während er erzählt, schwindet er in den Gestalten dahin, löst sich in ihnen auf, spricht aus ihnen, handelt mit ihnen. Dies versetzt uns keineswegs in Unruhe, es befriedigt uns, es beglückt uns. Die Worte sind nicht mehr die unseres Umgangs, sondern sie sind durch eine unbegreifliche Kunst in eine höhere Region übertragen, sie sind neu, in ihrer Fügung wird alles zur Melodie; sie sind fremd; desungeachtet nah, näher als die andern, an denen wir müde und träge geworden sind. Wir werden belehrt, aber so wie durch den Anblick eines Sonnenaufgangs oder eines Gewitters; wir werden ergötzt und unterhalten, aber so wie uns Gott durch den Wandel der Zeiten, der Menschen und der Geschicke unterhält.


 << zurück weiter >>