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Ich setze den Fall, ein zwanzigjähriger Mensch schreibt mir einen Brief, den ich nicht so wie so viele andere ratlos beiseite lege, um ihn dann eines Tages in unbestimmten Wendungen zu beantworten, im voraus wissend, daß ich nur halb verstanden werden kann und enttäuschen muß, weil etwas von mir erwartet wird, was ich nicht zu geben vermag, was niemand zu geben vermag: Entscheidung, Richtspruch, Ja oder Nein auf eine allzu blank gestellte Frage. Als ob es sich in diesem Alter überhaupt entscheiden ließe, ob Talent vorhanden, und wenn, ob es tragfähig, ob es menschlich fundiert ist, ob es Entwicklungsmöglichkeit hat, charakteristischen Stoff, geistige Triebkraft, sittliches Bewußtsein, zeitliche Bedingtheit. Ja, als ob Talent immer auf den ersten Blick erkennbar, als ob es nicht, mißbrauchteste aller Formulierungen, in vielen Fällen nur ein seelischer Zustand wäre, eine gewisse Dynamik des Blutes, gewisse Bereitschaft der Sinne, eine gewisse Art der Ruhelosigkeit, des psychischen Hungers nur, dunkle Sehnsucht nach verborgenen Figurationen, spür- und beurteilbar erst, wenn man entschlossen ist, diese Vorgänge mit Liebe zu verfolgen und zu belauschen, bei verwandter Geistesstimmung also oder der Erinnerung an ähnliche Geisteslage. Ich hatte bis zu meinem fünfundzwanzigsten Jahre reichlich viel versucht und gemacht, und diejenigen unter meinen Freunden, auf deren Meinung ich am meisten hielt, zweifelten recht unverhohlen an meinem »Talent«, was ihnen nicht schwer fiel, da ich selbst ihnen mit eigenen Zweifeln weit entgegenkam und bis zum heutigen Tage nicht genau weiß, ob ich das, was man Talent nennt, auch wirklich besitze. Ich werde jedenfalls immer argwöhnisch gegen die Arbeit, wenn meine Hand dabei zu leicht wird und die Phantasie mit ihren Kombinationen mich überrascht, so daß ich manchmal zu glauben geneigt bin, Talent sei vielmehr die Fähigkeit, Hemmungen einzuschalten, als Antrieben nachzugeben.
In dem Brief, den ich imaginiere, ist jedenfalls so viel von meinen Bedenklichkeiten vorweggenommen und so viel Kenntnis meiner wie des Schreibers Situation enthalten und unumwunden ausgedrückt, daß ich schon deshalb verlockt bin, mich mit dem Unbekannten und seiner Produktion eingehender zu beschäftigen. Es sind keine Geniewerke, die er mir dann schickt, nichts, was sofort überzeugt oder gar hinreißt. Alles hart, trocken, ein wenig wie Studien auf der Schiefertafel, aber gerade das gefällt mir, es ist ein ehrliches Verwalten der vorhandenen Mittel. Keine Emphase, kein Getöse, nichts »Gesteiltes« und »Geballtes«, keine großartige Maske auf ein unbedeutendes Gesicht geschminkt, es geht angenehm natürlich und sachlich zu. Ich denke nicht, daß diese Vorzüge, eigentlich Abwesenheit von Schrecknissen, so hoch sie auch in der Mode eines literarischen Derwischtums einzuschätzen sind, mich schon bewegen können, dem Jüngling meine Aufmerksamkeit zuzuwenden, wenn nicht diese offenbar schwer erarbeiteten Versuche mir etwas Wesentliches von seiner Person mitteilten, und dieses Wesentliche ist das Gefühl der Gefolgschaft. Es erweckt sonderbare Hoffnung in mir. Wir treten in unmittelbare Beziehung, er legt mir alles, was er macht, zur Prüfung vor, ich muß alles wenn nicht gerade verwerfen, so doch für die Veröffentlichung ungeeignet erklären, die Gründe leuchten dem unsicher, aber unbeirrbar Schreitenden ohne weiteres ein, die Argumente, die ich vorbringe, sind die seinen, fast ehe ich sie ausgesprochen, ich sehe wieder einmal, was das heißt: Einanderverstehen, nämlich: Einanderverstandenhaben, wobei sich alles Hin und Wider, die ganze Mechanik des Meinungstausches, der Belehrung sogar erübrigt, das alles wird Atmosphäre. Die Korrespondenz führt zu Begegnungen, zu Besuchen, zu gegenseitiger Beziehung, und er beginnt, gewissermaßen unter meiner Leitung, mit einer erzählerischen Arbeit von größerem Umfang und ernsterer Bedeutung.
Ein fruchtbares Feld der Tätigkeit, und einer solchen, die mir wichtig und aufschlußreich wird, weil es sich dabei um eine geistige Disziplin handelt, und zwar auf einem Gebiete, das bisher noch niemals Anlaß gegeben hat, die Frage nach der Möglichkeit von Zucht und Erziehung aufzuwerfen, nach Wegweisung, Schulung und bewußter Einführung in das Metier. Metier des Romanschriftstellers. Seltsame Sache. Es ist eine freie Kunstübung, die freieste vielleicht, von der wir wissen, so gänzlich dem subjektiven Ermessen anheimgegeben, daß, wer da ordnen und graduieren wollte, seinerseits wieder im subjektiven Ermessen steckenbleibt; und was für andere Übung noch, daß Gott erbarm. Auf diesem Felde tummelt sich alles, was sich von aller Art Erlebnis entlasten will, und sei es Erlebnis aus zweiter, dritter und vierter Hand; wenn es noch Erlebnis ist, dann ist es noch gut und anständig, dann wirkt doch eine Kraft mit, dann hat es doch noch Gewicht, es ist etwas Großes um die Macht der Realität, auch wenn ihre ursprüngliche Wahrheit durch unvollkommene Sinne und falsche Zwecksetzung gebrochen wird, das Leben enthält Legende, wo man es anschaut, und ist voll Mythos und mythischer Keime noch in seinem infamsten Sud; aber von den trüben Regionen der bloßen Zeitvertreib- und Lohnschreiberei bis hinauf in die Pseudoliteratur, die mit den verwässerten Motiven, den verwischten und verblaßten der wirklichen hantiert, welche stickig-ungesunde Fülle unerquicklicher Erscheinungen, wieviel Lüge und Absurdität, verkappte und offene Sensation, Mißbrauch und Schwatz, Unfähigkeit und Schwindel. Trotzdem kann kein Zweifel darüber bestehen, daß der Roman immer breitere Gebiete des Lebens erobert, sowohl nach innen, in seinem Stoffkomplex, als auch nach außen, was die Menge der Aufnehmenden betrifft. In Frankreich und in der angelsächsischen Welt ist es ein Vorgang, der auf eine Dauer von anderthalb Jahrhunderten zurückweist. In Deutschland beobachtet man ihn erst seit zwei Jahrzehnten, die früheren Entfaltungen waren sporadisch und hatten immer nur Bezug auf die Persönlichkeit des betreffenden Schöpfers, als soziale Phänomene konnten sie nicht gelten. Die Schwierigkeit der Scheidung bleibt: was ist Zeugnis, was nicht? Was neue Form, was verbrauchte? Wo ist Schöpfung, wo Abklatsch? Wo das Einmalige und wo das, was einer bloß kann, weil ein anderer es schon gekonnt hat? Das Verwirrende der Zeitnähe ermöglicht es kaum, Urteile zu fällen, die nicht eines Tages widerrufen werden müßten.
Wenn ich nun annehme, daß es in diesem heiklen, mühevollen und problematischen Handwerk (ich will mit dem Ausdruck Kunst sparsam sein) Schulung und Schülerschaft geben kann, so entsteht natürlich die Frage: was kann gelehrt werden? gibt es befolgbare Regeln? Verständigung auf der Basis angenommener Grundsätze? Die Gesetzlosigkeit auf dem Gebiete des Romans scheint ja gewissermaßen verbrieft zu sein und ist auch straflos, sie wurzelt, wenn man näher zusieht, in der Sache selbst. Eine Ansicht, der sogar diejenigen huldigen, denen achtungswerte Erzeugnisse geglückt sind, einmalige Kundgebungen, die es zu einer Art von Ruf, wenn auch nur vorübergehendem, gebracht haben, zu schweigen natürlich von der Unzahl wohlgelaunter Dilettanten, die sich einbilden, eine Geschichte zu erzählen heiße nichts anderes, als – sie eben zu schreiben, und das Schreiben sei schließlich auch nichts erheblich Schwereres als etwa das Abfassen eines Briefes. Habe ich doch Leute getroffen, die mir zutraulich erklärten, sie seien mit einer Überfülle von Romanstoffen versehen, und was sie verhindere, sie zu verwerten, sei bloß der Mangel an Zeit, unter dem sie litten; das waren nicht vielleicht nur unwissende Backfische und schwachsinnige alte Damen, sondern höchst gebildete und sonst tüchtige Personen in Amt und Würden, die sich gar sehr gehütet hätten, zu behaupten, sie könnten eine Uhr schon deshalb herstellen, weil sie beständig eine in der Tasche tragen, oder eine elektrische Leitung legen, weil sie sich alle Tage ihrer bedienen. Ganz erstaunlich ist die Gleichgültigkeit und Ignoranz, die über die einfachsten Formen der epischen Kunst herrschen. Erzählung und Darstellung, Bericht und Schilderung, das wird kaum von den berufenen oder sagen wir bestellten Beurteilern scharf unterschieden; es ist so weit gekommen, daß man den Werken bloß noch ihre Tendenz und allgemeine Richtung abfragt und sie daraufhin katalogisiert, erhebt oder abtut. Wahrscheinlich würden die »Brüder Karamasow«, wenn sie heute auf den Markt kämen, in dem Fach »Kriminalkolportage mit psychologischer Tiefbohrung« untergebracht, und die »Madame Bovary« als breite Sittenmalerei auf dem Grund einer Ehebruchstragödie. Denn wo die höhere Charakterisierung beginnt, versagen die Schemata, und wo sich durch echten Prosastil die Gestaltung vollzieht, fechten die längsten kritischen Stangen im Nebel herum.
Was kann ich sonach tun, um meinen jungen Freund zu führen? Ihn vor Irrtümern zu bewahren, die unter Umständen unwiederbringliche Jahre kosten, wobei freilich nicht zu vergessen ist, daß jeder schaffende Geist sozusagen auch seine produktiven Irrtümer hat und ihnen, wie soll ich mich ausdrücken, genugtun muß; hätte er sie nicht, so wäre er ohne Chaos, das heißt im weiteren Sinn ohne Elementarität. Aber ich kann ihm überflüssige Wege ersparen, kann ihn vor Fallgruben warnen, in die er, sich selbst überlassen, mit Sicherheit geraten wird, von Verführungen abhalten, denen er um so leichter unterliegt, je weniger sein Charakter gestählt ist, je weniger er noch von jener moralischen Ausdauer besitzt, die man übereingekommen ist, Fleiß zu nennen, was sich mit dem Wesen dieser Eigenschaft durchaus nicht in allen Teilen deckt; kurz, ich werde ihn vor den Niederlagen, Enttäuschungen, Verzweiflungen zu schützen trachten, die der Mechanik dieses Berufes, dem Handwerksmäßigen, Arbeitsmäßigen, entspringen, und es gibt keine künstlerische Betätigung, die keine solche Mechanik hätte, nur die absoluten Nichtskönner glauben, daß sie alles mit dem Genie bewältigen können, oder mit dem Talent, mit dem Einfall, mit der Inspiration, mit der Begeisterung, während das alles bei der Arbeit von Übel ist, namentlich die Begeisterung, die nur ein Zerrspiegel für das besoffene Ich ist.
Es beginnt schon damit, daß ich ihm, dem Schüler (der es nur ist, weil er willig ist und mir vertraut) einen Begriff von der Wichtigkeit der Zeitverteilung gebe. Ich kann ihn darüber belehren, daß die epische Kunst keine Explosionen verträgt. Jede Art von Überhitzung, Überhetzung und Krampf verursacht einen Wurzelschaden. Ihre Hauptpfeiler sind Besonnenheit und Geduld. Natürlich ruht sie auch auf inspirativen Gaben, auf der Fähigkeit zur Vision (inwiefern, das gehört auf ein anderes Blatt, ich muß die Fähigkeit voraussetzen), aber das Entstehen der epischen Werke ist nicht durch Selbsterhöhung und Selbststeigerung bedingt, sondern durch Selbstversenkung und Selbstausschaltung. Es ist also eine Frage des Lebensrhythmus. Die Zeit, die er sich nimmt, entscheidet über die Struktur seines Werkes. Es handelt sich da um die Wahl der Stunden, täglicher Wiederholung, daher um die Ökonomie der ganzen Existenz, die diesem besonderen Stundengebot zu unterwerfen ist. Ziel: eine Arbeitsverfassung herzustellen, die einen Zustand der Reinheit und der seelischen Ruhe ergibt. Die Momente der Erregung, des Sturmes, der Verliebtheit liegen dahinter; es muß etwas wie Vereisung eingetreten sein. Tägliche Wiederholung, das ist täglich erneuter Anlauf, mit dem Entschluß, unberücksichtigt zu lassen, ja zu vergessen, wie weit man das letztemal gelangt ist. Die Arbeit jedes Tages ist eine genaue Parallele zu der des vorigen, aber in vorgeschobener Fläche, deren Masse und Ausdehnung dem Bewußtsein verschleiert sind. Die Totalität darf nur geahnt werden, Verlauf und Absicht müssen ins Blut gedrungen sein, alle Sorgfalt, alle Unermüdlichkeit gehören dem Kleinen, Geringen, dem Worte, der Zeile, dem Schritt für Schritt. Ich werde ihm sagen: Architekt bist du, bevor du zur Feder greifst, und in den Pausen der Rück-, Vor- und Umschau; solange du der Hantierung selber obliegst, bist du Maurer, Zimmermann, Dachdecker, Schreiner, Anstreicher usw., halte die Funktionen in dir auseinander, verliere keine der Stufungen aus dem Auge, sei wachsam über jeden Nagel und jeden Ziegel.
Das aber betrifft noch zu sehr das Allgemeine. Ich nehme an, der junge Freund entwickelt mir einen Plan. Ich habe zu bedenken, in welcher Lebensstimmung er ihn mir vorlegt, ob es ihn fördert, wenn ich den Plan billige, ob es ihn über Gebühr entmutigt, wenn ich ihn verwerfe. Ich weiß in meinem Innern vielleicht, daß er ihn niemals ausführen wird, aus dem und dem Grund, aber es scheint mir ratsam, daß er sich daran versuche, möglicherweise nur, damit er den Punkt kennenlerne, wo für ihn unübersteigliche Hindernisse eintreten, damit er die eine spezielle unersetzliche Erfahrung mache, die ihn zu sich selbst, zum Wissen von sich und dem vorläufigen Umfang seiner Kraft bringt. Ich kann den Prozeß beschleunigen und kann seine Leiden abkürzen, indem ich dort eingreife, wo sein Ringen wesenlos und unfruchtbar wird, wo er in Gefahr ist, den innern Kern zu verletzen, in der Jugend des Epikers eine latente Gefahr. Bis zum dreißigsten Jahre, in vielen Fällen noch länger, entbehrt seine Stoffwelt jener höheren Notwendigkeit, die eine Resultante von sittlichen und geistigen Faktoren ist, der immanenten Erfahrungen, die ihm aus dem leidenschaftlich miterlebten Leben der Gesellschaft, des Volkes, der Menschheit zufließen, und der persönlichen, die dazu in ein Befruchtungsverhältnis treten. Bis er so weit gelangt, hat er sich eben mit dem Versuchshaften zu begnügen, mit der Vorarbeit gleichsam; ob die bewußt oder unbewußt geschieht, spielt eine gewisse Rolle, besser, sie bleibt unbewußt, ein klar ausgezeichneter Weg führt nur zu einem Ziel, das bestenfalls – erreicht wird, und das ist das richtige Ziel nicht. Das feurige Temperament wird sich nicht dämmen lassen, die Phantasie verspricht ihm zu viel, er vergißt, daß es sich um mühsame nüchterne Arbeit handelt, Stein um Stein muß treu und berechnend aufgesetzt werden, er aber, um zu seiner Anfangsvision durchzudringen, haut die Dinge hin, verhaut sich, das Bild geht verloren, die Motive erweisen sich als zu umfassend, sie zersplittern deshalb, die Formen als zu weit, und das Ende ist Verwirtschaftung, ehe noch die eigentliche Aufgabe begonnen hat. Wie oft habe ich das gesehen, grandiose Anlagen sogar verrinnen auf solche Manier traurig im Sande. Ich bin also gewitzt, ich kann meinem jungen Freund sagen: damit mußt du warten, dazu brauchst du größere Reife, bedeutende Lebensinhalte, das läßt sich nicht aus dem Ärmel schütteln, das muß wachsen, und wer die Ehrfurcht vor dem Wachsen nicht hat, der eben »verletzt den inneren Kern«. Ich werde ihn auf die Natur verweisen, auf die Anschauung. Ich werde Studien von ihm fordern, Handzeichnungen gewissermaßen, das gemahnt mich selbst wieder an die Natur, treibt mich selbst zum Kleinen, lebenswahr Beobachteten zurück, und ich spüre alsbald den Segen davon. Lehrt mich der Schüler nicht, wie ich mich vollenden soll, so ist es Wahn und Hoffart mit der Meisterschaft. Er soll mir nicht Stoffe erfinden, zunächst nicht; er kann sie noch nicht gültig machen, ihnen nicht die Wahrheit der höheren Ebene geben.
Mit bloßen Naturalismen bin ich anderseits auch nicht zufrieden, er noch weniger. Das gibt nur Quantitäten. So verfallen wir auf den vorhandenen Stoff, das überlieferte Motiv, die Historie, die Halbhistorie, die in einem festen Rahmen aufzunehmen vermag, was in ihm an Erzählerlust und Formungsdrang steckt. Und da habe ich ihn im richtigen Fahrwasser, jetzt kann ich ihn auf den Mittelpunkt bringen; wenn er den Vorgang hat, Bewegung und Entwicklung, wenn er den Schicksalsgang nur zu deuten, die Fabel nur mit der Farbe seiner Persönlichkeit zu tränken braucht, bleibt ihm ja nichts zu tun übrig, als die Figur zu bilden, das heißt Geist und Phantasie sind für die Hauptsache frei geworden. Wir können uns also damit befassen, was Figur ist; welche von den in Betracht kommenden Charakteren bis zur genauesten Sichtbarkeit auszuarbeiten sind. Wir werden untersuchen müssen, worin die Sichtbarkeit besteht, wodurch sie hervorgebracht wird, welchen Anteil das Erlebnis daran haben darf und soll, ob zur Formgebung ein Modell nötig ist oder eine Komposition aus verschiedenen »Vorlagen«. Die Übertragung des Erlebten oder nur Beobachteten in das Bild gibt Gelegenheit zu symptomatischen Erörterungen: was ist typisch und was nicht? welche Züge, Eigenschaften, Sonderbarkeiten verlieren ihre Wahrheit, wenn sie der Realität entnommen werden, und welche bedürfen der Umschichtung, der Milderung, der Steigerung? in welchem Falle schält sich der Charakter von selbst aus dem Milieu, dem mitgesehenen Vorgang, in welchem brauchen wir, damit er plastisch und wahr wird, erfundenes Detail? was heißt Erfindung, wie weit darf sie gehen, wo überschreitet sie die Glaubhaftigkeitsgrenze, da doch eine falsche, eine leichtsinnig gezogene Linie die ganze Zeichnung verpfuschen kann? was heißt Motivieren, wann ist ein Motiv zu verschleiern, wann zu beleuchten? motivieren und entmotivieren, das sind Probleme, die im höchsten Maße die Erzeugung der Illusion angehen. Wie steht es mit der Stimmungsgebung, die wieder eine Frage des Stils ist, seiner Enthaltsamkeit oder seiner Üppigkeit, wobei ich natürlich die innere Organisation meines Freundes in Rechnung ziehen muß; es gibt da geborene Asketen und geborene Orgiasten, fette Veranlagungen und magere. Was für eine Rolle hat die Landschaft zu spielen, was darf ich dem Hang, sie zu benützen, einräumen oder verbieten? wie ist das Verhältnis der Fabel zu den Personen, hat sie sich ihnen unterzuordnen oder sie zu überschneiden und zeitweilig unspürbar zu machen, damit mehr Freiheit und Lebensnähe erzielt wird? was ist überhaupt Fabel? wie unterscheidet sie sich von Handlung, von Konflikt, von bloß verschlungenem Geschehen? wo muß die Darstellung zur Erzählung werden, wo empfiehlt sich Verkürzung, wo breites Ausmalen eines Zustandes? ist der Dialog naturalistisch zu halten oder in der reliefierten Fläche, direkt oder indirekt, enthüllend oder verdeckend, an die Situation gerankt oder neben ihr laufend? und da sind wir noch nicht einmal bei der Gestalt; inwiefern sie ein wesentlich anderes ist als die Figur, nämlich exemplarische Erscheinung, Zusammenfassung gleichartiger Schicksale in einem, Zusammenschmelzung des zeitlich Zufälligen in ein zeitlos Erhöhtes. Die Figur geht in das Werk hinein, die Gestalt schreitet aus ihm heraus, die Figur ist sein Bestandteil, die Gestalt ist sein Träger.
Dabei müssen wir natürlich von den Mustern sprechen, haben ihre Bedeutung abzuwägen, ihren Einfluß zu bedenken. Wir machen einige überraschende Entdeckungen an ihnen, wie, daß die einen bei aller Ehrfurcht, mit der wir sie betrachten, unverkennbare Altersmerkmale aufweisen, indes die Tiefgründigkeit, Hintergründigkeit von andern noch nicht völlig erkannt ist. Wir kommen überein, daß jede Epoche ihre eigenen Muster verlangt, die zu Symbolen emporwachsen, und daß es für den einzelnen Schaffenden keine Möglichkeit gibt, sie in seinen Plan zu stellen: es ist ein Glücksfall, für den er freilich unsinnige Opfer bringen muß, wenn ihm eines gelingt. Will der junge Freund mein eigenes Getanes zum Beispiel heranziehen, so wird mir angst und bang, und ich bitte ihn, sich hundert Jahre Zeit zu lassen. Unversehens locken uns die fachlichen Unterhaltungen in die Breite der Welt, in Politik und Gesellschaft, in das Wesen menschlicher Beziehung. Man tauscht die Erfahrungen, man tauscht die Augen. Bei der Kunst verharren, das hieße in einer Provinz verharren, das kann ich nicht tolerieren, nur nicht Provinz, in keinem Sinn, nur nicht behagliche Ecken, wo man kannegießert und Schuster spielt, der bei seinem Leisten bleibt, will sagen Spezialitäten fabriziert. Die größte Gefahr in dem Verhältnis zwischen Lehrendem und Lernendem ist die Versteinerung, die aus den lebendigen Gesichtern erstarrte Larven macht, denn einmal tritt ja der Zeitpunkt ein, wo die Lehre durch Wiederholung zur toten Regel wird, dann ist, was Geschenk gewesen, Einengung und Last. Das ist auch gewöhnlich der Punkt, wo der Jünger zum Verräter wird; er rettet damit nur seine Seele aus dem Joch der Verpflichtung. Hier darf sich nichts »wiederholen«, alles soll im Grenzenlosen fließen, der Führer lasse sich führen, der Gesell gehe auf eigene Faust auf Abenteuer aus, geadelter Instinkt halte sie voneinander und nähere sie einander, je nach der Not und Liebe des Tages, Ziel sei die Wandlung, besser gesagt die Miteinanderwandlung. Kann es also schließlich den Schüler doch nicht geben, von dem ich zu Anfang sprach, sondern nur den Gefährten, der mich lehrt, was ich soll, indem ich ihm zeige, wer und was er ist? Es scheint so. Die »Werke« sind dann nur nebensächlich.