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Kolportage und Entfabelung

In unserm problematischen Zeitalter liegt die Scheu vor der Wirkung und die Angst vor dem Affekt dicht neben der Unbedenklichkeit, womit man sich beider bedient. Auf der einen Seite genügen die schärfsten Reizmittel nicht mehr, die schlaffen Nerven und müden Gehirne in gewünschte Spannung zu bringen, auf der andern herrscht, in ungewußter Widerströmung oft nur, eine ans Krankhafte streifende und jedenfalls überbetonte Vorliebe für eine gleichsam geräuschlose Innerlichkeit, ein Wort übrigens, das durch sündhaften Mißbrauch bereits so heruntergekommen ist, daß es fast gar nichts mehr bedeutet und daß »Äußerlichkeit« nahe daran ist, sich wieder in Respekt zu setzen. Gegensätze der berührten Art sind freilich den verschiedensten Kulturperioden nicht fremd, vielleicht bedingt und bestimmt sogar die eine Richtung immer die andere, dramatische Steigerung das Idyll, Sturm die Stille, Katastrophe die Flucht in den Winkel oder umgekehrt, Balzac den Lamartine, Geßner die Lenz und Klinger, politisch erregte Diskussionsliteratur einen Stifter, oder es erhebt sich aus einer Welt verschwärmter Romantik der gespenstisch unruhvolle Geist eines E. T. A. Hoffmann. Aber die Antithese, die ich über diese Zeilen schrieb, hat tieferen Bezug zu unserm gegenwärtigen Leben, als durch eine bloße literargeschichtliche Analogie klarzumachen wäre. Der Begriff Entfabelung ist mir erst in letzter Zeit durch die Lektüre des Lawrenceschen Romans »Jack im Buschland« zur Formel geworden, eines höchst ungewöhnlichen Werkes, repräsentativ für eine ganze Gattung, zu der auch, in gebührendem Abstand nach unten, was die künstlerische Kraft und Neuheit betrifft, etwa Anker Larsens »Stein der Weisen« gehört. Schon bei diesem Buch, das ich vor Monaten las, hatte mich, abgesehen von gewissen charakteristisch-nordischen Seltsamkeiten, einer alles Figurenhafte tötenden philosophisch-theologischen, bis ins Verworrene ausartenden Grübelsucht, die Mischung von Konturlosigkeit im Verlauf und Geschlossenheit im einzelnen Bild, Dialog oder Schicksal geradezu gequält, und ich suchte nach einem Kriterium dafür. Bei dem Roman von Lawrence, weil er die ungleich bedeutendere Leistung ist, im Menschlichen freier, im Gestaltlichen kühner, im Landschaftlichen und Erotischen alle Bahn der Tradition verlassend, befiel mich die Unruhe in noch höherem Grad. Recht häufig hört man solche Bücher als Weltanschauungsbücher bezeichnen. Das ist bequem, vor allem sagt es herzlich wenig und ist im Grunde auch wohl ein Unsinn, da jedes Buch von Rang in seiner Weise die Welt »anschaut«. Ich finde, das wesentliche gemeinsame Merkmal ist der Mangel an einer Fabel. Aber was ist denn Fabel? Wodurch unterscheidet sich Fabel von Handlung? Worin Handlung von Stoff? Worin Stoff vom Motiv? Vielgebrauchte Kenn- und Fachworte, die scharf gegeneinander abzuscheiden jedoch sehr schwer ist, und da die gründlichste Definition oft weniger Licht gibt als das Beispiel, will ich es mit einem solchen versuchen: »Raskolnikow«. Die leibliche Not, die Verlassenheit des Raskolnikow, seine Liebe zu Mutter und Schwester, das Verhältnis zu Rasumichin, zu Sonja sind Motive; die Art, wie er sich in seiner besonderen Geistes- und Gemütsverfassung mit dieser Not und mit der bürgerlichen Gesellschaft, die sie verursacht, mit seinen Leidenschaften und Ideen auseinandersetzt, ist der Stoff; der Mord an der Pfandleiherin, die allmähliche Entdeckung des Verbrechens samt allen Umständen, die dazu beitragen, ist die Handlung. Die Zusammenfassung von Motiven, Stoff und Handlung zu einer Stufe um Stufe gesetzmäßig vorwärtsschreitenden, die Erwartung steigernden Metamorphose seines gesamten Wesens ist die Fabel. Sie ist aber auch zugleich das Fundament. In ihr erschließt sich der eigentliche Sinn des Kunstwerkes, sie zeigt sowohl seinen inneren Tiefgang an, wie auch sein äußeres Bewegungsziel, alles nur mittelbar, durch Bild, Schicksal, Figuration. Sie ist der Ring, innerhalb dessen der Dichter seine Gestaltungen spielen läßt, der ihm auf allen Seiten die Grenze zieht, genau zwischen Freiheit und Gesetz, und ihn verhindert, daß seine Gleichniswelt ins Wesenlose stürzt und im banalen wie im höheren Sinn unfaßbar wird.

Der Roman von Lawrence, um bei dem Musterbeispiel zu bleiben, ist reich an Motiven, sogar seltenen und starken. Es ist eine neue Welt in ihm und eine neue Betrachtung der bekannten Welt, der Stoff ist gefunden und geschaut, nicht gemacht und erdacht, die Handlung voll Bewegung und Beseelung; eine Fabel hat er nicht, Fabel als Gerüst, als Bett und Ufer der Erzählung, ja als ihr Zentrum und Herz. Gerade seine außerordentlichen Eigenschaften lassen deutlicher als bei minder gewordenen, nicht so groß konzipierten, so glühend erlebten Werken erkennen, woran es ihm gebricht, was er zuletzt vorenthält. Alles Geschehen verläuft in der Fläche, es könnte immer so weitergehen, Hunderte von Seiten noch, das Buch hört auf, aber es endet nicht. Während die Fabel Verkürzungen, Verwebungen, Hintergründe schafft, bringt die fabellose Handlung nur ein primitives Nebeneinander; auch bei genialster Schilderungs- und Darstellungskunst, von der man in diesem Fall sprechen muß, wird kein Ineinander daraus, weil die Schichtenfolge nach unten und nach hinten fehlt, die verschiedenen zeitlichen und räumlichen Lagerungen, von denen die oberste und vorderste (das, was in Worten zu lesen ist) nur die zufällig sichtbare ist. Die Fabel vereinigt alle Bezüge und Beziehungen in einem Brennpunkt, das Verhältnis der Teile zum Ganzen wird aus einem bloß linearen zu einem radialen, Konstruktion wird organische Gliederung, Rhythmus ist zugleich Blutpulsung. Damit ist aber auch das Wichtige über den Anteil des Lesers ausgesagt und der Weg bezeichnet, der von Interesse zur Ergriffenheit, von geistiger Erregung, sinnlicher Neugier, Freude an exakter Beobachtung, an Stimmungsgehalt und Welterschließung zum Schicksalswissen und zur inneren Verwandlung führt.

Es ist natürlich kaum anzunehmen, daß ein Autor wie Lawrence nicht wüßte oder nicht ergründet haben sollte, wohin er, Meister in seinem Handwerk, mit den Mitteln des Handwerks gelangen kann. So wie dieser Dichter haben ja viele andere, fast alle, die heute in der literarischen Schätzung ganz oben stehen, deutsche, französische, russische, amerikanische, auf die Fabelgebung beinahe mit einer Art von Ostentation verzichtet. Es muß also, was ich Entfabelung nenne, ein besonderer Ausdruck, ein bestimmtes Merkmal der Epoche sein. Sucht man die Ursache zunächst im Negativen, so fällt allerdings auf, daß die Mehrzahl der fabulierten Bücher an einer kläglichen Dürftigkeit und Gewöhnlichkeit leiden. Sie haben kein Fleisch, und das Gerüst ist entliehen. Was an Fabel zum Vorschein kommt, ist abgestorben, verrenkt, verlogen und in tausendfältigen Varianten längst erschöpft. Die Spannungselemente wirken nicht mehr auf den verfeinerten Leser, im Gegenteil, er fühlt sich beschämt, ja beleidigt, wenn die in ihm erregte Erwartung auf niedrige Weise befriedigt wird und er sich zum Opfer bloßer Geschicklichkeit, eines abgenützten Apparats von Erfindungskünsten gemacht sieht. Lebendige Charaktere in lebendiger Handlung zu gestalten, ist natürlich eine große Sache, aber von einem großen Standpunkt aus betrachtet heißt es doch, auf halbem Weg stehen bleiben; erst durch die lebendige Fabel wird ein kosmisches Gebilde daraus, in dem eigentlich nichts gesagt, nichts mitgeteilt, nichts bewiesen wird, sondern alles durch die reine Existenz für sich zeugt. Die einem Stoff homogene Fabel kann nur mittels visionärer Eingebung gefunden werden; da aber bei der geringsten Abirrung, bei jeder Spur von Schiefheit oder gewollter Umbiegung jedesmal der ganze Bau in Gefahr kommt, da ferner, wie bemerkt, alle Fabel in den Händen der Undichter zu einem nüchternen Vehikel und toten Maschinenteil herabgesunken ist, der Empfindung und Einfall, Weltbild und Konflikt sozusagen plattwalzt und anstatt Steigerung der Realität in die unbedingte Einmaligkeit errechnete Kombinationen gibt, Liebe mit Karriere, Religion mit Hochzeit, soziales Problem mit gemeinen Spannungsrezepten verkuppelt, so läßt es sich verstehen, daß Schriftsteller von hohem sittlichen Wollen und geistiger Führerkraft dieser Gefahr aus dem Weg zu gehen wünschen und eine Form meiden, die ihnen scheinbar die Freiheit der Entfaltung raubt, eine Form, die zudem sofort anzweifelbar wird, wenn ihr die Vollkommenheit fehlt und aus dem Stoff nicht herausgeboren ist.

So bleibt, im Hinblick auf Fabel, das Hauptfeld der Kolportage überlassen. Da ist alles Fabel, nämlich unter Verzicht auf Motiv, auf seelischen und geistigen Gehalt. Handlung im Überfluß; wie Würmer in faulem Mehl wühlt ungezieferhaftes Leben, das Unwahrscheinliche wird Ereignis, feingesponnen kommt an die Sonnen, Laster erhebt sich zum Superlativ, Verbrechen zur Bestialität, Leiden zur Exaltation, und wenn in den quasi-literarischen Erzeugnissen die Charaktere noch dazu mit Psychologie unterfüttert sind, oder wenn, um dem sogenannten Zeitgeschmack Rechnung zu tragen und um es am verführerischen Up to date nicht mangeln zu lassen, die bewährte kriminalistische, detektivische, hochgesellschaftliche, auf scheinbaren sozialen Gegensätzen aufgebaute und mit allem möglichen Pfeffer gewürzte Schauertragik sich zur Sensationsaufbauschung der technischen Errungenschaften fortentwickelt, die eine nervenpeitschende Heutigkeit vortäuscht, während sie nichts ist als das geschickt überfirnißte alte Eisen aus der Rumpelkammer der Abenteurer-, Ritter- und Räubergeschichten, nur daß die Ritter Ingenieure, die Räuber kapitalistische Aussauger sind und das Abenteuer etwa in einer nie dagewesenen Fliegerleistung besteht, dann sind wir mitten im Hexensabbat, es knallt und raucht auf allen Seiten, Tempo ist die Losung, Rekord ist Trumpf, der Atem muß einem stocken, das Herz tritt in den verdienten Ruhestand und das Gehirn, nach einem prasselnden Feuerwerk, explodiert.

Dawider ist nichts zu erinnern, jede Zeit habe die Zerstreuungen, die sie braucht, wenn alte Gesichter sich schminken, ist es eine Angelegenheit der Mode, vielen gefällts, und nach der Qualität der Schminke muß man nicht fragen. Doch ergibt sich auf einmal die Absurdität, daß die Fabel als solche in Mißkredit gerät; nicht nur empfindet man sie als Fessel, die eine freie Konzeption in vorbestimmten Ablauf zwingt und damit in ihrer Lebensähnlichkeit beeinträchtigt, sondern wo sie als echtes Kunstmittel erscheint, und in der Epik ist sie das schlechthin legitime, verdächtigt man sie häufig der Kolportage oder verwechselt sie gar mit ihr. Die Zusammenfassung des Motivischen nämlich, die sie ermöglicht, führt zugleich zur wirksamen Verdichtung des Stofflichen; dabei übersehen oberflächliche oder durch den Lärm der Zwischenliteratur verärgerte Beurteiler, daß es sich, fern von gesetzloser Willkür, um unerbittliche Konsequenzen handelt. Sie übersehen, daß ein lebendiges Motiv lebendige Handlung zeugt, ein totes und abgeleiertes nur seelenlosen Vorgang. Als ich einmal vor vielen Jahren dem alten Björnson mein schüchternes Bedenken über einen Effekt äußerte, den ich angewandt, lachte er und sagte: »Schießen Sie nur, aber wenn Sie schießen, sorgen Sie dafür, daß das Gewehr geladen ist.« Bücher wie der »Jack im Buschland« stammen, geistesgeschichtlich betrachtet, von den eigentümlich mythischen Romanen Knut Hamsuns her, bei denen die Fabel allerdings nur wie zartes Rankengeflecht die Handlung begleitet, trotz der Zartheit aber bindend und niemals von außen angeheftet, sondern von innen herausgewachsen ist. Das souveräne Spiel mit einer selbstgeschaffenen Form hat bei diesem Autor etwas ungemein Faszinierendes, die Nachfolger haben jedoch nur seine Freiheiten übernommen, seiner sehr geheimnisvollen Gebundenheiten haben sie sich entledigt. Es ist ja bezeichnend, daß immer diejenigen Meister Schule machen, die sich in äußerlich fließenden Formen bewegen; ein Schriftsteller wie Maupassant ist ganz unnachahmlich, weil alles auf Erfindung, Einfall und Fabel beruht, und weil solche einsam für sich dastehen, erklärt sie das unmittelbar folgende Geschlecht, um neuen Ausdruck und neue Gestaltung bemüht, gewöhnlich für veraltet. In Wirklichkeit sind sie die wahren Dauernden, von Boccaccio bis Merimée, von den arabischen Märchenerzählern bis Johann Peter Hebel und Selma Lagerlöf. In den letzten Jahren haben die Romanschöpfungen Marcel Prousts große Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, mit Recht, denn es sind Werke von hohem Belang, in denen sich eine Epoche spiegelt und die sich vor allem durch eine beispiellose Präzision des Details auszeichnen. Aber in ihnen ist zu einer Fabel auch nicht einmal mehr ein Ansatz. Es ist eine andere Kategorie. Man soll die Kategorien nicht miteinander verwechseln, dadurch entsteht die grenzenlose Verwirrung, die aus der Literatur einen Jahrmarkt macht, auch aus der Kunst, der Politik, der Wirtschaft, dem täglichen Umgang. Kein Zweifel, daß wir uns in einer Periode der Entfabelung befinden, es leugnen, hieße die Tragweite der meisten Erscheinungen des öffentlichen Lebens verkennen. Es äußert sich in der Suprematie der intellektuellen Betätigungen wie in einer gewissen kruden Nacktheit und Direktheit der sozialen und persönlichen Beziehungen; in dem, was man »Aussprache« nennt, in dem, was für »Expression« gilt; in der geistigen Auseinandersetzung, die in Büchern an Stelle der Dichtung rückt; in der Leidenschaft für Analyse jeder Art; im Schwinden des Enthusiasmus und im Wachstum des Fanatismus; all dies Ernüchternde, Schleierlose, Betriebsame, Zielstrebige, Anarchische ist Entfabelung. Daneben dann als Ausgleich, Narkotikum und Nervenhammer: Kolportage.

Dabei kann einem wohl bange werden, aber da die Entwicklung den Weg der Spirale einschlägt, kommt man, auf einer andern Ebene, immer wieder zu den alten Göttern und Idealen. Es gibt zuverlässige Hüter der ewigen Bestände. Wer je die erwartungsvollen Augen eines Kindes auf sich gerichtet sah, während sein Mund mit erregtem Stammeln um »eine Geschichte« bettelte, der weiß, daß die Fabel unsterblich ist.


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