Jakob Wassermann
Faber oder Die verlorenen Jahre
Jakob Wassermann

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1

Faber kam mit dem Abendzug in seiner Vaterstadt an, in der er als Architekt gewirkt hatte bis der Krieg ausgebrochen, und er, im ersten Monat schon, in Gefangenschaft geraten war. Seitdem waren fünfeinhalb Jahre vergangen.

Mit ihm reisten ein paar Kameraden, letzte Nachzügler unter den Heimkehrern wie er selbst, Bürgersöhne wie er selbst, aber anders als er befanden sie sich während der zu Ende gehenden Fahrt in einer Erregung, in der sie unzusammenhängende Reden führten wie die Fieberkranken. Da sie beim Verlassen des Schiffs nach Hause telegraphiert hatten, konnten sie gewiß sein, von ihren Angehörigen und Freunden empfangen zu werden. Nüchterne Leute sonst, verstiegen sie sich bis zur Rührseligkeit, wenn sie von Frau und Kind, von Müttern und Schwestern, ja sogar von Häusern und Stuben sprachen. Faber war in nicht freundlicher Weise schweigsam. Einer fragte ihn: »Wird deine Frau da sein?« Er zog die dicken schwarzen Brauen hoch und antwortete nicht.

Als der Zug in die Halle fuhr, reichte er den Gefährten vieler Monate kühl die Hand und drückte sich mit seinem Holzköfferchen abseits. Von der lärmenden Begrüßung, die ihnen zuteil wurde, war er nur vorüberhastender Zeuge.

Die Mütze tief in die Stirn geschoben, verließ er das Bahnhofsgebäude wie jemand, der fürchten muß, erkannt zu werden. Unschlüssig stand er auf dem Platz, zögernd setzte er den Weg fort. Er gelangte in eine Straße, in der mehrere Gasthöfe geringen Ranges waren. Einen betrat er und forderte ein Zimmer für die Nacht. Ein schmutziger Kellner führte ihn in einen kahlen Raum, in dem es nach tagelang gestandener Luft und schlecht gewaschener Wäsche roch. Er riß das Fenster auf und ließ sich ermüdet auf einem Stuhl nieder. Über dem nahen Dach lohte der schwüle Juliabendhimmel. Aus dem Nachbarzimmer, durch eine mangelhaft abschließende Tür, hörte er raunende Stimmen und von Zeit zu Zeit das Gelächter einer Frau.

Er erhob sich, ging auf und ab, dann wusch er Gesicht und Hände, und verspürte dabei das unangenehme Herzklopfen, das ihm nicht neu war. Seit der furchtbaren Flucht von Sibirien nach Peking hatte sich das Übel in seinem Körper eingewöhnt. Mit aufgestütztem Kopf setzte er sich abermals ans Fenster, und es schien, daß er sich zu ergründen bemühte, weshalb er in diese Herberge gegangen war und in diesem unsauberen Zimmer schlafen wollte. So oft das Gelächter der Frau nebenan erschallte, runzelte er die Stirn. Das verlieh seinem Gesicht den Ausdruck eines leidenden Kindes.

In dem gegenüberliegenden Haus, einer düstern Mietskaserne, waren einige Stuben erleuchtet. Er gewahrte einen alten Mann mit einer Brille, der die Zeitung las, und den Lockenkopf eines kleinen Mädchens, der bisweilen auftauchte und wieder verschwand. In einer andern Stube war eine Frau beschäftigt, farbige Bögen Papier zusammenzufalten.

»Unmöglich hier zu bleiben«, sagte er vor sich hin. Er zog den Rock an und stand eine Weile nachdenklich an der Tür. Als das Lachen abermals ertönte, verließ er wie von Widerwillen gepackt das Zimmer und ging die Treppen hinunter und auf die Straße. Er schaute an der jenseitigen Häuserwand empor; die erleuchteten Stuben waren jetzt weit oben. In einer Art von Verwunderung lächelte er. Dann befühlte er mit der Hand seine Brust; das Herzklopfen hatte aufgehört.

Es begegneten ihm nur wenig Menschen. Auch die Wirtschaften waren leer. Da und dort saßen alte Leute vor den Haustüren und unterhielten sich leise. Er betrachtete alle Dinge, auf die sein Auge fiel, mit ernster Eindringlichkeit, als ob er sie nach Millimetern abzumessen habe, sogar die Schatten der Vorübergehenden unter den Laternen. So blicken nur Menschen, denen eine sehnsüchtige Vorstellung zur Plage geworden ist, bis sie endlich die Wirklichkeit schauen. Dabei war alles, was er sah, häßlich, schmutzig und gewöhnlich.

Unverkennbar trieb es ihn ohne bestimmten Willen vorwärts; sein Schritt hatte nicht den Rhythmus, den ein Ziel gibt. Aus verkehrsreichen Straßen kam er wieder in stillere, und so gelangte er auf einen Platz mit einer Kirche, deren reine Formen und harmonische Gliederung ihm seit der Kindheit vertraut waren. Beruhigung malte sich in seinen Zügen, als sein Auge die gotischen Figuren und Zierate umfaßte und an dem Turm hinaufglitt, der das Weiß von gebrannten Knochen hatte. Aber die Kirche war es nicht, zu der er gewollt, wie sich bald zeigte, obschon ihre von der Zeit vergessene Schönheit ihm zu seinem Vorhaben vielleicht Mut einflößte.

Er wandte sich nach einigem Besinnen zu einem etwa hundert Schritte seitab gelegenen Gebäude, das Tor war noch offen, der Flur noch erhellt; nach abermaligem Besinnen klopfte er ans Fenster des Pförtners und fragte mit erzwungener Gleichgültigkeit im Ton, wie jemand, für den von der Antwort nichts Besonderes abhängt, ob Doktor Fleming noch hier wohne und ob er zu Hause sei. Auf beide Fragen nickte der Mann und folgte ihm mißtrauisch mit den Blicken, als er die Treppen hinaufstieg.

Faber läutete an der wohlbekannten Tür und wartete. Schritte schlurften heran, vorsichtig wurde der Riegel zurückgeschoben, in der Spalte erschien das wohlbekannte Pausbackengesicht, doch merkwürdig gealtert, mit gelichteten Haaren und spitzerem Kinn. Faber trat aus dem Schatten und nahm die Mütze vom Kopf.

Unnatürlich kleine und beständig zwinkernde Augen hinter starken Brillengläsern musterten den späten Besucher. Ein schärferes Spähen, ein Strahl des Erkennens und das Staunen machte, daß die winzigen Augen vollends hinter den starken Gläsern und den schwammigen Fleischsäcken der Wangen verloschen.

Mit gelassenem Gruß schritt Faber über die Schwelle. Von der ersten Sekunde an war in seiner ganzen Art, sich ruhig zu geben, etwas Gekünsteltes und Ausgedachtes.

Die Wände des schmalen Vorraums waren von oben bis unten mit Büchern bedeckt, so auch in den beiden Zimmern und in der Hofkammer, die als Schlaf-, Wasch- und Küchenraum diente. Die dicht gerammten Bücher verkleideten jedes Stück der Mauer; Bücher und Zeitschriften lagen auf Tischen und Stühlen, auf dem Boden und auf dem Ofen, auf dem Bett und auf den Fenstersimsen. Kaum daß noch Luft zum Atmen blieb und Raum, sich zu bewegen. Es war die Behausung eines Mannes, der in Büchern, mit Büchern und von Büchern lebte.

Faber lächelte wie neben sich selber. Er lächelte ohne Zweifel über das Wohlbekannte des Bildes, das Wohlbekannte von Flemings Erscheinung und den sonderbaren Umstand, daß er nun hier war. Aber seine stumpfbraunen Augen wurden wieder ernst und schauten fast ohne Teilnahme zu Boden, als Fleming mit seiner bei einem Mann verwunderlich hellen Stimme zu reden begann.

Was sagte Fleming nicht alles in der Überstürzung! was fragte er nicht alles! wie erging er sich doch in Wiederholungen immer derselben Fragen und Ausrufe! Preßte die Hände zusammen, rieb die Finger gegeneinander, legte den Kopf auf die eine, dann auf die andere Schulter, schob die Brille auf die Stirn und wieder auf die dicke Nase herab und sprach immer unruhiger und gehetzter, je weniger Faber Anstalten traf, seinen gekünstelten und ausgedachten Gleichmut aufzugeben.

Natürlich wollte er vor allem wissen, seit wann Faber zurück sei. Gestern noch sei er bei Martina gewesen, sagte er, und Martina habe keine Ahnung gehabt. Vor sechs Wochen sei die letzte Karte Fabers eingetroffen, seitdem habe man nichts mehr gehört. Überhaupt habe er sich ja seit anderthalb Jahren damit begnügt, Postkarten zu schreiben. Aus welchem Grund eigentlich? Alles so locker, so obenhin, geradezu fremd beinahe; Martina habe gar nicht gewußt, was sie davon halten solle.

Faber blieb stumm.

In seinen zerrissenen Filzschuhen auf- und abschlurfend und ihn bisweilen scheu von der Seite betrachtend, klagte Fleming: »Wir konnten und konnten keine Nachricht bekommen. Deine Mutter ist in die Ministerien und Gesandtschaften gelaufen, Tag für Tag. Klaras Mann hat dreimal an die Austauschkommission telegraphiert, alles umsonst, niemand vermochte einem Auskunft zu geben, wo du stecktest. Aber das wird man dir alles schon erzählt haben. So bist du also wirklich wieder bei uns! Und besuchst mich, den alten Jakob Fleming. Das ist hübsch, das gefällt mir. Aber setz dich doch, mein Lieber, warum stehst du denn noch immer?«

Mit atemloser Geschäftigkeit hob er einen Stoß Bücher von einem Stuhl, und Faber setzte sich. Da er stumm blieb, nach wie vor rätselhaft stumm, fand sich Fleming, vielleicht aus Angst, vielleicht aus erratendem Taktgefühl veranlaßt, in seiner Redeflut fortzufahren. »Wie ist dirs denn ergangen?« forschte er zärtlich, alle zehn Finger in das Kinn bohrend; »einfältige Frage, wirst du sagen und hast auch recht. Aber wir zu Hause haben schließlich auf unsere alte Weise weitergelebt, wennschon die Welt ein unleidliches Gesicht bekommen hat. Ja, das hat sie, das kannst du glauben, ein greulich-hypokratisches Gesicht, besonders für einen Menschen von meiner Sorte. Was hat denn Martina gesagt, als du so plötzlich da warst? Was hat sie denn angestellt in ihrer Freude? Mein Gott, wieviel haben wir von dir gesprochen, wie manchen Abend sind wir beisammengesessen und haben deiner gedacht. Und das Kind, der Christoph, wie hast du ihn gefunden? Er ist dir ja wie aus dem Gesicht geschnitten; jetzt, wo ich dich so ansehe, muß ich lachen über die Ähnlichkeit. Du weißt doch, daß wir ungeheuer befreundet sind, er und ich? Nach dem Tod deines Vaters wollte er nur noch mit mir spazieren gehen. Muß ein merkwürdiges Gefühl sein, wenn man einen Sohn als Neunjährigen wiedersieht, den man als Dreijährigen verlassen hat. Wie hat er sich denn benommen? hat er dich erkannt? Warum antwortest du nicht? Sprich doch ein Wort ...«

Da sagte Faber endlich, indem er auf seine Kniee starrte: »Ich bin erst vor zwei Stunden angekommen. Ich habe niemand benachrichtigt und auch niemand gesehen, weder Martina, noch das Kind, noch meine Mutter, noch meine Schwester, noch sonstwen.«

Von Flemings runden Backen verschwand der etwas ungesund-rosige Hauch, und sie wurden teigfarben. Er stotterte; zuletzt blieb ihm der Mund offen, und man sah Zahnlücken und goldene Plomben.

»Es ist, wie ich dir sage«, nickte Faber; »frag mich nicht, ich kann dir nichts erklären. Gib mir einen Bissen zu essen, irgend was, ich hab Hunger.«

Fleming verharrte noch eine Weile, dann begab er sich eilig und schwerfällig in die Kammer. Dort hörte ihn Faber murmeln, herumgehen und mit Geschirr klappern; nach ein paar Minuten brachte er ein eisernes Tablett, auf dem Brot, einige Schnitte geräucherten Specks auf einem Teller, eine Karaffe mit Wasser und ein Glas ziemlich sauber und appetitlich angerichtet waren. Er befreite einen zweiten Stuhl von Büchern und Broschüren, nahm Faber gegenüber Platz und schaute mit ratlos gefalteten Händen zu, wie dieser Brot und Speck gierig verschlang und hierauf die ganze Flasche Wasser austrank, ohne sich des Glases zu bedienen.

»Jetzt laß mich eine Stunde ausruhen«, bat Faber und sah sich im Zimmer um. Er gewahrte den mit schadhaftem Leder überzogenen Lehnstuhl, der auch ein Klappgestell zum Liegen hatte, ging hinüber, warf sich tiefatmend hinein und schloß die Augen.

Fleming ließ den erregten Blick nicht von ihm. Einen beredteren Ausdruck von Hilflosigkeit und Sorge konnten Augen schwerlich haben. Ihm war zur Genüge bekannt, daß man diesen trotzigen und außerordentlich verschlossenen Menschen unter keinen Umständen zum Sprechen bringen konnte, solange er nicht gewillt war zu sprechen.

Nach kurzer Zeit schon sah er, daß Faber eingeschlafen war.


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