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Der historische Roman in Deutschland im Zusammenhang mit Eduard Stuckens »Weißen Göttern«

Wer sich der Aufgabe unterzöge, die Entwicklung des historischen Romans in Deutschland zu schreiben, würde nicht bloß einen interessanten Beitrag zur Literaturgeschichte, sondern auch einen zur allgemeinen Geistesgeschichte liefern. Literaturgeschichte an sich gibt es ja nicht, oder sollte es wenigstens nicht geben. Nicht zu verkennen, daß diese Disziplin eine charakteristisch deutsche ist und nicht immer zum Vorteil unserer Kultur gepflegt wird. Bei dem erwähnten Gegenstand ganz besonders würde sichs erweisen, wie wenig schul- und fachmäßig die zur Wertung und Kritik auffordernden Elemente sind und welch bedeutende Aus- und Einblicke sie in das Leben der Nation eröffnen. Mit der Erkenntnis, daß das deutsche Schrifttum an Hervorbringungen der historischen Gattung auffallend arm, und die meisten, die es zu Ansehen gebracht haben, auffallend niederen Ranges sind, entstünde sogleich die Frage nach der Ursache dieser Erscheinung und gäbe Anlaß zu einer weit- und tiefgreifenden Untersuchung nicht nur über die spezifische Phantasiebeschaffenheit der Dichter, sondern auch des Volkes, das hierin (wie in so vielem andern) keine gültige Tradition besitzt. Der Ruhm Walter Scotts und die beispiellose Wirkung seiner Romane haben wohl in Deutschland zur Nachahmung, ja Nacheiferung vielfach angeregt, und von dem kräftigen, durchaus eigenlebendigen, wennschon die fremde Form nie völlig überwindenden Willibald Alexis bis zu Dahn, Ebers, Scheffel und einigen jüngeren geglückten oder minder geglückten Versuchen herab kann man fast von einer ununterbrochenen Kette sprechen; aber außer Achim von Arnims »Kronenwächtern« kenne ich, von jener Quelle her, kein anderes Werk der historischen Gattung, das auf den Titel einer Dichtung im höheren Sinn Anspruch zu machen hätte, eines epischen Gebildes von nationaler Bedingtheit und Verwurzelung wie etwa Manzonis » Promessi sposi« oder Gogols » Taras Bulba« oder Thackerays » Henry Esmond«.

Die »Kronenwächter« haben wohl die nationale Bindung, und eine gewaltige noch dazu, eine einzigartige, aber die allgemeine fehlt; man könnte sich das seltsame, in vielen Teilen so zauberische Buch schwerlich in eine andere Sprache übersetzt denken. Es ist wie ein tiefer dunkler Traum, aber es ist völlig eingeschlossen in seine deutsche Besonderheit, die bewußt aufs Provinzielle oder doch Landschaftliche gestimmt ist und jede überschaubare Konstruktion trotzig verschmäht. Was sonst um Beachtung warb und Ruf genoß, ist heute längst Makulatur, und schlägt man ein solches Buch auf, so erstaunt man, wenn nicht über die Genügsamkeit des Autors, so doch über die der Leser, und Leser muß es wohl gegeben haben, denn wir wissen, daß unsere Väter und Mütter von manchem dieser Schmöker mit zärtlichem Respekt redeten. Sogar Luise Mühlbach hatte ihre Anwärter, wie ich mich gut erinnern kann. Aber wer möchte die armen Kulissen wieder aus der Rumpelkammer holen, die billigen Requisiten und Kostüme, mit deren Hilfe eine lärmende Staatsaktion und fadenscheinige Liebesintrige aufgeschmückt wurde, einer rückschauenden Betrachtung würdigen? Auf dem unermeßlichen Leichen- und Gräberfeld toter Literatur, das hinter uns liegt, gehören ihre Namen und Träger zu den verschollensten.

Die Psychologisierung des historischen Romans, das Bemühen, ihn dichterisch zu verleiblichen, ein Prozeß, der mit der naturalistischen Strömung zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts eintrat, hat im Grunde wenig Spuren hinterlassen. Flauberts »Salammbô«, wie der ganze Flaubertismus, der so viele Artisten und Halbartisten in seinen Bann zog, auch auf einzelne Dichter eine bedeutende erziehliche Wirkung ausgeübt hat, blieb eigentlich folgenlos. Man darf sich über diese Frucht sublimster Kunst und asketischer Künstlerschaft keiner Täuschung hingeben; ihre Eiseskälte und konstruktive Strenge hat, abgesehen von fanatischen Parteigängern, stets fremd und befremdend gewirkt; das Entzücken über dem Gebilde, Farbe, Form und Maß, hat auch den idealen deutschen Leser, den ich fiktiere, nicht über den Mangel an Urbanität, an freiem Behagen und an Liebe hinwegkommen lassen. Vielleicht irre ich mich, aber mich dünkt, dies ist auch die Ursache, weshalb das Werk Conrad Ferdinand Meyers nicht eigentlich lebensbestimmend oder im höheren Sinne vorbildlich geworden ist. Bei aller Sprach- und Formenmacht, souveränen Beherrschung des Details und meisterlichem Bau, verlieren seine Novellen niemals die steinerne Starrheit und gläserne Durchsichtigkeit, die sie vollendet nachgeahmten Früchten traurig ähnlich machen. Nur bildet hiervon der »Jürg Jenatsch« (wie ich bereits ausgeführt) eine große und bewundernswerte Ausnahme, in welchem außerordentlichen Werk erreicht ist, was historische Dichtung erreichen muß, wenn sie nicht zu einem Museumsdasein verdammt sein will, nämlich Monumentalität auf volkshaft mythischer Basis.

Unter den jüngeren Erscheinungen verdient ein Buch wie Stuckens »Weiße Götter« besondere Aufmerksamkeit. Der Roman läßt sich an kein vorhandenes Muster angliedern, er ist singulär. Exotischer Vorwurf; Geschehnis aus fernem Jahrhundert: Epopöe von der Eroberung Mexikos, Fall und Untergang des Aztekenreichs. Hierin liegt das Ungewöhnliche nicht, das Motiv hat, gerade in den letzten Jahren, seine Anziehungskraft öfter bewiesen, da es an Symbol wie an Realität, an sittlicher Tragweite wie an stofflicher Entfaltung unausschöpfliche Möglichkeiten enthält. Die Größe des Gegenstandes und die Umfänglichkeit des Komplexes brauchen den Dichter nicht abzuschrecken, sie verpflichten ihn nur stärker, und wenn ihm der Historiker, der Ethnograph, der Archäologe genügend vorgearbeitet haben und er das Material in so eminentem Grad beherrscht wie Stucken, der ja selbst Gelehrter und Forscher von Distinktion ist, was sollte ihn verhindern, seine Welt glaubhaft und lebendig aufzubauen, falls er Phantasie und erzählerische Kraft besitzt? Beides kann Stucken nicht abgestritten werden. Was mich handwerklich an dem Buch interessiert, ist die Verschmelzung pragmatischer und poetischer Elemente; aber die Gründlichkeit, die Verläßlichkeit des Details auf der einen Seite und die Bewegtheit der Szenerie und Bildhaftigkeit der Vorgänge auf der andern müssen die Lektüre auch für den naiven Leser reizvoll machen. Der Umfang schon beweist, daß es dem Autor an epischer Ruhe und Geduld nicht mangelt und daß er weiß, was er dem gewaltigen Stoff schuldet. Dadurch, daß der Roman keinen individuellen und individualisierten Helden hat, sondern immer nur Massen und Gruppen gegeneinander wirken, ferner durch die weise überlegte Lockerheit der Komposition, die natürliche Aneinanderreihung runder Begebenheiten, wird die Gefahr der historischen Dichtung, das, was ich die naturalistische Unwahrheit nennen möchte, diesen fatalen Widerspruch zwischen der dokumentarisch belegten Einzelheit und der Willkür des seelischen Verlaufs, meist glücklich vermieden. Auch haben Rhythmus und Diktion etwas unmittelbar Glaubhaftes; diese hält eine taktvolle Mitte zwischen Chronik und leicht gehobener, zuweilen ans Balladeske streifender Prosa, jenem ist unbestreitbar eine gewisse Neuartigkeit eigen, die dem historischen Roman bisher unbekannte Entwicklungsmöglichkeiten gibt: nämlich eine distanzierende Kraft, die aus der Mischung von energisch festgehaltener Monotonie in der Erzählung und kühnen Überschneidungen und Verschränkungen in Zeit und Handlung entsteht.

Bleibt nur übrig zu fragen: Was soll uns ein solches Buch? Was hat es uns zu sagen? Was kann es uns bedeuten? Womit rechtfertigt es in höherem Betracht seine Existenz? Welche Brücken und Wege führen von unserer Welt in jene verschollene, die es mit so viel Kunst und Phantasie erweckt und schildert? Hat denn der historische Roman überhaupt einen Sinn und kann man ihm eine vitale Notwendigkeit zuerkennen, wenn er sich ohne innere Bindung und soziale Spiegelung gleichsam als ein Bilderbuch darstellt, erwachsen aus der zufälligen dichterischen Laune und Neigung des Verfassers?

Hierauf zu antworten ist fast unmöglich, weil jedes Nein und auch der Zweifel noch ein Urteil in sich schlösse, das in einem solchen Fall dem Zeitgenossen nicht zusteht. Darüber hat nicht ein Einzelner zu entscheiden, sondern nur eine ganze Generation. Eduard Stucken ist von Blut und Abkunft Deutscher, von einer Reinheit der Bildung und geistigen Verfassung, wie sie heute leider nur noch selten in Erscheinung tritt; trotzdem wählt er exotische Landschaft zum Schauplatz eines groß angelegten Epos; fremde Figur, fremde Tradition. In einer so wichtigen Form entzieht er sich auf einmal dem nationalen Mythos, den er in seinen Gralsdramen so nachdrücklich, ja leidenschaftlich gepflegt hat, und wendet sich einem allgemein-menschlichen zu. Vielleicht ist das ein Zeichen, das man beachten muß. Der Vorgang, der in den »Weißen Göttern« gestaltet ist (Weiße Götter: ein Titel schon von ungeheurer Ironie), ist beladen von schwerer, unbeglichener Menschheitsschuld. Ein Märchen heute, aber ein schauriges; vier Jahrhunderte haben ihm keinen Lichtstrahl zugewoben, die Kunst keines Schreibers wird es je vermögen. Die Annalen bewahren das rohe Ereignis; sie schildern, wie der Würgengel über ein ganzes Volk kam. Sie erzählen von Brand, Plünderung, Mord, Vergewaltigung, Raubgier und Phrasengebrüll; nach uralter Sitte. Längst ist die Menschheit taub dagegen geworden; wenn es ihr nicht immer gelingt, ihre Blutfeste bengalisch zu beleuchten, so bedeckt sie sie mit Schweigen. In dieser Hinsicht ist die Geschichte ein gräßlicher Gespenstertanz, gleichwohl ward ihr, ich weiß nicht von wem, die Machtvollkommenheit verliehen, ihre hervorragendsten Verbrechen unter dem Namen von Heldentaten für die sogenannte Unsterblichkeit zu präparieren. Es ist gut, wenn Dichter aufstehen, die diese Lüge entschleiern.


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