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Rede über Humanität

(Zum ersten Mal gesprochen in Stockholm, Dezember 1922

Zum letzten Mal in Newyork, Februar 1927)

Erwarten Sie, meine Damen und Herren, nicht eine philosophische oder historische Auseinandersetzung über Humanität von mir. Ich komme von einer andern Seite her zu dem Gegenstand, und Ihnen Neues darüber zu sagen, im Sinn der Belehrung etwa, liegt weder in meiner Absicht noch in meiner Fähigkeit. Nehmen Sie mich einfach als einen, der Ihnen eine gewisse Summe von Erfahrungen und Beobachtungen vortragen will, von vielleicht eigentümlichen, vielleicht schrullenhaften, vielleicht einleuchtenden Bemerkungen, der Fragen an Sie richten und Sie auffordern möchte, ein Gebiet mit ihm zu betreten, das an ungebahnten Wegen ziemlich arm, an erfreulichen Pflanzstätten und erbgesessenen Bewohnern aber keineswegs reich ist.

Der Antrieb, der mich leitet, ist ein zu natürlicher, als daß er erklärt werden müßte. Er stammt aus der Betrachtung dessen, was Menschen tun und was Menschen leiden, ein grenzenloser Aspekt, wie Sie zugeben werden. Er gründet sich auf die Frage, ob dieses Leiden, oder ein großer Teil davon, notwendig und unabwendbar ist, ob dieses Tun mit einer nur geringen Ablenkung von seiner ursprünglichen Richtung, einem geringen Entschluß, einer geringen Willensänderung bloß, nicht zum Förderlichen und Guten gekehrt werden könnte, statt zum Verhängnisvollen und Bösen. Er beruht auf dem Nachdenken darüber, ob der Einzelne unwiderruflich verurteilt ist, alle Qual und Bedrängnis, die von der Gesamtheit ausgeht, dem ganzen Gesellschaftsgefüge, hinzunehmen wie Sturm und Erdbeben, oder ob es eine Möglichkeit für ihn gibt, sich zu schützen, und was er sich gewöhnt hat, als ein unvermeidliches Schicksal zu bezeichnen, in seinen Wirkungen aufzuheben oder wenigstens abzuschwächen.

Schicksal: das ist die unbekannte, unpersönliche, dem Einspruch und Willen unerreichbare Macht, vor der wir uns alle beugen. Wir reden viel vom Schicksal, und bisweilen scheint es mir, als sei die Berufung darauf ein Mittel, sich der Verantwortung für das, was um uns geschieht, zu entziehen. Nicht der Verantwortung im großen, aber der im kleinen, als ob nicht unser aller Leben eine Kette und Aufeinanderfolge von kleinen Verrichtungen, kleinen Verschuldungen, kleinen Fehlern, kleinen Schwächen, kleinen Übertretungen, kleinen Versäumnissen, kleinen Schritten nach vorwärts, nach unten und nach oben wäre. Als ob nicht auch die großen Momente, die tragischen Verwicklungen, die heroischen Leistungen, die weitgreifenden Katastrophen ein Ergebnis kleiner und kleinster Umstände und Eigenschaften wären, die noch im Kreis unseres Bewußtseins und unserer Freiwilligkeit liegen. Fast immer wird die Gewissensfrage nach der Schuld mit dem Hinweis auf das Schicksal beantwortet, und hierin sind wir ein wenig gar zu sehr eingelullte Träumer und machen es der feindlichen Gewalt ungebührlich leicht, uns zu übermannen. Und wenn wir die Träumer nicht sind, als die zu gelten unsere Kurzsichtigkeit und Kurzfühligkeit uns schmeichelt, so sind wir Leute, die sich blind stellen und den Strom nicht spüren wollen, in dem sie fließen.

Freilich ist es so, daß alles, was uns gelehrt wird, alles, was wir täglich sehen, und alles, was wir von der Vergangenheit wissen und erfahren, nur dazu dient, uns in dieser halb angenehmen, halb schaurigen Täuschung zu befestigen. Die Blätter der Geschichte triefen von Blut. Wohin wir uns auch wenden, um eine umfassende Ansicht von den Geschicken der Völker, der Stämme, der Familien, der Staaten zu gewinnen, grinst uns Mord und Grauen entgegen. Jedes Buch und jede Schrift, die von dem Tun und Lassen früherer Generationen berichten, sind Aufzählungen von Verbrechen und Verfolgungen, von Unrecht und Not. Jede Kirche auf Erden könnte bis zum Dachfirst mit den Leichen derer angefüllt werden, die in ihrem Namen hingeschlachtet wurden. Jede Fahne ist das Symbol einer Hekatombe von Opfern, und kein Haus steht in der Welt, das nicht eine furchtbare Chronik der an und in ihm verübten Greuel und Schandtaten liefern könnte.

Derart ist das Gedächtnis der Menschheit befleckt und vom Geschehenen wie vom beständig weiter spinnenden Geschehen zu bitterster Unruhe erregt, daß man besonders dort, wo Menschen in großer Menge wohnen, sich niemals von dem Gefühl befreien kann, als stehe mitten unter ihnen ein unsichtbarer Henker neben einem unsichtbaren Richtblock, und alle warteten in herzbeklemmender Angst auf die Stunde, wo sie hinaufgerufen werden, um einer Anklage wegen, die sie noch nicht kennen, ihren Kopf unters Beil zu legen. Das ist es wohl auch, was sie Schicksal heißen, dieses Finstere und ewig Drohende, diesen unsichtbaren Henker, der schrecklicher ist als selbst der Tod.

Wie eine Epidemie von Gespensterfurcht ist es über die Gemüter gekommen, und in unserm aufgeklärten und wissenden Europa sind es gerade die Aufgeklärtesten und Wissendsten, die verhext und gelähmt auf die geisterhafte Mitternacht warten, wo der lauernde Riesenwurm den Rachen auftun wird, um sie zu verschlingen und so ihrer Seelenqual ein Ende zu machen.

Der den Bann brechen wollte, müßte vielleicht sagen: Ihr seid die Betrogenen eures Wahns, und was euch narrt, ist viel mehr ein Fieberbild als eine Wirklichkeit; das Gleichnis, das ich euch finde, ist das von dem Mann, dem befohlen ist, einen turmhohen Quaderstein von der Stelle zu schaffen, und der daran verzweifelt, ohne zu bemerken, daß der gewaltige Quader aus unzähligen kleinen Würfeln besteht, die, einen nach dem andern, fortzubringen eine einfache, wenn auch mühselige und zeitraubende Arbeit ist. Er aber meint, er müsse den ganzen Quader auf einmal wegtragen, was natürlich ein Ding der Unmöglichkeit und die Ursache ist, daß er in vollkommene Untätigkeit versinkt.

Und so bin ich wieder beim kleinen Tun. Um nichts anderes handelt es sich als um das kleine und allmähliche, das unscheinbare Augenblickstun, das geduldige Abtragen von Würfel um Würfel, neues Schichten von Würfel um Würfel, wenn ich von Humanität spreche. Die großen Pflichten gegen Welt und Gesellschaft zerteilen sich unter diesem Gesichtspunkt sofort in unzählige kleine, allmähliche und unscheinbare, und es ist durchaus keine Gefahr mehr vorhanden, daß einer unter der Schwierigkeit der Aufgabe erliegt, wenn er nur begreift, daß nicht eine einmalige Leistung von ihm verlangt wird, die seine Kräfte übersteigt und ihn im Schrecken vor dem Unmöglichen gar nicht dazu kommen läßt, ans Werk zu gehen, sondern daß er Stunde für Stunde und Tag für Tag und Würfel um Würfel eine einfache, obschon mühselige und zeitraubende Arbeit zu verrichten hat. Und eine, die unbedingt notwendig ist, soll das Quantum Glück, Freiheit und Frieden, das die Menschen brauchen, vermehrt werden. Denn soviel ich bis jetzt erkennen kann, ist etwas zu wenig davon da. So wenig, daß es kaum zum Leben reicht. Hierin werden Sie mir wohl beistimmen.

Ich möchte Ihnen drei geringfügige Begebenheiten erzählen. Zwei davon habe ich selbst erlebt, eine wurde mir berichtet.

Als ich eines Tages ziellos durch die Straßen einer italienischen Stadt schlenderte, fiel vor mir ein Mädchen, ein Kind von etwa sechs Jahren, schön angezogen, in einem weißen Kleidchen, während des Laufens bäuchlings auf das Pflaster. Nach Kinderart begann es sofort zu weinen, da eilte ein junger Mann hinzu, hob es sorglich und zärtlich auf, drückte es lächelnd an seine Brust und küßte es auf die Wange. Ich dachte natürlich, er sei der Vater oder ein Verwandter des Kindes, aber im selben Augenblick kam ein anderer Herr auf die beiden zu, der junge Mann überreichte ihm das Kind mit der Gebärde eines Fremden, winkte seinem Schützling noch einmal freundlich zu, zog artig grüßend den Hut und verschwand in der Menge. Weder auf die Zuschauer noch auf den Herrn hatte die Szene besonderen Eindruck gemacht; sie galt also für etwas ziemlich Alltägliches.

Der zweite Vorfall spielt ebenfalls in Italien. Ich saß eines Abends mit Freunden auf dem Markus-Platz in Venedig. Es war einer der Wochentage, an denen gewöhnlich die Militärmusik spielt; auffallenderweise fand an jenem Abend das Konzert nicht statt, und wir wandten uns an den Besitzer des Kaffeehauses und fragten ihn. Verwundert antwortete er, ob wir denn nicht wüßten, daß heute der Pater Soundso, der berühmte Maler, gestorben sei, er nannte einen uns gänzlich unbekannten Namen, und daß aus diesem Grund die Stadt Venedig sich in Trauer befinde. Diese Worte bewegten uns, und wir beneideten ein Land, in dem der Tod eines Künstlers als ein nationales Unglück betrachtet wurde.

Und nun das dritte Geschehnis. In einer süddeutschen Stadt, am Bodensee, wenn ich mich recht entsinne, lebte ein reicher Mann, der eine schöne Villa mit einem großen Garten besaß. In diesem Garten hatte er eine musterhafte Rosenzucht angelegt, der er viel Zeit und Aufmerksamkeit widmete. Eines Morgens, als er mit der Schere zwischen den Büschen und Sträuchern umherging, bemerkte er vor dem Zaun einen Zug alter Leute, vielleicht zwanzig oder dreißig, immer zwei und zwei, die beim Anblick der Rosenpracht auf einmal stehen blieben, Männer und Frauen gleicherweise, und stumm-entzückt durch das Gitter in den Garten schauten. Das gefiel dem Eigentümer und rührte ihn, er erkundigte sich, wer die Leute seien, erfuhr, daß es die Insassen eines in der Nähe gelegenen Asyls waren, und am selben Tage noch schnitt er eine große Zahl von Rosen ab, mehrere hundert, legte sie in einen Korb und schickte den in das Heim der Alten, die sich vor Staunen und Dankbarkeit kaum zu fassen wußten.

Jeder dieser drei Fälle, ich habe sie nicht ausgewählt, sie haben sich mir wie ein Zusammengehöriges plötzlich dargeboten, gibt sich als bezeichnende Handlung; der erste als Akt der Gefälligkeit und des Entgegenkommens eines Einzelnen gegen einen Einzelnen; der zweite als Akt des Respektes und der Ehrerbietung einer Gesamtheit gegen einen Einzelnen; der dritte als Akt der Freundlichkeit eines Einzelnen gegen eine Gesamtheit. Alle drei aber sind Beispiele echter Humanität. Bei keinem von ihnen bedurfte es einer besonderen Anstrengung oder eines Opfers; es ist viel eher die Gebärde, die ihnen das Charakteristische und Exemplarische verleiht, der innere Impuls und die Überwindung jener Trägheit, die uns in der Regel verhindert, das Ungewöhnliche, das Ungewohnte zu tun, das allein Würde und Selbstachtung gibt, das allein die menschliche Gesellschaft befruchtet und sie aus der trüben Sphäre der durch Not und Zwang geschaffenen Verbindung in eine freie Wechselwirkung hebt. Das Gesetz befolgen, das geschriebene oder durch Brauch überlieferte, ist nützlich und anerkennenswert; wie käme sonst Ordnung und fortschreitender Wandel zustande, Geschäft, Erwerb, Vertrauen und Autorität; aber es macht noch keinen Vorrang; die bürgerlichen Pflichten und die Pflichten des Bluts erfüllen, ist anerzogen und wichtig, kann Tugend werden, kann aber auch zur Erstarrung, zum Hochmut, zur egoistischen Ausschließung aller höheren Forderungen führen. Der wahre Dienst ist der unbefohlene; Freude bringt in das menschliche Leben nur, wer keine Zwecke verfolgt. So wie die Blüte keinen Zweck hat, obschon ohne sie keine Frucht entstehen könnte; aber wozu braucht sie zu duften, wozu braucht sie schön zu sein? Humanität ist die Blüte des menschlichen Daseins.

Die Frage liegt nah, warum ich den Ausdruck Humanität wähle und nicht das deutsche Wort Menschlichkeit, das scheinbar dasselbe besagt. Doch nur scheinbar ist der Sinn derselbe. Das sind die wunderbaren Tiefen der Sprache, die in still-geheimnisvoller Tätigkeit verwandte Begriffe zu unterschiedenem Sinn ausgestaltet, so daß sie schließlich Fackeln gleichen, die wir allerdings selber angezündet haben, die uns aber dann auf vorher finster gewesenen Wegen leuchten.

In einem schlesischen Badeort lebte vor Jahren ein Arzt, der im Sold der Gemeinde stand und zugleich als Badearzt amtierte. Der Ort war arm und durchaus auf die Einnahmen angewiesen, die ihm durch die Sommergäste zuflossen; auch der Doktor, der eine zahlreiche Familie und eine alte Mutter zu ernähren hatte, war bei seinem kärglichen Gehalt und der Dürftigkeit der Bewohner von der Frequenz der Heilquellen abhängig. Nun geschah es, daß einmal zu Beginn des Sommers, die ersten Badegäste waren schon angekommen, ein Häusler am Typhus erkrankte. Der Arzt, um die Ausbreitung der Krankheit zu verhüten, entschloß sich, eine beschworene Pflicht zu tun und den Fall zur öffentlichen Kenntnis zu bringen. Dem widersetzten sich die Gemeinde und die Kurkommission auf das heftigste, da sie mit Grund fürchteten, daß der Ruf des Ortes Schaden leiden und die Hoffnung von vielen auf Verdienst vernichtet würde. Alle Mittel wurden versucht, um den Arzt andern Sinnes zu machen, Bitten, Vorstellungen, Versprechen, Drohungen, umsonst; der Gedanke, daß er durch die Unterlassung der Anzeige den Tod von Menschen verschulden könnte, machte ihn gegen alle Einwände taub. Was man vorhergesehen hatte, trat ein; der Kurgäste bemächtigte sich eine Panik, die Mehrzahl von ihnen reiste ab, und die sich bereits angesagt hatten, blieben fort. Nun begann ein wahres Kesseltreiben gegen den Arzt. Der Pöbel beschimpfte ihn auf der Straße, Bekannte grüßten ihn nicht mehr, niemand wollte sich mehr von ihm behandeln lassen, binnen kurzem hatte er seine ganze Praxis eingebüßt, die böswilligen Verleumdungen und Angriffe zwangen ihn, seine Stellung aufzugeben und den Ort zu verlassen, womit seine Existenz ruiniert und er der bittersten Not preisgegeben war.

Hier ist, um einer sittlichen Verantwortung willen, ein persönliches Opfer von großer Tragweite. In der Obsorge für die Gemeinschaft verzichtete dieser Mann auf seinen materiellen Vorteil, ja auf sein Lebensglück. Unleugbar war es eine Tat der Menschlichkeit, eine jener Handlungen, wie sie nur auf dem Gipfel der Erkenntnis und des moralischen Bewußtseins beschlossen und ausgeführt werden, und die deshalb von tragischen Konflikten umwittert sind. Derlei zu vollbringen gibt einem aber das Leben selten zum zweitenmal Gelegenheit; daran zerschellt man in der Regel. Ja, eine Tat der Menschlichkeit, im höchsten Sinn sogar, nachahmens- und bewundernswert, aber sie eine humane Tat zu nennen, zögere ich. Ich kann mir Umstände denken, unter denen es humaner gewesen wäre, wenn er geschwiegen hätte, wenn er andere Wege gesucht hätte, das Unheil der drohenden Seuche abzuwenden. Er gehorchte vor allem dem Gesetz seines Charakters und dem Zwang seiner Idee. Gesetz und Idee sind nicht immer Wohltat, besonders im gemeinen Alltag nicht; sie können sich nur im Ringen der Kräfte als Wohltat erweisen.

Ich will nicht die Menschlichkeit in einen Gegensatz zur Humanität stellen, das würde zu törichten Haarspaltereien führen. Was ich spüre und was ich wünsche, daß auch Sie spürten, ist ein Unterschied der Konstanz, der Dauer und des Gewichts. Das eine ist eine Erweiterung und Verbreiterung des andern. Das eine ist das Feuer, das andere die Wärme, die es spendet. Menschlichkeit ist individuell gerichtet, Humanität sozial. Es ist ein Unterschied wie zwischen Güte und Höflichkeit, doch beide Worte reichen nicht ganz ans Wesen; es gibt bei altitalienischen Schriftstellern, besonders aber in den »Fioretti« des Franz von Assissi, einen Ausdruck dafür, und der lautet: Cortesia. Das ist es eigentlich, was ich unter Humanität verstehe: Cortesia. Und wieder bitte ich Sie, Begriffsklauber, als der ich Ihnen erscheinen muß, es nicht mit dem abgeflachten Wort Courtoisie zu verwechseln; es ist unendlich viel mehr; eine Höflichkeit des Herzens ist es, die entscheidend ist für alles, was zwischen Mensch und Mensch geschieht. Bedeutsam, daß beide Worte, Humanität wie Cortesia, romanische Worte sind, und daß das Deutsche keine entsprechende Bezeichnung dafür hat; es bestätigt nur meine Definition; der Romane ist vorzüglich sozial, der Deutsche vorzüglich individuell gestimmt, so wie wir ja auch keine Gesellschaft im Sinn des Franzosen oder Italieners haben.

Unter den Briefen von Heinrich von Kleist befindet sich ein überaus herrlicher an seine Braut über seinen Freund Ludwig von Brockes. Darin heißt es: »Wenn wir beide in den Postwagen stiegen, so nahm er sich immer den Platz, der am wenigsten bequem war. Von dem Stroh, das zuweilen an dem Fußboden lag, nahm er sich nie etwas, wenn es nicht hinreichte, die Füße beider zu erwärmen. Wenn ich in der Nacht zuweilen schlafend an seine Brust sank, so hielt er mich, ohne selbst zu schlafen. Wenn wir in ein Nachtquartier kamen, so wählte er für sich immer das schlechteste Bett. Wenn wir zusammen Früchte aßen, blieben immer die schönsten, saftvollsten für mich übrig. Wenn man uns in Würzburg Bücher aus der Lesegesellschaft brachte, so las er nie in dem zuerst, das mir das liebste war. Als man uns zum ersten Male die französischen und deutschen Zeitungen brachte, hatte ich, ohne Absicht, zuerst die französischen ergriffen. So oft die Zeitungen nun wiederkamen, gab er mir immer die französischen. Ich merkte mir das und nahm mir einmal die deutschen. Seitdem gab er mir immer die deutschen. Um die Zeit, in welcher mein Arzt mich besuchte, ging er immer spazieren. Ich hatte ihm nie etwas gesagt, aber, es mochte schlechtes oder gutes Wetter sein, er verließ das Zimmer und ging spazieren. Nie kam er in meine Kammer, auch darum hatte ich ihn nicht gebeten, aber er erriet es, und nie ließ er sich darin sehen. Ich brannte während der Nacht Licht in meiner Kammer, und der Schein fiel durch die geöffnete Tür gerade auf sein Bett. Nachher habe ich erfahren, daß er viele Nächte deswegen gar nicht geschlafen habe; aber nie hat er es mir gesagt. Aber Du lächelst wohl über diese Kleinigkeiten? O Wilhelmine, wie schlecht verstehst Du Dich dann auf die Menschen! Große Opfer sind Kleinigkeiten; die kleinen sind es, die schwer sind; und es war leichter, mir nach Wien zu folgen, leichter, mir sechshundert Reichstaler zu opfern, als mit nie ermüdendem Wohlwollen und mit immer stiller und anspruchsloser Beeiferung meinen Vorteil mit dem seinigen zu erkaufen und in der unendlichen Mannigfaltigkeit von Lagen sich nie, auch nicht auf einen Augenblick, sich anders zu zeigen als ganz uneigennützig.«

Ich getraue mich, einen Menschen, der Humanität besitzt, an der Art zu erkennen, wie er eine Tür aufmacht und in ein Zimmer tritt. Und erst recht daran, wie er einen Stuhl nimmt, sich mir gegenübersetzt und mir zuhört. Ich erkenne ihn an seinem Gruß auf der Straße, an dem Tonfall seiner Stimme, an seinem Lächeln und an seinem Lachen. Unter Hunderten finde ich ihn heraus als den, der stets die Beziehung zum Andern gewinnt und ihm mit Verbindlichkeit begegnet. Verbindlichkeit: wunderbares Wort! Dadurch wird man seiner selbst erst inne, daß man sich am Andern vergleicht, sich zum Andern stellt und sich auf ihn bezieht. In diesem humanen Menschen ist das Bedürfnis vorhanden, Ehre zu erweisen, jedem seine menschliche Ehre, und nicht mit der Elle und der aufgeschriebenen Gegenseitigkeitsrechnung, sondern frei. Das hat wenig mit der landläufigen Liebenswürdigkeit zu tun, die oft nur Maske ist oder schützendes Kleid, es ist die ihm innewohnende Achtung vor dem Gleichgeordneten; denn alle Menschen gelten ihm in bezug auf Würde für gleich. Er mißt nicht ihren Geist, ihre Verdienste, ihren Rang, ihre Nützlichkeit, er empfängt sie als ebenbürtige Geschöpfe, und dies ist ihm grundeigen, wie einem andern die Angst oder das Mißtrauen eigen ist. Es ist eine beständige Aufmerksamkeit der Seele in ihm.

Sie werden mir freilich einwenden: Was du da malst, ist ein imaginäres Porträt, ein solches Bild der Vollkommenheit existiert in Wirklichkeit nicht, es sei denn als die seltene Ausnahme. Es ist wahr und auch wieder nicht wahr. Das Vollkommene natürlich kann nicht die Norm für das Gewöhnliche bilden, und ich will auch nicht so tun, als sei es das Gewöhnliche unter uns. Aber es stünde schlimm mit unserer Welt und schlimm mit uns selber, wenn Eigenschaften, durch die wir erst auf die höhere Stufe der Lebewesen rücken, wenn eine Führung, die kein besonderes Merkmal an sich hat, außer daß sie eben menschlich ist, schon zur Verkörperung des Ideals zählten. Das darf ich nicht glauben, das darf ich Sie nicht glauben machen. Wir leben alle wie im tiefen Bergwerk und sehen einander nur mit Hilfe einer schwach brennenden Grubenlampe; jeder schürft in seinem schwülen und gefährlichen Schacht und weiß wenig von den verborgenen Dingen in der Brust seines Nebenmannes; viel geht verloren, viel schwemmt der Schweiß hinweg, und in der Mühsal verdorrt viel edler Same. Gelingt es einem einmal, der Fron zu entschlüpfen, so treibt ihn bloße Unruhe schon zu den Wesen der reineren Art, das schlechte Gewissen wenigstens wird er nicht los, und wenn er sich auf der Flucht befindet, hat er gleich weiten Weg zum Bösen wie zum Guten. Und die nicht an der Kette liegen und nur das Brot haben und die Blöße decken wollen, die sind auf der Flucht; sie fliehen vor sich selber, vor der Menschheit und vor dem göttlichen Ruf; wie Kain. Es ist ja alles so dicht und abgeteilt dahier; jeder muß mit seinen Gaben wirtschaften, mit dem Stück Feld, mit dem Stück Macht, mit dem Stück Herz, das ihm verliehen wurde. Ich las einmal in einem Buch von Knut Hamsun ein ungeheures Gleichnis; es heißt dort von zwei Liebenden, die einander umschlungen halten: Ihre Herzen schlugen wie begrabene Hufschläge. Das Bild hat mich lang verfolgt; es ist so unermeßlich schwermütig in seiner Wahrheit; all unser Gefühl hat so etwas Begrabenes, und es hat wohl auch seine Bedeutung, daß das Herz das inwendigste und unzugänglichste der Organe ist, umgittert wie von Kerkergittern von den Rippen.

Ein russischer Freund erzählte mir, daß er einst, als sein Vaterland noch unter der Herrschaft des Zaren stand, eine Depesche erhielt, in der ihm mitgeteilt wurde, seine Mutter, die in einer fernen Stadt wohnte, liege im Sterben und begehre ihn vor ihrem Tod noch zu sehen. Um abreisen zu können, mußte er seinen Paß revidieren lassen, nun war aber gerade Sonntag, noch dazu Abend, und der Polizeihauptmann, der die Formalität vorzunehmen hatte, galt als ein besonders harter, roher und grausamer Mensch. Trotzdem entschließt er sich, den Beamten in seiner Wohnung aufzusuchen, erfährt dort, daß er im Theater sei, nach qualvollem Zaudern eilt er ins Theater, betritt mitten in der Vorstellung die Loge des Gefürchteten, stellt ihm den Fall dar, und zu seinem Erstaunen bedarf es gar nicht vielen Bittens; der Umstand, daß es sich um die Mutter handelt, der Anblick des Schmerzes im Gesicht des jungen Mannes bestimmen den Polizeihauptmann, dem Verlangen zu willfahren, ungeachtet der späten Stunde fährt er sogleich mit ihm ins Amt, bringt eigenhändig den Paß in Ordnung und drückt ihm schließlich schweigend die Hand.

Mein Freund wollte darin einen außerordentlichen Beweis von Menschenfreundlichkeit sehen, eben weil der Polizeigewaltige ein so berüchtigter Despot war; die Widerstände, die einer zu überwinden hat, um seiner Natur das Bessere abzuringen, seien sehr in Rechnung zu ziehen, meinte er. Ich konnte ihm nicht recht geben, ich konnte ihn nicht einmal ganz begreifen. Was er sagte, stimmte mich nur traurig. Ich teilte die Geschichte andern Personen mit, um die Probe zu machen, und meine Verwunderung wuchs bei jedem Mal, denn ich fand kaum einen, der nicht eine gewisse Rührung und freudige Anerkennung über das Verhalten des amtlichen Machthabers bezeigt hätte, fast als hätte er eine heldenhafte Tat vollbracht, während er doch nichts anderes getan hatte, als daß er einem Mann, der im Begriff war, an das Sterbebett seiner Mutter zu eilen, den allerselbstverständlichsten Dienst geleistet hatte, einen Dienst, den mit diesem Namen zu bezeichnen man sich schämen müßte. Vermutlich hätte es ihrer Erwartung und Erfahrung eher entsprochen, wenn der Polizeihauptmann den vordringlichen Gesuchsteller gröblich angeschnauzt und auf die Amtsstunden verwiesen hätte. Indem ich weiter darüber nachdachte, schien es mir, als läge in der unbedeutenden Begebenheit der Schlüssel zu manchem, was schwer zu fassen und zu ertragen ist. Es tritt da die Erstarrung eines Systems hervor; organische Ordnung der Gesellschaft und des Staates herabgesunken in den Zustand der Verwesung; Millionen von freien und denkenden Menschen, knechtisch gebeugt unter den Büttel des Beamten, der der wahre Herrscher ist. Wurden die Leibeigenen durch die Knute in Zucht und Schweigen erhalten, so werden es die heutigen Geist- und Seeleneigenen durch die Vorschrift, den Erlaß, den Paragraphen, den Zettel an einer Bürotür, durch Regel über Regel, Verbot über Verbot, Zwang über Zwang, Einschüchterung über Einschüchterung, Drohung über Drohung. Ich will nicht behaupten, dies sei überflüssig und man könne sichs schenken, aus zivilisierten Reichen steinerne Kasernen zu machen, wo das Wohlverhalten ein Rechenexempel ist und die höchste Leitung sich hüten muß, den Argwohn der Wächter zu erregen. Der Mensch formt seine Einrichtungen, und die Einrichtungen formen den Menschen. Die Rache, die das tote Gerät, das Vehikel, die Maschine an uns nimmt, ist die schrecklichste. Man läßt gewähren und sieht zu; man schickt sich ins scheinbar Unvermeidliche, und auf einmal ist das Element, das wir eben noch gehorsam unter uns glaubten, jedem Fingerdruck gehorsam, wie der Ifrit im arabischen Märchen zum mörderischen Dämon angeschwollen, vor dem wir zitternd auf die Knie stürzen. Beaufsichtigung macht faul; Anstalten ersparen Gedanken; die Freiheit der Vernunft und des Herzens, die uns bis zu einem gewissen Grad gegeben ist, will geübt werden wie der Körper eines Turners; Gefangenschaft erzeugt Feiglinge; und in Feigheit und Angst kann Humanität so wenig gedeihen wie eine Palme im Eis.

Zur Humanität gehört also Furchtlosigkeit. Zu tun, was nächstes, innigstes Gebot ist, dazu muß man Mut besitzen, wenn auch dies Tun nur darin besteht, daß man Würde wahrt oder Würde gibt. Deshalb ist etwas so Vorbildhaftes in der Begegnung von Goethe und Napoleon, und was Mit- und Nachwelt daran entzückte und erstaunte, ist die Furchtlosigkeit, womit der große Dichter dem großen Feldherrn gegenübertrat, die Vereinigung von Respekt und Gefühl seiner selbst, eine Haltung, die der Kaiser, gewohnt, nur mit Sklaven und Jasagern zu verkehren, und vollgültig erwidernd, indem er Würde verlieh, wo er Würde fand, als im schönsten Sinne human auffaßte; das berühmte Wort »voilà un homme« drückt es überzeugend genug aus.

Es liegt demnach das humane Wesen nicht in Aktionen der Mildtätigkeit, nicht in solchen des Mitleids und der philanthropischen Bemühung, so nützlich und preisenswert sie auch sein mögen. Sie gehören auf ein anderes Gebiet. Humanität als geschlossene Erscheinung ist etwas viel Selteneres; sie ist geistiger; sie ist schweigsamer; sie ist adliger; sie ist bescheidener; sie ist durchdringender, wenn auch nicht so unmittelbar und überschaubar in ihren Wirkungen; sie ist wichtiger für das Ganze der Menschheit und die Idee ihres Seins. Denn immer wieder zeigt sich das Wunderliche, daß nicht die großen Ereignisse es sind, nicht Kriege, nicht Revolutionen, nicht Entdeckungen und Erfindungen, nicht Gesetze und Parlamentsbeschlüsse, nicht religiöse Entflammung und philosophische Systeme, nicht die Beschäftigung mit der übersinnlichen Welt und nicht einmal die Begeisterung, die die Kunstwerke erwecken, wovon Selbstbesinnung ausgeht, Sänftigung und Innehalten im rasenden Zwecklauf und Stillung unersättlicher Gier, sondern daß es nur von jener Reihe kleiner und kleinster Handlungen bewirkt wird, die gleichsam unter der Oberfläche des Lebens geschehen, in Bewegung und Folge kaum wahrzunehmen sind und doch eine so allmähliche spürbare Veränderung hervorbringen wie der Golfstrom auf das Klima zweier Kontinente. Eine langsame Entwicklung, die aber völlig mit dem Geist der Natur im Einklang ist. So muß es wohl sein; so lege ich mir den Begriff Fortschritt aus; ich für mich; sonst sehe ich keinen Weg und keinen Sinn des Lebens auf der Erde.

Wir besitzen aus der Vergangenheit Briefe, Aufzeichnungen, Kundgebungen einsamer Forscher und Gelehrter, die da und dort verstreut in den Ländern saßen, hingegeben ihren Gedanken und Arbeiten, erfüllt von der Not der Mitmenschen, bedrängt und erschreckt von der Finsternis der Welt, die einander ihre Kümmernisse und ihre Hoffnungen mitteilten und in einer Art Geheimsprache fast von dem redeten, was der in Blutorgien, Haß und Habsucht berauschten Menschheit dereinst zum Nutzen gereichen sollte. Glückschaffer, die sie waren und als die sie sich fühlten, Bereicherer der Erleuchtung und des Wissens, Beseitiger eingewurzelten Übels und Vorurteils, durften sie ihre Wahrheit nicht offenbaren, es sei denn vor ihresgleichen; es sei denn, sie verfielen der Ächtung. Trotzdem ist es letztlich nicht diese ihre Wahrheit, ein den Einflüssen der Zeit unterliegender Wert, diese Wahrheit humaner Genien, Wahrheit der Kepler, Paracelsus, Giordano Bruno, Galilei, die von Epoche zu Epoche strahlte und vogelhaft über Zonen und trennende Meere hinweg Keime der Befruchtung ausstreute bis in ferne Jahrhunderte, es ist vielmehr das, was in ihrer Persönlichkeit und in ihrem Menschentum als Lichtkern verborgen war. Meine verehrten Zuhörer! Sie mögen die Dinge dieser Welt betrachten wie Sie wollen und von welchem Punkt aus Sie wollen: vom Licht kommt alles Heil; und Licht ist so still, wie es unaufhaltsam ist und wie es unüberwindlich ist. Im Licht, als hätte es sich zu einem seligen Zustand durchgerungen, wird das menschliche Herz ein fließendes Wesen, sinnvoll bewegt; angesichts der Dunkelheit beginnt es sich zu ängstigen und zu erstarren. Sogar den Toten stellt man seit uralten Zeiten eine Lampe auf, als sei die Erinnerung an sie gequält durch das Dunkel, in das sie versunken sind. Grandios heißt es im Evangelium: »Wer mein Wort hält, der soll den Tod nicht sehen.« Welches Wort kann darunter verstanden sein? Welches Maß von Befolgung der Lehre, welche Flut und Überflut von Licht wäre der Kreatur vonnöten, damit sie den Tod nicht sieht?

Ich fürchte, viele haben ihn gesehen, wir alle haben ihn gesehen. Ich fürchte, er hat die ganze Schaubühne, auf der wir spielen, mit seinem Atem überhaucht. Denn es ist eine sonderbare Kälte eingetreten; die Menschheit friert. Stolz auf ihr Avancement in der Geschichte und auf das, was sie die Errungenschaften der Kultur nennt, ist sie von ihrer erfolgreichen Karriere einigermaßen geblendet und erinnert an einen Baumeister, der während des Baues die Wahrnehmung macht, daß er das Haus auf morschem Grund errichtet hat, aber in der Angst, sein Auftraggeber könne dahinterkommen, und um sich über die fatale Sachlage selbst zu belügen, Stockwerk auf Stockwerk türmt, vollkommen irrsinnig, als sei dadurch der Einsturz zu verhüten, der mit jedem Meter Höhe, den er zulegt, unvermeidlicher wird.

Aber die Maurer und Zimmerleute sind zufrieden. Sie können ein eitles Lächeln nicht unterdrücken, wenn sie die Fassade betrachten. Sie denken, es sei ein Gebäude, das der Vergänglichkeit trotzt. Wenn sie unter sich sind, stellen sie eine glänzende Bilanz auf. Und in der Tat, es ist alles verwirklicht, was Techniker erdacht, Erfinder erträumt, Chemiker ergründet, Mathematiker errechnet, Utopisten erschwärmt haben; das Meer dienstbar, die Luft dienstbar, die Tiefen der Erde dienstbar, die unbekannten Kräfte des Universums dienstbar, die Fernen überbrückt, die Planeten vor die Linse des Teleskops gezaubert, die Elemente unterjocht, die Zeit bezwungen, der Raum bezwungen, die Prophezeiungen eines Lionardo erfüllt, die Visionen eines Franklin und Lavoisier übertroffen; Sümpfe sind trockengelegt, Wüsten bewässert, Städte kanalisiert, Ströme reguliert, Berge tunneliert, Bakterien sterilisiert, Neger emanzipiert, wilde Völkerschaften zivilisiert. Niemand wird mehr seines Glaubens halber gefoltert oder um seiner Überzeugung willen verbrannt; das Wort ist frei, das Buch ist frei, Schulen verbreiten Aufklärung, Minoritäten erhalten ihre Rechte: ein Paradies, sollte man meinen.

Oder nicht? Nicht wenigstens der Vorhof des Paradieses? Es scheint nicht, wenn ich Ihre Mienen richtig verstehe. Was man erblickt, scheint allerdings eher eine Brand- und Trümmerstätte zu sein. Käme etwa ein unbescholtener Geist von einem fremden Stern und fragte: Wo sind denn nun die Segnungen der Kultur, von denen ihr so viel Aufhebens macht, die Früchte der Bildung, die Wohltaten des Wissens, das Glück der Freiheit? Wie habt ihr euch zurechtgefunden in diesem erstaunlichen Wolkenkratzer mit seinen Maschinen, Laboratorien, Luxussälen und hygienischen Vorrichtungen?, so wäre man um die Antwort verlegen.

Wozu aber die schamhaften Gleichnisse, die nicht an die Wirklichkeit heranreichen? Warum nicht mit klaren Worten sagen, daß die Erde ein unwirtlicher Ort geworden ist, warum den schneidenden Widerspruch nicht ehrlich zugeben? Das Grauen, von dem die friedlosen Seelen befallen sind, steigt auch zu den Sternen empor, und wir brauchen ihre Bewohner nicht zu betrügen.

Keine Ara der Barbarei, der Verfinsterung, der blutigen Umwälzung, die der Kreuzzüge nicht, der Religionsverfolgungen, der Völkerwanderung, des Dreißigjährigen Kriegs, der Hexenprozesse und der Inquisition, keine entbehrte jene heiligen Formen und Schranken, jene ehrwürdigen Bräuche und Überlieferungen, jene stillschweigenden Vereinbarungen und Refugien, mittels welcher das Verhältnis geregelt wurde zwischen Kaste und Kaste, Zunft und Zunft, Korporation und Korporation, zwischen Herrschenden und Dienenden, Fürst und Volk, Nation und Nation. Was für ein Name immer als Schutz und Symbol dahinterstand, Krone oder Kreuz, Adelsbrief oder gelehrte Abhandlung, Doktorhut oder gemaltes Bildnis, Schönheit einer Frau oder Ruhm eines Philosophen: gewisse Unverletzlichkeiten waren garantiert. Aber den Parteien gab es ein Dogma und Gebietendes: wenn nicht Gesetz, so Zeremoniell; ein Begriff nur, wie Ritterehre oder Gottesstaat, ein Gültiges, das Grenzen zog, etwas, vor dem man sich verneigte und das verband.

Heute gibt es kein Gültiges mehr. Seit dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts hat im Gegensatz zur immer lärmender gewordenen Manifestation des Geistes eine langsame Zersetzung der Fundamente stattgefunden, auf denen er ruht und wirkt: kraftvolles Bürgertum, gläubiger Zusammenschluß der Strebenden, Andacht der Aufnehmenden, Enthusiasmus für ein Unbedingtes und Ehrfurcht vor dem, der die Gnade trug. Sie mögen sich dieses »die Gnade tragen« nach Gutdünken auslegen; es bezeichnet jedenfalls das, was einmaliges und nie wiederkehrendes Geschenk ist; wenn Sie wollen: Genie, wenn Sie wollen: Leidenschaft zu einer Sache und Idee; wenn Sie wollen: demütige Hingabe. Die französische Revolution hatte das aufgesammelte Gut eines Jahrtausends orkanhaft in alle Winde verstreut; das Kaiserreich repräsentierte es noch einmal in einer großartigen Gestalt, dann geschah Zerstückung, Zerbröckelung, Verfall, und hundert Jahre später war Europa ein Antiquitätenladen, voll von abgedientem geistigen Hausrat, verblaßten Lebensformen und unbrauchbaren Idealen. Man kann das Prinzip der Demokratisierung anklagen oder die Müdigkeit und innere Schwäche der herrschenden Schichten; man kann es als eine Folge der Übervölkerung junger Staatengebilde betrachten; man kann als Ursache das erwachte Menschenbewußtsein und gewaltsame Emporstürmen ungerecht unterdrückter und böswillig in Dunkelheit gehaltener Massen nennen; man kann die Vereinzelung im seelischen Gebiet und die Vergesellschaftung im materiellen, die verstattete Bewegungsfreiheit auf der einen Seite und die mechanische, eiserne Anschmiedung an ungeheure Wirtschaftszentren auf der andern als natürlichen Kräfteausgleich ansprechen, ohne irgendwelche Schuldfrage zu stellen: der verborgene Trieb ist damit nicht enthüllt; das merkwürdige Geheimnis bleibt bestehen.

Was sich vor allem darbietet, wenn man geduldig und eindringlich das Bild der Zeit anschaut, ist ein von der Vergangenheit völlig unterschiedenes Verhältnis zum Besitz. Der Vorgang hat eben begonnen, er ist noch im Fluß, dem Urteil fehlen die Stützen. Doch so viel ist deutlich zu sehen, daß die Grenze des Begriffes Besitz sozusagen aus dem privaten Ermessen in das öffentliche verlegt ist und daß diese Verschiebung zu einem erbitterten Kampf um jeden Fußbreit Boden geführt hat, buchstäblich und figürlich. Was Gewohnheit und Urkunde, verbrieftes und ersessenes Recht, Eroberung und Erwerb, Dienst und Macht, Kauf und Erbe bis vor kurzem noch als unumstrittenes Eigentum behaupten durften, hat aufgehört, sakrosankt zu sein. So ist der innere Wille derer beschaffen, die der Gesellschaft zuwachsen; was am grünen Tisch in scheinbar grellem Kontrast hierzu vor sich geht, hat damit nichts zu tun, obschon es in einer heimlichen Verhandlung später vor demselben Forum spruchfällig wird. Ich stelle nur die Forderung dar; ich wäge und prüfe sie nicht. Gefordert wird, daß Besitz sich von der Usurpation loslöst, und die Forderung allein schon, mag sie erfüllbar sein oder nicht, wirft Wellen der äußersten Beunruhigung vor sich her. Daß sich hiermit auch eine weitgreifende Wandlung in dem Verhältnis zwischen Arbeit und Lohn, zwischen Leistung und Prämie vollzieht, brauche ich Ihnen ja nicht feierlich zu vermelden. Es erschüttert Tag für Tag das soziale Gefüge, sichtbar und fühlbar. Ungestüme Hände langen nach Altgesichertem; Abmachungen und Verträge, die für unumstößlich galten, werden höhnisch von der Tafel der Gemeinschaft weggefegt. Die Eigenschaft der Leistung, sogar ihre schöpferische, soll nicht mehr ertragbestimmend, die Höhe der Prämie nicht mehr von der Leistung abhängig sein, so lautet die kühne und den ganzen kunstvollen Staffelbau der staatlichen und wirtschaftlichen Institution bedrohende Losung. Beide wollen mit allgemeinem Maß gemessen, nach allgemeiner Norm befriedigt werden, und zum Richtscheit unterstellen sie die Existenz als solche, wie wenn Leben schon hieße des Lebens wert sein. Ein neuer Anspruch des Einzelnen an die Gesamtheit ist somit erwachsen, der nämlich, daß die Gesamtheit unter allen Umständen, was er auch tue und lasse, für ihn zu haften, für ihn zu bürgen hat, ihm verantwortlich, ihm verdungen, ihm lieferpflichtig ist, und erst wenn sie seine Bedingungen erfüllt hat, er wieder ihr. Letzte explosive Konsequenz eines lang verschleppten Prozesses.

Berechtigt oder nichtberechtigt, das steht hier nicht zur Betrachtung. Es ist ein elementares Phänomen, und seine Wirkungen dringen in alle Fugen unseres Daseins. Und doch nur wieder ein Zeichen, eines für viele, denn was auf dem Grunde lauert, während oben die Gewässer schäumen, kann kein Auge erkennen. Ringsum Erwachende, ringsum Fordernde, ringsum Sturm und widerspältiges Geschehen. Der Leib der Menschheit liegt in Krampf und Zuckung. Eigentum in Gefahr. Autorität in Gefahr. Zukunft in Gefahr. Und die Vergangenheit ein Haufen Schutt. Schicken die, die sich verkürzt wähnen, ihre Wortführer und Beauftragten ins Feuer, so paktieren sie schon mit dem Feind und lechzen nach Besitz, während sie die Besitzenden verdammen. Der Kreisel dreht sich unaufhörlich, die giftige Schlange beißt sich in den Schwanz und rast. Die eine Partei gebärdet sich verzweifelt wie der Geizige bei Molière, der nach seiner Geldkassette heult, die andere triumphiert wie Franz Moor, wenn er den eigenen Vater ins Kerkerloch gestoßen hat. Verwirrung bemächtigt sich der Besonnensten, Entsetzen der Mutigsten. Kriege brechen aus, unverstanden in ihren Ursachen, mißverstanden in ihren Folgen. Politik wird zum Marterwerkzeug, Verständigung zur Komödie. Phrasen wirbeln, Verleumdung geifert. Volk steht gegen Volk, Christ wütet gegen Jude, Süden gegen Norden, Osten gegen Westen, Sohn gegen Vater, Bürger gegen Bürger, alle gegen alle. Schließlich scheint es, als finge der Planet selbst zu schwären an. Der Kosmos wankt, die Weltenuhr zerbricht.

Kann einer schuldlos sein, wo so viele gezeichnet sind? Wen darf der Haß verschonen, wenn alle maßlos leiden? Sucht man Begeisterung und heroische Tat, so findet man Fanatismus und Betäubung. Ich sehe die geschminkten und übernächtigen Antlitze einer Versammlung von Schiffbrüchigen, die sich die Ohren verstopft haben gegen das Brausen des Ozeans. Deswegen muß die Musik, die sie sich zu ihren Gespenstertänzen und den Verzerrungen ihrer Rette-sich-wer-kann-Lustigkeit aufspielen lassen, so schmetternd sein, daß sie die Gewölbe sprengt, und so kataleptisch rhythmisiert, daß die Krüppel zu Exzentrikclowns werden und Meuchler und Wucherer ihre befleckten Seelen im Blut- und Goldrausch ersäufen können. Ich sehe den grinsenden Hanswurst in allen vornehmen Spelunken Europas faseln und die flitterbehängte Unzucht mit kindlichem Erstaunen über Leichenfelder trippeln. Die Tempel verbrannt, die Altäre besudelt, die Gärten der Phantasie verwüstet, die Pforten der Liebe verriegelt, alles rennt, alles flüchtet, wohin? wohin? Vor Gier und Angst können sie nicht Atem schöpfen. Wohin? wohin, Leute? habt ihr ein Ziel? wißt ihr eins? Schiffbrüchige? oder nur abgebranntes armes Volk? oder Passagiere in einem Expreßzug, denn Eile ist die Parole, dessen Heizer und Lokomotivführer wahnsinnig geworden sind? Ja, so wird es sein. Die Maschine läuft von selber. Manometer auf neunundneunzig. Das Zeitalter krümmt sich vor Angst.

Ernsthafte und erfahrene Kritiker haben der Meinung Ausdruck gegeben, daß das Ende aller Religionen gekommen sei, und daß sich anders der beispiellose Zusammenbruch nicht erklären lasse. Die wenigen Aufrechten, Nachzügler der Vernichtung, Gewissensrichter, stimmen ihnen bei. Trauer und Enttäuschung haben ihnen das Wort vom Untergang des Christentums nahegelegt, und in ihrer schmerzlichen Niedergeschlagenheit sagen sie, daß eine Lehre, die zwei Jahrtausende lang spurlos am menschlichen Geschlechte vorübergegangen ist, auch nicht die Kraft in sich trage, eine höhere Entwicklung heraufzuführen. Sie halten mehr von der Bekehrung zur Vernunft als von dem Aufblick zu einem Gott, sofern sie überhaupt noch Hoffnungen nähren. Sie glauben nicht an den Glauben, und sie glauben nicht an die Verwandlungen, die er bewirken soll und nie bewirkt hat. Sie sagen, der Augenschein liefere den Beweis, daß der Glaube mehr Irrtum und Leiden in die Welt gebracht habe als Wahrheit und Freude, und so werden viele von ihnen zu Predigern und Verkündigern des reinen Geistes oder dessen, was ihnen reiner Geist zu sein dünkt, und sie vermeiden es, sich auf einen Gott und eine göttliche Gestalt und eine göttliche Sendung zu berufen.

Möglicherweise haben sie recht. Ich fürchte aber, daß sie Opfer eines Trugschlusses sind und nur neue Enttäuschung zur alten fügen. Ich traue dem Geist alles zu, was man will, aber den Menschen verwandeln kann er nicht, das Bild der Erde ändern kann er nicht, Berge versetzen kann er nicht. Erlesene mögen ihm gehorchen und schon Gewandelte ihn hören und verstehen; aber was wird er den Kindern geben, den Einfältigen und denen, die nichts haben als ein Herz, das nach Speise schreit? Was soll der Geist den Völkern? Völker entwachsen niemals der Kindheit, und wenn, so verbrennen sie am unerträglichen Feuer ihrer Reife wie die Griechen. Sollen sie abermals Jahrtausende warten, bis sie begreifen lernen, was doch zuletzt unbegreiflich ist? Da wird ihnen ja das Leben zum entblätterten Baum. Aufschwung ist nötig, Sehnsucht ist nötig, eine Gestalt muß sein, ein Gott muß erscheinen. Und erscheint er nicht, so muß er beschworen und aus den Höhen und Tiefen der Welt und des Innern ans Licht gezwungen werden. Vielleicht steht das Christentum nicht nur nicht am Ende, sondern erst am Beginn seines Wegs. Was bedeuten zwei Jahrtausende, gemessen am Wort seines Stifters und am Lauf der Dinge und Geschicke? Verlangt doch die geringste organische Verwandlung eines Tieres, wenn es sich neuen Lebensbedingungen anzupassen hat, eine Zeit von Jahrmillionen, und um wie vieles langsamer umformend wirkt jenes Wesenlose und Ätherhafte, das wir Seele nennen, auf den Gang der Generationen durch die Geschichte. Der Gott, den wir postulieren müssen, wenn die Welt nicht in nichts zerfallen soll, braucht und hat Geduld.

Indessen tun wir gut daran, da das große Labsal nicht zu erreichen ist, uns an die kleinen Quellen zu halten. Und die hat jeglicher in sich. Was ich meine und verstanden haben will, ist keine seichte Verbrüderungsduselei, nicht die schwächliche und leere Sucht jener, die im wahllos vergebenen Gefühl das Um und Auf des Werkes am Menschen erblicken und im selben Augenblick versagen, wo von ihnen der ganze Einsatz der Persönlichkeit gefordert wird. Es ist das genau Entgegengesetzte: errungenes unnachgiebiges Bewußtsein des eigenen Wertes und schärfste Aufmerksamkeit für den des andern. Man mißbrauche den Namen der Humanität nicht und verkehre ihn nicht zum Widersinn durch gedankenlose Vertauschung mit seinen Surrogaten und Verdünnungen. In dem Goetheschen Fragment »Die Geheimnisse« steht zu lesen: »Humanus heißt der Heilige, der Weise, der beste Mann, den ich mit Augen sah.« Erlauben Sie mir eine Fiktion. Nehmen Sie mich für einen Menschenformer und lassen Sie mich das Bild dieses Humanus, wie ich ihn träume oder schaue, vor Sie hinstellen. Es soll nur eine Ausgestaltung jenes imaginären Porträts sein, das ich schon mit flüchtigen Strichen zu zeichnen versuchte; denn im Grunde dreht sich, was ich zu sagen habe und hatte, ausschließlich um ihn. Er ist die wichtige Person im Stück.

Humanus geht unter den Menschen herum und sinnt, wie er sich ihr sonderbares Treiben deuten könne. Humanus ist nämlich einerseits neugierig, andrerseits immer ein wenig verwundert; manche Leute ärgern sich sogar über seine beständige Verwunderung; die Leute sind im allgemeinen zu beschäftigt, um sich zu wundern. Humanus ist oft nah daran, den oder den zu fragen: Mensch, was treibst du eigentlich? oder ihm zuzurufen: Halt, mein Lieber, du machst da eine Dummheit, was du da unternimmst, wird dich gereuen! Aber im letzten Moment beißt er sich auf die Lippen und läßt es sein, weil er sich sagt: er könnte es übel vermerken, er könnte meinen, daß ich ihn in seinem Interesse schädigen will, Humanus findet, daß die Leute das, was sie tun, nicht genug lieben; er findet, daß sie sich in ihrem Tun nicht finden können, weil ihr Tun und ihr Ich zu sehr zweierlei ist. Humanus sieht, aufmerksam wie er ist, daß da und dort schlimme und häßliche Dinge vor sich gehen; er schweigt. Er nimmt sich vor, es ganz heimlich und, soviel er eben kann, wieder zurechtzurücken, das Krumme grad zu biegen, das Trübe zu reinigen, und bei erster Gelegenheit führt er es auch aus, aber ganz außerordentlich heimlich, als verübe er etwas, was das Licht des Tages zu scheuen hat. Es ist ihm überhaupt peinlich, bei seinen netten Handlungen betroffen zu werden; er läßt sich nicht gern überraschen; er schämt sich leicht, Schamhaftigkeit ist ihm angeboren, und er errötet leicht. Das sei aber nur am Rande bemerkt, denn ich möchte ihn nicht lächerlich machen. Am liebsten liest er, was Menschen verschweigen, aus ihren stummen Augen, und in diesem Punkt besitzt er eine vorzügliche Fähigkeit im Erraten. Ganz erstaunlich, was er zu erraten vermag, hierin ist er wahrhaft groß. Ohne daß es ihn irgendwelche Mühe kostet, errät er deine Bedrängnis und ist imstande, dir darüber mitzuteilen, was du selber noch gar nicht weißt. Er stellt sich äußerst harmlos dabei, er sagt etwa: Sprich dich aus, mein Guter, erleichtere dein Herz; und während du es tust, werden dir aus einmal die verwickeltsten Vorgänge klar, und du schaust in deine eigene Brust, als wäre sie ein durchsichtiger Kristall. Das rührt daher, daß Humanus wirklich sieht und wirklich hört und nicht flüchtig ist und niemals zerstreut ist und nicht flüchtet, sondern standhält, jedem Mann und jeder Sache und außerdem sich selbst; und auch daher rührt es, daß er sich auf merkwürdige Weise unsichtbar zu machen versteht und nicht da zu sein scheint, während er doch im höchsten Maße anwesend ist. Wenn ihm jemand eine Schuld zu beichten hat, schüttelt er wohl den Kopf, aber er begreift sofort die allerverborgensten Gründe, als ob es das Gewöhnlichste von der Welt wäre, daß Menschen sich vergehen, und als ob es ihm auch an seiner Person nichts Neues wäre. Er scheint dann zu sagen: Kränke dich nicht, dergleichen kommt vor, ich und du, wir sind aus demselben Stoff, und wir haben einander nicht das mindeste vorzuwerfen. Er hat vielleicht bei diesem und jenem Geschäft eine besonders glückliche Hand, gewisse Talente und Überlegenheiten sind ihm eigen, aber darüber geht er rasch hinweg; er liebt es, mit seinen Gaben ein wenig heitere Zauberei zu treiben, weil er nicht will, daß sie als Last auf die Schultern seiner Freunde drücken. Er kann auch hart werden, wenn Härte nützlich ist; denn er weiß, daß der Diamant nicht mit Wachs geschliffen werden kann und daß Wölfe nicht mit Schmeichelworten zu besänftigen sind. Wenn er im Recht ist, insistiert er nicht, wenn ihm Unrecht geschieht, wundert er sich zunächst und bemüht sich, den Leuten zu beweisen, daß Unrecht geschehen ist, bisweilen mit Erfolg, bisweilen ohne Erfolg, aber obgleich er dabei weder feig noch faul ist, hütet er sich doch, mit dem Kopf durch die Wand zu rennen, die Mächtigen zu reizen und die Trotzigen in ihrem Trotz zu befestigen. Es ist um ihn eine Atmosphäre von Kraft und Klarheit. Er ist ein Meister in der Verteilung von Gewichten. Wo Urtümliches zu ihm spricht, wo die Natur sich offenbart, wo Geschaffenes ihn anrührt, wo die Gestalt erscheint, da beugt er sich unbedingt. Das ist geradezu seine Haupteigenschaft; daß er den Rang erkennt; daß er die Leistung erkennt; daß er weiß, wo Dienst endet und Knechtschaft anfängt; daß er aufs genaueste zu unterscheiden vermag zwischen gut und schlecht, zwischen hoch und gering, zwischen erlaucht und gemein, am Werke sowohl wie am Menschen, und daß er danach aufs allerminutiöseste sein Verhalten einrichtet, seine Achtung, seine Verehrung, seine Dankbarkeit, seine Huldigung, und im kleinen sein Kommen und Gehen, seinen Gruß und seinen Blick, seine Rede und sein Schweigen. Und dies wieder vermag er nur durch den Selbstrespekt, den er besitzt, ja eine Art ehrenhafter und keuscher Liebe zu sich selbst als einem menschlichen Wesen, das seinen Ursprung aus Göttlichem herleitet.

So ist also mein Humanus beschaffen. Ich weiß nicht, ob Sie mit ihm sympathisieren können. Ich weiß nicht, ob Sie ihn gelegentlich einmal als Gast zu sich ins Haus bitten würden oder ob Sie lieber seine Gesellschaft zu meiden wünschten. Ich würde es verstehen; solche nicht ganz aufgeschlossene Personen erwecken leicht Mißtrauen. Aber man kann ihn nicht ändern; so ist er angetreten, so erfüllt er sein Gesetz. Es wäre immerhin denkbar, daß er in aller Stille und Bescheidenheit etwas zu jener Wandlung beiträgt, die in ferner oder naher Zukunft aus der Erde, wenn auch nicht ein Menschenparadies, so doch eine freundlichere Niederlassung als die jetzige machen könnte. Bei all seiner Heimlichkeit und Geräuschlosigkeit ist er doch eine Art Exorzist, und es gefällt ihm, Dämonen auszutreiben. Humanus zeugend, Humanus in Abertausenden wiederholt und gesteigert: tröstlicher Ausblick! Warum sollte nicht eine Ansteckung des Herzensadels und der Cortesia möglich sein, da doch die Ansteckung des Übels seit eh und je zum eisernen Bestand unserer Lebenserwartungen gehört? Kann man sich nicht vorstellen, daß dann der schreckliche Quader, der Berg des Jammers, der seit eh und je die Sonne von uns nimmt, Würfel um Würfel abgetragen wird? daß dann der Mensch nicht mehr aus dem Mutterleibe schlüpft, um eine Erbsünde zu verbüßen dadurch, daß er lebt? und daß unter den monströsen Lügen barbarischer und grausamer Epochen zum Beispiel auch die verschwindet, die aus der Barbarei und Grausamkeit eine durchtrieben konstruierte Staatsräson ad maiorem hominis gloriam macht?

Humanus selbst freilich zuckt zu derlei überspannten Träumen die Achseln. Er bestreitet aber nicht, daß man auf eine gewisse unscheinbare und geduldige Weise ein wenig mehr Liebe in die Welt zu bringen vermöge. Und darauf allein komme es an, meint er. Denn damit mehr Liebe in der Welt sei, müssen wir ganz einfach lieben, meint er.

Das ist leicht gesagt, und ich fürchte allerdings, daß er sich die Sache nicht genau überlegt hat. In der Logik ist er nicht eben sattelfest. Wann wäre je einem Befehl zur Liebe gehorcht worden? Du mußt lieben! ruft man mir zu. Wenn ich aber nicht kann? An diesem Aber scheint die Welt zu scheitern. Soll es also bei dem Kommando sein Bewenden haben? wie seit Tausenden von Jahren sein trauriges Bewenden haben? Da erhebt sich sofort das schwierigste der Probleme, das von Freiheit und Schicksal. Humanus sinnt lange Zeit und antwortet endlich: Es genügt, wenn man Phantasie für den andern hat. Ein großes Wort, Humanus, wird ihm darauf entgegnet, doch bringt es uns um keinen Schritt weiter. Dieser hat Phantasie, jener hat sie nicht. Es steht also um kein Jota aussichtsvoller als mit der Liebe. Einem zu sagen: habe Phantasie! ist ein nicht minder törichtes Diktum als ihm zu sagen: habe Liebe! Oder gäbe es eine Unterweisung in dem Fach? gäbe es eine Erziehung zur Phantasie? und infolgedessen auch eine Erziehung zur Liebe?

Humanus erwidert: Ja.

Wie steht es dann mit dem Bösen auf der Welt? wird ängstlich und dringlich eingewendet; das Böse zu lieben ist doch unmöglich, wenigstens im hohen Sinn der Liebe. Wie soll man sich also zu ihm verhalten, da es doch existiert und uns auf allen Wegen entgegentritt?

Humanus lächelt und sagt: Das Böse soll man natürlich nicht lieben, das Böse soll man verstehen. Und es ist sehr schwer zu verstehen, weil es so selten ist. Das wirklich Böse ist ungeheuer selten, so selten wie das Schöne oder das Große oder das Geniale. Man muß es aber auch in seinen kleinen Verzweigungen und Verästelungen zu verstehen suchen, in seinem Abschein und Auswürfsel, in seiner Zerstäubung und Verwässerung. Und dazu verhilft die Phantasie. Es gibt keinen Menschen ohne Phantasie, so wenig es einen Menschen gibt, der sich nicht erinnern kann; folglich handelt es sich nur darum, sie aus dem Schlaf zu rufen, in dem sie bei den meisten liegt.

Alles wird Frage an uns, und Humanus fährt fort: Der Mensch steht in seinem Ich drinnen wie in einer gläsernen Glocke. Er sieht wohl die andern draußen und scheint sie auch zu spüren, aber in Wirklichkeit spürt er sie nicht, und noch weniger kann er zu ihnen gelangen. Da jeder für sich in so einer gläsernen Glocke weilt, entsteht für jeden eine doppelte, dreifache, vielfache Brechung wie in einem Spektrum, und das Bild der andern erscheint ihm nur getrübt und verzerrt. Es sind immer nur wenige, die den Mut, genauer gesagt, die Furchtlosigkeit besitzen, die gläserne Wand zu zerbrechen, ja sogar wenige, die überhaupt von dem Vorhandensein dieser Wand etwas wissen. Sie bleiben eingesperrt auf ewig. Geschieht es aber einmal, daß einer sich aus dem Kerker befreit und heraustritt, so zeigt sich ihm das Bild des andern schon viel klarer, und das Bestreben, auch ihm zur Freiheit zu verhelfen, kann unter Umständen eine Leidenschaft bei ihm werden. Alle Befreiten atmen auf; die Glasglocke, in der sie sich trügerischerweise so wohl befunden haben, wird ihnen in der Erinnerung ein unwürdiges Gefängnis.

Nun erst kann die Arbeit der Phantasie beginnen, denn innerhalb der gläsernen Wände ist ihr Los, sich die Flügel zu zerbrechen. Plötzlich fängt der phantasiebefreite Mensch zu verstehen an. Er versteht, warum die in dem gläsernen Gehäuse sich so gleichartig verhalten: der enge Raum zwingt sie dazu; sie haben zu wenig Platz. Er versteht ihr Nichtstun und ihr Nicht-Tun, ihre Trägheit und ihre Angst, ihre Verblendung und ihre kurzatmige und kurzsichtige Sucht: sie haben zu wenig Platz und sind die Opfer einer beständigen optischen Täuschung, weil sie noch nicht gelernt haben zu sehen. Wenn sie aber herauskommen und man sie das Maß lehrt, die Entfernung und das Gewicht, so machen sie ganz erstaunte Augen, und nach und nach bemächtigt sich ihrer ein freudiges Entzücken, denn alles hat auf einmal einen neuen Bezug und ein neues richtiges Verhältnis. Das ist die zugleich beglückende und ordnende Wirkung der tätigen Phantasie, daß sie alles in ein richtiges Verhältnis setzt. Es zeigt sich in jedem Spiel, es zeigt sich in jeder Kunst, es zeigt sich schließlich im Kleinen und Kleinsten des alltäglichen Lebens, in den Geschäften wie in den Umgangsformen, in der Ehe, in der Freundschaft und in allen Arten der Gemeinsamkeit. Man muß das Maß und das Gewicht des andern gewinnen, das heißt, man muß ihn sehen; das heißt, man muß ihn sich in gewisser Hinsicht neu erschaffen, neu vor sich selbst; das heißt, man muß jene fluchbeladene Trägheit überwinden, mit einer geringen Anspannung oft nur, mit einem kleinen Ruck, die der Phantasie die Schwingen lähmt. Es ist nichts, scheinbar, und es ist unendlich viel; es ist der Punkt, kurz gesagt, wo die Menschenwelt vor einem Entweder-Oder von Möglichkeit und Dauer steht; es ist der Anfang zu einer Periode der Humanität.

So spricht Humanus. Und geht. Aber schon halb entschwunden wendet er sich noch einmal zurück und sagt: Das größte Hindernis zwischen den Menschen ist das Ding. Wir sind viel zu sehr den Dingen und Sachen verhaftet und werden es täglich mehr. Bevor nicht diese Sklaverei gebrochen ist, die uns zu Besessenen macht, bevor nicht in den Herzenskreis an Stelle der bezahlten und käuflichen Sachen die unbezahlbare und unverkäufliche Sache, die eine Sache, die eben aller Sache ist, tritt, kann es keine Erneuerung geben, in keinem Geistesflug, in keiner Flamme.

Hier ist eigentlich auch der Kreis meiner Betrachtung vollendet, der sich ja in Andeutungen an der Peripherie genügen lassen muß. Zu sagen wäre noch dies. Das Verhältnis zwischen Menschen: Gruppen und Gruppen, Individuen und Individuen kann nicht auf eine höhere Stufe gerückt werden durch Vorsatz und Beschluß, durch Wille und Festsetzung und darum auch letzten, ganz letzten Endes nicht durch das Tun, sondern durch das Leiden, durch den Grad des Aneinanderleidens. Deshalb ist das entscheidende Werk am Menschen ein Leidenswerk. Deshalb liegt hinter jenen Genien der Humanität, die an der Vervollkommnung der Menschheit gewirkt haben, stets ein so ungeheurer Leidensweg, deshalb beginnt jede Erlösung und Verwandlung mit Haß, mit Grauen, mit Ekel und mit Angst.

Appell und Anrufung, da sie auf das Wort beschränkt sind, können einen ungenügenden Zustand nicht aufheben, geschweige denn ihn in einen heilsamen kehren. Wer Welt- und Menschentreiben mit der Aufmerksamkeit verfolgt, zu der er als Mitlebender verpflichtet und als Mitleidender gezwungen ist, nimmt bald wahr, daß in der unüberblickbaren Verschlingung alles Geschehens dem persönlichen Eingreifen eines einzelnen kaum so viel Spielraum verstattet ist, wie zwischen Speiche und Speiche eines sich mit rasender Geschwindigkeit drehenden Maschinenrades. Will er sich der Gewalt entgegenstemmen, so wird er zermalmt. Was ist sein Wort? was ist sein Schrei? Aber es sammeln sich die Worte, es vereinigen sich die Rufe, wie Geisterschall schwingt es durch die Jahrhunderte, Wort wird langsam Tat, Tat wird langsam Leiden, unsichtbaren Händen wird Winkelmaß und Kelle und Stein und Balkenwerk treulich zugetragen, und sie bauen in Nächten und aus der Finsternis hinauf einen Bau zur wahrhaftigen Ehre des Menschen.


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