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Lesen

Daß das Lesen eine Kunst sei, will ich nicht behaupten, das hieße eine Gewohnheit zu hoch werten, namentlich wo sie nur eine üble Gewohnheit ist. Aber eine Qualität von Rang sehe ich beim fruchtbaren Lesen allerdings voraus: die Fähigkeit zur Hingebung. Nun gibt es freilich Tausende von schlechten Büchern, die Millionen Leser beschäftigen und unterhalten; man kann den Zauber, den abgeschmackte, ja verwerfliche Produkte auf niedrige Intelligenzen ausüben, nicht ohne weiteres ignorieren. Doch wäre es ein Irrtum, von der dadurch erregten Entflammung etwas Ersprießliches zu erwarten. Ein Narkotikum kann weder Heilmittel noch Nahrung sein, und der Rausch, den unter Umständen gewisse zweifelhafte Literaturwerke hervorbringen, verwirrt das Urteil und läßt den Geschmack verwildern. Das Buch, das mir nicht eine Welt erschafft, zerstört mir eine; wenn es mich nicht reicher macht an Bild und Erkenntnis, hat es mir nur zu spüren gegeben, wie arm ich an beidem bin. In dieser Hinsicht ist der Mensch ein Schlafwandler; er darf nicht daran erinnert werden, wie groß die Gefahr des Absturzes von der schmalen Planke ist, auf der er schreitet.

Sprechen wir ein wenig über das Buch. Und da müssen wir zunächst unterscheiden zwischen dem Buch als Ding und dem Buch als Wesen. Verlieren wir über die erstere Kategorie keine überflüssigen Worte. Die Orientierung ist eine Schwierigkeit für sich. Im allgemeinen weiß jeder nur in seinem Fach Bescheid, und auch das nicht immer mit Sicherheit. Welche Fülle der Erscheinungen, angefangen vom Nutzbuch, Behelfsbuch, Lehrbuch, Buch des Forschers, Entdeckers, Arztes, Technikers, Politikers, Wirtschaftlers bis zu den zahllosen Schriften halb- und pseudowissenschaftlichen Charakters; was für eine Lawine von Historien, Monographien, Biographien, kritischen Untersuchungen, Gedichten, Dramen und Romanen. Wer es sich nicht zur Aufgabe und zum Spezialstudium macht, kann sich in dem papierenen Urwald unmöglich zurechtfinden. Einer unter Tausenden hat einen Hinweis, eine Richtung, eine bestimmte Neigung oder Liebhaberei, die andern greifen leer, ein Gerücht, ein Name hat ihre Neugier geweckt, sie folgen blind der Lockung und sehen sich den Berater nicht weiter an, denn es sind brachliegende Gemütskräfte in ihnen, die nach Betätigung verlangen, ohne daß sie es selbst recht ahnen. Würden sie in die Lage versetzt, ihren Instinkt zu veredeln und ihr Urteil zu reinigen, so kämen sie vielleicht nach und nach auf den rechten Weg. Es fehlt durchaus und überall an Erziehung und guter Tradition.

Davon bin ich nämlich durchdrungen, daß das wirkliche Buch, das Buch als Wesen, genau wie die lebendige Kreatur, einen unfehlbaren und sozusagen blutmäßigen Magnetismus besitzt. Es ist sein Eros, um den es sich dabei handelt, seine Werbekraft, seine Liebesgewalt. Jedes beseelte Geschöpf empfängt Liebe in demselben Maß, wie es Liebe gibt. Solch ein Buch braucht man gar nicht anzupreisen; es stellt sich von selbst ins Leben hinein, aus dem einfachen Grund, weil es existiert. Es ist nicht etwa ein Schmuck oder eine Erholung oder ein bloßes Vergnügen oder eine Belehrung, wie viele meinen, sondern es gehört zu den unveräußerlichen Notwendigkeiten; auch mit der Bildung hat es nichts zu tun, wie man in unserer trivialen Gesellschaftsphraseologie Bildung versteht, ist es ein Bestandteil der geistigen und physischen Ernährung, ja es ist oft nicht einmal immer erforderlich, daß man es kennt und gelesen hat, man atmet es ein, man hat es aufgenommen, ohne es zu wissen, es ist Element des Daseins geworden, und wieder ohne es zu wissen, reden alle seine Sprache und leben in seinem Geist.

Wenn ein Buch die innere Kraft besitzt, daß ich mich in seiner Gesellschaft vergessen kann, werde ich zum Leser. Es wird viel Unfug mit dem Wort Anregung getrieben; ich halte die Anregung für einen Feind der Hingebung und für ein Hindernis zu ihr. Nicht zu leugnen, der gute Leser ist selten, und wenn die Überproduktion im gleichen Maße wächst wie bisher, ist er vielleicht in hundert Jahren ausgestorben. Sogar der Literat ist nicht mehr imstande zu bewältigen, was ihm an Lektüre zugemutet oder von Berufs wegen von ihm verlangt wird. Ich bin weit entfernt zu glauben, daß der Literat ein guter Leser sei; er ist ein zweck- und eifersüchtiger Leser, sein Ich wirft einen Schatten, der ihm auch das leuchtende Gebilde verdunkelt. Dieses an Elephantiasis leidende Ich will urteilen, sondern, schematisieren, vergleichen, es treibt Politik, es sonnt sich in seinem Verständnis, es schielt nach Quellen und Beziehungen, es jauchzt, wenn es in einer großen Wirkung einen handwerklichen Trick zu erkennen vermeint, es ist schwer zu packen, schwer zu bewegen, schwer zu entzücken in seinem Fachmannspanzer, und obschon nicht in Abrede zu stellen ist, daß das Meisterwerk im Literaten bisweilen seinen stabilsten Würdiger findet, zu den Ergriffenen oder gar zu den Verwandelten, die den dauernden Ruhm eines Buches ausmachen, gehört er in der Regel nicht, auch dann nicht, wenn er dessen Ruhm verkündet.

Wer ein gedichtetes Buch liest, wie man eine Zeitung liest, der sollte lieber bei der Zeitung bleiben. Eher als den flüchtigen Leser acht ich noch den, der das Lesen verachtet, er ist wenigstens konsequent. Herzlich zuwider sind mir auch die, die sich zerstreuen wollen, wie sie das nennen, oder ablenken oder ausspannen. Sie würden besser tun, in eine Bierhalle zu gehen oder in ein Varieté. Der von Geschäften ermüdete Mann und das Buch, das ihm helfen soll, »auf andere Gedanken« zu kommen, das ist, wie wenn man einen lahmen Gaul an ein Flugzeug spannt, nicht damit das Flugzeug sich erhebe, sondern damit sich das arme Roß Bewegung verschaffe. Es gibt auch eine Sorte egoistischer Leser, die in jedem Buch ihr eigenes Schicksal suchen, nach Deutung schmachten, nach Spiegelungen jagen, bestätigt sein wollen, die erscheinen mir immer wie Leute, die nur ins Theater oder in eine Ausstellung gehen, um sich zu vergewissern, ob sie gesehen werden. Viele lesen mit heimlichem Ehrgeiz, mit vorgesetzter Wachsamkeit, nie schweigt die Kritik in ihnen, es schweigt überhaupt nichts in ihnen, infolgedessen können sie auch nie »ganz Ohr« sein. Ich weiß nicht, wie man es nennen soll, ist es vielleicht eine unglückselige Art Dünkel, der die meisten Menschen dazu zwingt, zu urteilen, bevor sie sich noch die Muße gegönnt haben, zu warten, bis das nötige Material zum Urteil beschafft ist, in diesem Fall also Anschauungsmaterial? Es steckt wohl ein Minderwertigkeitsgefühl dahinter, als dürften sie sich nicht bei einer Schwäche ertappen lassen, und als Schwäche erscheint es ihnen, vor dem Buch zu kapitulieren, die Tore des vermauerten Ichs zu öffnen und den Belagerungszustand, in dem es den größten Teil seines Lebens verbringt, aufzuheben.

Da würde sich dann die Wachsamkeit, die eine Qual ist, weil sie einem unsichtbaren Feinde gilt, in Aufmerksamkeit verwandeln, die eine von der Furcht losgelöste Erwartung ist. Deshalb ist Aufmerksamkeit etwas so Schönes; sie ist furchtlos. Sie hat in ihrer edelsten Form etwas von der Unschuld. Gewisse Fähigkeiten sind innerhalb der Zweckbesessenheiten unserer Zivilisation fast völlig verloren gegangen. Die unschuldige Aufmerksamkeit ist eine von ihnen. Alle Gehirne sind bis zum Bersten belastet mit Theorie, Analogie, Reminiszenz und wesenloser Opposition. Kein geistiger Prozeß ohne störende Nebenprodukte. Die Lebenserfahrung ist nicht mehr ein bescheidener Kontrollapparat, sondern ein Gift- und Sprengstoff, der die Phantasie zerstört und das von der Phantasie geschaffene von vornherein unterhöhlt.

Lesen heißt Wort für Wort lesen. Die Formel klingt ja ein wenig komisch. Aber ich habe in meinem ganzen Leben noch keine zehn Wort-für-Wort-Leser gekannt. Die Korruption in der Beziehung ist heillos. Wort für Wort, das heißt mit allen Zwischenräumen, mit allen Interpunktionen, die gleichsam den Rahmen der Bilder darstellen, das heißt in und mit der Atmung des betreffenden Buches, das heißt in sein Tempo hineinschmelzen, seinen rhythmischen Gang ins Blut aufnehmen, das heißt seinen Laut erspüren, die nur ihm allein eigene Stimme erkennen und vor allem: sein Ungesagtes zu verstehen. Das ist nichts Geringes, lieber Leser, und es ist schwer, es wird einem nicht geschenkt, nicht indem man das Buch aufmacht und zweihundertmal umblättert und wieder zumacht. Denn jenes geschmiedete, gefügte, kunstreiche »Wort für Wort« ist bei den Büchern, die einzig hier in Frage kommen, andere interessieren mich nicht, immer nur die Brücke über einen Abgrund. Drunten in dem Abgrund liegen die Geheimnisse der Welt. Wer eilig drüberrennt, für den sind sie natürlich nicht vorhanden.


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