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Sie begegneten einander bis zum Abend nicht mehr. Es kam ein Brief von Martina; Faber las ihn, legte ihn weg, las ihn nach einer Stunde wieder, als habe er vergessen, was darin stand. Er ließ ihn auf seinem Arbeitstisch liegen, und als er wieder ins Zimmer kam, betrachtete er ihn wie ein totes Tier.
Er enthielt nur Nachrichten, dieser Brief, Martinas lapidare Sachlichkeiten. Faber kräuselte leidvoll die Lippen, als er einen Satz vor sich hinsagte, den er sich zufällig gemerkt hatte: Wenn wir unsere Arbeit beendigt haben, die Fürstin und ich, gehen wir ein wenig aus, aber dann verirren wir uns gewöhnlich im gelben grausigen Nebel und halten einander fest, damit wir uns nicht verlieren. Nebel ist doch das Schlimmste auf der Welt.
Auch an Fides hatte Martina geschrieben. Fides war klareren Kopfes, da sie ihn las. Martina teilte ihr mit, daß sie zu Ende der Woche zurückkommen werde, also in vier Tagen. Dasselbe stand auch im Brief an Eugen, aber er hatte es nicht aufgenommen, oder indem er es las, dünkte ihm vielleicht, daß vier Tage wie zehn Jahre seien. Es kann viel geschehen in vier Tagen, die in der Phantasie zeitlos werden.
»Nun kommt deine Mutter bald«, sagte Fides zu Christoph, als sie mit ihm bei der Lampe saß, »Samstag abend.«
Christoph rümpfte die Nase. »Mir scheint, du lügst«, erwiderte er; »nie lügst du, aber wenn du von Mutter und Vater redest, lügst du manchmal.«
»Warum sollte ich lügen?« fragte Fides vorwurfsvoll; »du bist ein unfreundlicher Mensch und überlegst deine Worte nicht.«
»Ach ihr«, gab Christoph zurück und machte Fäuste aus seinen von allerlei Erdarbeiten noch nicht ganz gesäuberten Händen, »bei euch ists immer wie bei einer Verschwörung. Ihr seid so heimlich alle.«
»Wer: ihr? wen meinst du mit ›ihr‹?«
»Na, ihr Großen überhaupt. Ihr seid so eingebildet auf eure Verschwörerei. Wenn man Feinde hat, so stellt man sich ihnen mutig zum Kampf. Ihr verkriecht euch aber beständig. Warum? Ruft doch den Feind vor die Schranken.« Da er das traurige Gesicht von Fides wahrnahm, streichelte er versöhnungsuchend ihre Hand. »Mach dir nichts draus«, tröstete er herablassend; »du kannst eben auch nicht anders als die andern. Du kommst mir übrigens so komisch vor heute, weißt du das?«
»Komisch? wie denn: komisch?« erkundigte sich Fides, gezwungen lächelnd.
»Ja, als wenn du vergessen hättest, deine Aufgaben zu machen und hättest Strafarbeit bekommen.«
»Geh doch, Christoph. Was für Einfälle.«
»Jetzt lügst du wieder!« rief Christoph triumphierend und streckte den Zeigefinger gegen sie aus; »in dir drinnen lügst du. Ich seh dirs an. Du willst nur nicht, daß ein Bub recht hat. Drum lügst du. Was ist denn eigentlich in dem Haus, Fides?« fragte er in verändertem, fast geheimnisvollem Ton und breitete die Arme in einer Art souveräner Mißbilligung aus. »Sag mir, was ist denn los? Es gefällt mir gar nicht mehr. So sonderbar ist alles, auch mit dem Vater ...« Offenbar erlaubte ihm sein Stolz nicht, mehr zu sagen und dadurch ein beleidigtes Gefühl zu verraten. Er tauchte auf Fides' Rat seine Hände in die Schüssel mit heißem Wasser, die sie ihm gebracht hatte, und seine Stirn legte sich in grüblerische Falten.
Fides verließ die Stube erst, als Christoph im Bett lag und sie finster gemacht hatte. Im Korridor stand Faber vor ihr. Er trat zur Seite und ließ sie vorüber. Sie ging ins Wohnzimmer, sah sich zerstreut um, griff nach einer Majolikavase, um die verwelkten Blumen herauszunehmen; die Vase entfiel ihrer Hand und zersplitterte auf dem Fußboden. Sie schaute auf die Scherben herunter, und ein Zittern lief über ihren Körper.
Faber hatte das Klirren gehört und kam herein. Er kniete hin, um die Scherben aufzusammeln.
»Lassen Sie es«, sagte sie, »Sie werden sich verletzen.«
Er blickte empor. Sie stand so seltsam hoch vor ihm. »Fides«, flüsterte er.
Abwehrend hob sie die Hand. Ihr Gesicht wurde streng wie eine Maske. »Es darf nicht gewesen sein«, sagte sie leise und bestimmt. »Ists anders, so muß ich fort. Wir wollen nichts Tragisches daraus machen, das nicht. Torheit soll Torheit bleiben. Aber reden wir nicht davon, denken wir nicht daran; radieren wirs weg. Es gibt keine Wahl. Stehn Sie auf.«
Er gehorchte und stand auf. »Gut«, sagte er; »sehr gut.« Und fing an, hin und her zu gehen. »Sie können weder anders sprechen, noch anders handeln, noch anders sein. Ich begreife. Torheit? Nein. Das nehm ich nicht an. Da liegt zuviel Verstrickung vor. Verlangen Sie nicht das Unmögliche. Ich weiß momentan nicht, wie weiter zu existieren sein wird. Man muß kaltes Blut bewahren. Nur möcht ich mich mit Ihnen verständigen.«
Sie zuckte die Achseln. »Es ist besser, zu schweigen«, murmelte sie.
»Genug geschwiegen!« rief er aufwallend. »Sechs Jahre lang geschwiegen. Fides, Erbarmen! Erbarmen!«
»Was ist das für ein Ausdruck: Erbarmen?« erwiderte sie mit verzogener Stirn; »ein würdeloses Wort; eins, das Sie selber hassen. Ich mags nicht hören, das, und ein anderes darf ich nicht hören.«
»Darf! darf!« höhnte er; »darum gehts nicht mehr. Über den Zaun sind wir bereits hinüber.«
»Nicht daß ich wüßte«, sagte Fides kühl. »Da ist kein Zaun, da ist eine himmelhohe Mauer.«
Faber stellte sich vor sie hin, die Arme steif herabgesenkt, den Rumpf mit dem breiten Brustkasten fast unnatürlich gereckt. »Wir wollen ehrlich miteinander verfahren, Fides«, sagte er und holte tief Atem. »Sie sinds mir wert; ich bins hoffentlich auch Ihnen wert. Jeder von uns beiden hat schon zuviel Leben und Erlebnis getragen und sich zu hart mit dem Schicksal herumgebissen, als daß wir uns blümerante Flausen vormachen dürften. Wir sinds auch nicht imstande. Offener Weg muß sein, Erfüllbares und Wirkliches, nicht trüber Dunst, in dem man sinnlos herumtappt. Also sagen Sie mir, sagen Sie es mir mit der ganzen Wahrheit, die in Ihrer Seele ist: Fühlen Sie etwas für mich? Nicht antworten, noch nicht antworten! Ich frage nicht: lieben Sie mich? Nein, das frag ich nicht, das soll mir nicht über die Lippen, das enthält schon wieder eine Welt von Verantwortung, von Irrtum und Entschlußzwang. Ich will nur wissen, ob Sie mich aufnehmen mögen, ob Sie einen Platz für mich in Ihrem Innern haben? Sagen Sie nicht nein, weil Sie wie verhext die Mauer anstarren; sagen Sie nur nein, wenn Ihr Herz nein sagt.«
Sie errötete und erblaßte, wollte sprechen, preßte die Lippen zusammen und schwieg. Er schaute sie an. Sie hielt den Blick aus; in ihren Augen war Verwunderung und Kummer. »Was wollen Sie?« fragte sie endlich; »wozu die Überredung? wozu der Aufwand? Um ein Abenteuer? Ich bin die geeignete Person nicht...«
»Ach, Sie weichen aus«, unterbrach er sie, beweglich klagend, »und ich hab Sie doch so inständig um die offene grade Antwort gebeten. Was nützt mir alles andre!«
»Es ist wunderlich von Ihnen, Eugen Faber«, entgegnete sie mit einem seltsam frauenhaften, seltsam wehmütigen Lächeln, »wunderlich, daß Sie darauf insistieren. Könnten wir denn so voreinander stehen, wenn ich nötig hätte, die Antwort zu geben? Da hätte ja unser Gespräch nicht einmal anfangen können. Brauchen Sie das Ja? Fürchten Sie ernstlich das Nein? Solche Fragen sind nur Quälerei, weil man den andern bindet, wenn er Schwäche zeigt. Ich bin nicht feig, und ich stehe in allem, was ich tue, für mich ein. Warum sollt ich nicht zugeben, daß Ihr Wesen und Ihre Art mich gefangen haben, mich aufgescheucht haben aus meinem Frieden, mehr als ich voraus wissen konnte? Es war kein Spiel, es war kein Plan und nicht einmal ein Wunsch; es ist halt so gekommen. Nun muß man sehen, wie man sich zurechtfindet. Ich halte mich nicht etwa für so kostbar, daß ich sage: für ein Abenteuer bin ich mir zu gut. Das ist auch bloß ein Wort: Abenteuer; ich nehms zurück, wenn Sie wollen; was darunter gemeint war, geht ja nur auf die Kürze der Zeit, und man ist nicht berechtigt zu fordern, daß das Schöne und was einen ergreift und besser und reicher macht, länger dauert als es Atem in sich hat. Ich also täusche mich nicht über mich. Sie aber, Eugen, Sie täuschen sich über sich. Was Sie zu mir treibt, das bin nicht ich, und eindringlicher als Sie mich, kann ich Sie beschwören, ehrlich zu sein und ehrlich zu handeln gegen sich und gegen mich. Sie wissen, was ich meine, oh, Sie wissen es genau. Ich lebe mit einem Schatten im Rücken, doch der gibt mich frei, wenn ichs von ihm verlange; Sie können den leibhaftigen Menschen nicht gewinnen, dem Sie mit Leib und Seele verfallen sind, und um sich ihm zu beweisen und sich selber einen Schein von Freiheit und Glück zu verschaffen, dazu brauchen Sie mich, dazu klammern Sie sich an mich. Nicht aus Berechnung und Vorsatz, o Gott, das weiß ich; es ist die Welle bloß, die Fügung, das Blut, ich weiß, ich weiß, wir können nicht dafür, ich weiß, durchschauen es nicht selber; aber ich kann das nicht, ich will das nicht, ich darf das nicht. Nein, niemals, niemals.«
Sie zitterte über und über. Sie nahm einen der Scherben, die auf dem Tisch lagen und brach ihn entzwei. Es war etwas Hohes in ihrer Miene und Haltung, eine stolze Leidenschaftlichkeit, und das machte sie sehr schön. Faber hielt den Blick in sprachloser Überraschung auf sie geheftet. Was sie sagte, klang ihm offenbar völlig und bestürzend unerwartet. Er legte die rechte Hand auf den Kopf und zu Boden schauend erwiderte er anfangs stammelnd, dann immer rascher und bewegter: »Eine Auffassung. Natürlich; man kann es so auffassen. Es hat etwas Bestechendes. Ja; gewiß. Aber Sie haben mich doch noch ganz anders von Ihrem Charakter und Ihrer Person überzeugt, als Sie denken. Ich erlebe das Sonderbare: eine Frau, die einen vergessen läßt, daß man ein Mann ist; anderes Geschlecht; Kreatur von gegenüber. Drück' ich mich verständlich aus? Ist das vielleicht eine neue Erscheinung dahier, die man zu meiner Zeit noch nicht kannte, eine entwickelte Gattung? Wie albern ich rede! Ich könnte Ihnen zuhören bis an das Ende meiner Tage, und wenn Sie mich mit Worten züchtigen, ist mirs wie Öl im Nacken. Nennen Sie Gründe, soviel Sie mögen, Ursachen, soviel Ihnen einfallen, ich kann nicht von Ihnen lassen, Fides, ich bin ein verlorener Mensch, wenn Sie mich zurückstoßen. Sei es dies, seis jenes, was mich erfüllt und hindrängt, ich untersuchs nicht, ich tret es unter mir weg. Sie sind mir notwendig; jetzt, in diesem Augenblick meines Daseins über alle Begriffe notwendig; daß ich Sie gefunden habe, kann kein Teufelswerk sein, und ists Gotteswerk, so lassen Sie Gott nicht unrecht haben. Die Leuchte. Die Leuchte Fides! Ich war finster. Mir war kalt. Die Menschheit ein Haufen Unrat, das ganze Gewölbe oben leer wie seit je und nun noch schwarz wie die Nacht. Zweifel am einzigen, was mir geblieben war; Asien, das Land der Schauder; Europa, das Land des Mords; ich komme; keine Martina mehr, das ganze Herz der Liebe ausgelöscht; Forderungen, die ich erraten soll. Und dann diese Nacht, die eine Nacht! Darüber kann man nicht sprechen. Eine Umarmung und dann ... als ob man von einem Turm heruntergestürzt wäre. Kein Licht mehr, kein Halt mehr. Ach, was hab ich am andern Tag getan! Den Ring weggeschenkt, Martinas Ring. Das muß ich Ihnen noch beichten. An eine Dirne den Ring weggeschenkt!«
Fides schlug wortlos die Hände zusammen.
»Denken Sie nicht schlecht von mir«, fuhr er mit heiserem Flüstern fort, während er bis jetzt die Worte in seltsam klirrendem Ton hervorgewirbelt hatte; »ich hatte übrigens weiter nichts mit der Person zu schaffen. Denken Sie nicht schlecht von mir. Retten Sie mich, Fides. Ich weiß sonst nicht, wozu das alles führen soll. Ich kann für nichts gutstehen. Geben Sie mich mir selber wieder, den Glauben an mich selber, geben Sie mir meine Jahre zurück, meine gestohlenen Jahre.«
Mit unmerklich bebenden Lippen schaute ihn Fides fest und gespannt an. Es war kein Zweifel, daß der Sturm seiner Rede, seines Wesens, seiner Verzweiflung sie wider ihren Willen mit fortriß und daß sie sich nur, wie ein Baum mit tiefreichenden Wurzeln gegen das Wetter, mit der Kraft ihres Instinktes wehrte. Die linke Hand ein wenig erhoben, erwiderte sie mit ihrer rauhen, wie gebrochen klingenden Stimme: »Sehen Sie denn nicht, wie zweideutig meine Situation wird, wenn ich nur mit einem Gedanken nachgebe? Ich stehe hier wie ein Soldat auf einem Posten; den darf ich nicht verlassen und nicht verraten. Ich will absehen von dem Kind, obwohl Sie spüren müßten, was es für mich ist, solche Worte zu hören, wenn Ihr und Martinas Kind da nebenan schlaft; aber Sie haben vergessen, was für ein Verhältnis zwischen mir und Martina besteht. Ich habe es Ihnen gesagt, aber Sie scheinen es vergessen zu haben. Reicht ich Ihnen jetzt, nach alledem, bloß die Hand, so wäre das schon ein Vertrauensbruch, der mich um alle Selbstachtung brächte. Solang Martina ahnungslos ist, sind Ihnen die Hände ebenso gebunden wie mir. Oder haben Sie die Absicht gehabt, sie zu betrügen, mit mir zu betrügen? Und dann Zerknirschung, Geständnis, oder auch nicht Geständnis, die übliche banale Komödie? Dazu sind wir doch zu gut, kommt mir vor; dazu ist vor allem Martina zu gut. Lassen Sie uns überlegen, Eugen Faber; lassen Sie uns einen vernünftigen Entschluß fassen. Martina soll alles wissen. Mag sie dann entscheiden, und alles soll von ihrer Entscheidung abhängen. Sie sehen also, wie weit ich bereits bin.«
Sie schlug plötzlich die Hände vors Gesicht, und wieder zitterte ihr ganzer Körper wie im Schüttelfrost.
Faber rührte sich nicht. Sein Gesicht schrumpfte sonderbar ein, und langsam senkte er den Kopf.
Als schäme sie sich ihrer Schwäche, ließ Fides die Hände wieder fallen und fragte mit einem wunderlichen Anflug von Heiterkeit: »Wollen Sie es ihr sagen? Soll ich es ihr sagen? Oder warten wir, bis sie selber sieht? Lang wird das nicht dauern, keine Stunde.«
Ehe Faber antworten konnte, ging sacht die Tür auf und barfüßig und im Nachthemd erschien Christoph auf der Schwelle. Mit verschlafenem und ungehaltenem Ausdruck sagte er: »Es hat jemand so laut gerufen, da bin ich aufgewacht. Wer hat denn gerufen?«
Fides nahm ihn schweigend bei der Hand und führte ihn in seine Stube zurück. Sie kam nicht wieder. Als der Knabe schlief, ging sie in ihr Zimmer, versperrte die Tür und sank wie leblos auf ihr Bett.
Faber irrte auf der andern Seite der Wohnung von Raum zu Raum, und es war spät in der Nacht, als er endlich das Lager aufsuchte, auf dem ihn der Morgen noch mit offenen Augen fand.