Jakob Wassermann
Faber oder Die verlorenen Jahre
Jakob Wassermann

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11

Faber erhob sich und schlich wie ein Übeltäter aus dem Zimmer. In seiner Kammer angelangt, hüllte er sich in einen Schlafrock und stellte sich, in der Dunkelheit, ans Fenster. Eine Weile malte er mit dem Finger Zeichen und Worte auf das Glas, dann setzte er sich an den Rand des Bettes, schlang die Finger ineinander und stierte betäubt in die Finsternis. Als der Morgen graute, saß er regungslos noch auf demselben Fleck.

Später, mit offenen Augen liegend, hörte er Martinas Stimme im Flur, dann Christophs helle kleine Stimme, die nach ihm fragte, dann Fides' Stimme, die dem Knaben im munteren Ton etwas auf der Treppe nachrief, dann sprachen Fides und Martina miteinander, dann klapperten Tassen; offenbar frühstückten sie; dann ging Martina fort.

Es war ein Regentag. Faber machte sich mit seinen Zeichnungen zu schaffen, blieb aber nicht bei einem Blatt, sondern griff bald nach dem, bald nach jenem, stand immer wieder auf und ging durch alle Zimmer. Er kramte in Schubladen und Schränken, fand eine Flasche Kognak, nahm sie mit in seine Kammer und unterbrach die Arbeit immer wieder, indem er sich einschenkte. Vor Tisch verließ er das Haus, aß in einer kleinen Wirtschaft, setzte sich dann in ein Café, schaute durch die regenbeschlagene Scheibe auf die Straße, und so verfloß Stunde um Stunde. Als es dämmerte, ging er zu Fleming. »Wir wollen heut ein wenig lustig sein, Fleming,« sagte er zu ihm; »ich brauch dich. Ich such mir ein silberweißes Eidechslein.«

»Du bist ja mächtig aufgeräumt, mein Guter,« antwortete Fleming; »wie stellst du dir das vor: lustig sein, und gerade mit mir? Und was für ein Vieh ist das, das du dir suchen willst?« Er war beunruhigt, denn Fabers Gesicht hatte einen Ausdruck von Verwegenheit und bösem Trotz.

»Frag nicht; nur nicht fragen. Wir wollen eine kleine Höhlenwanderung machen, das ist alles. Erst laß mich mal ein paar Stunden auf deinem Bett liegen, es ist ja nun schon eine schlechte Gewohnheit von mir, daß ich bei dir Siesta halte; dann ziehn wir los.«

Fleming, der für Faber fast den Instinkt einer Mutter hatte, sah, wie es mit ihm stand. Er versuchte gar nicht erst, ihn von dem abzubringen, was er vorhatte, versuchte nicht, ihm zu widersprechen, sondern beschloß, ihm zur Seite zu bleiben. Möglicherweise konnte er dadurch Unheil verhüten. Von Zeit zu Zeit ging er leise in die Kammer und betrachtete die Züge des in bleiernem Schlaf liegenden Freundes. »Am besten wärs, er schliefe weiter bis zum Morgen,« sagte er leise zu sich selber. Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllte.

Die Erlebnisse dieser Nacht wurden von Jakob Fleming noch unter ihrem unmittelbaren Eindruck im Annalenheft aufgezeichnet, und bei seiner Wahrheitsliebe und gewissenhaften Beobachtung ist nichts anderes nötig, als seinem Bericht zu folgen, der sich ohne Kommentar und Kritik an das Tatsächliche hielt. Der Bericht lautete:

Als er aufwachte, schwatzte er in ziemlich alberner Weise wieder von der silberweißen Eidechse; ich bat ihn das Gerede sein zu lassen, wenn er mir nicht sagen wolle, was er damit meine. Er drängte hierauf zum Fortgehen und erklärte auf der Straße, er wolle in die sogenannte Fortuna-Bar, wo es, wie er gehört habe, immer hoch hergehe mit nackten Tänzerinnen und sonstigen Späßen. Da ich in meinem Leben nicht in solchem Lokal gewesen war, erschrak ich; bei seiner offensichtlichen Erregung hätte es aber keinen Zweck gehabt, ihn andern Sinnes zu machen, und so ergab ich mich ins Unvermeidliche, indem ich nur trocken darauf hinwies, daß man an derlei Orten eine teure Luft atme und er meines Wissens in Geld nicht eben schwimme. Er erwiderte, er habe Geld genug, habe noch von der Reise her die Brieftasche voller Dollars und schwadronierte überhaupt höchst unleidlich drauflos. Man wollte uns erst, da wir nicht im Gesellschaftsanzug waren, gar nicht in die Bar hineinlassen, aber Eugen wurde so ausfällig, wobei er mit englischem Slang um sich warf, daß man sich nicht getraute, ihn fortzuschicken, vielleicht meinend, man habe es mit einem Ausländer zu tun, der für seinen Übermut auch tüchtig zu zahlen bereit sei. Eugen bestellte sogleich Champagner, den er hinuntergoß wie Wasser, ich mußte mithalten oder mich wenigstens so anstellen, und obwohl er sich anfangs ganz ruhig benahm, wurde mir immer ängstlicher und ängstlicher zumut, denn seine Miene verhieß nichts Gutes. Außerdem wirkten die widrige Musik, der Parfümgeruch, die Hitze, die grellen, lasterhaften, gemeinen Gesichter der Männer und Weiber, die ich um mich sah, niederschlagend auf mich, und wenn ich dazu noch an Martina dachte, blieb mir über alles dies der Verstand stehn. Doch weshalb von mir reden; meine Person bietet hier des Interesses wenig, höchstens daß ich mir den Kopf zerbrach, aus welchem Grund mich Eugen gezwungen haben konnte, den Teilhaber und Gefährten seines Tuns abzugeben. Nichts an mir konnte ihn hierzu ermuntern oder verlocken. Später machte er eine Andeutung darüber, die aber nicht geeignet war, mich aufzuklären.

Unter den Frauenzimmern, deren traurige Aufgabe es ist, die Sinnenlust einer Horde von Vergnügungstigern zu reizen, befand sich eine, die unleugbar sehr schön war, schwarzhaarig, von blendender Haut und verführerischem Wuchs und, soviel ich davon verstehe, eine Meisterin im Tanz. Ihre Pirouetten und Sprünge waren schwindelerregend, und nach jeder ihrer Vorführungen, die nichts weniger als dezent waren, raste das halbbetrunkene Auditorium. Eugen verwandte keinen Blick von ihr. Ich fragte ihn nach einer Stunde schüchtern, ob wir nicht aufbrechen wollten, es sei schon spät; er lachte mir ins Gesicht. Das Mädchen seinerseits hatte Eugens Aufmerksamkeit wohl wahrgenommen; er mochte ihr gefallen, groß und hübsch, wie er ist, mit seiner blassen, leidenden Miene und dem reichen, kastanienbraunen Haar. Allmählich begann sie ihn mit den Augen zu verschlingen; in einer Pause näherte sie sich unserm Tisch, und als ob ein elektrischer Strom zwischen ihnen wirksam gewesen wäre, sprachen sie sofort in einer halb vertrauten, halb fieberhaften Weise miteinander. Das Mädchen hatte nichts am Leibe als einen dünnen Schleier; um die Stirn trug sie eine Perlenkette, die vermutlich unecht war. Sie lachte und lächelte so, daß einem der Atem verging, das muß ich zugeben, und ihr gebrochenes und kauderwelsches Deutsch vermehrte den schwülen Zauber, der von ihr ausging. Übrigens fing Eugen gleich an, mit ihr englisch zu reden, aber es war ein so vertracktes Chinesenenglisch, daß ich kaum etwas, verstand, obwohl mir doch gerade Englisch recht geläufig ist. Ich war vollkommen ausgeschaltet, wie nicht vorhanden für die beiden. Nach einer Weile erhob sich Eugen mit ihr; sie hatte von einem erotischen Tanz gesprochen, den er kannte; Eugen war immer ein vorzüglicher Tänzer gewesen; doch daß er in diesem Raum mit einem verworfenen Mädchen sich schamlos der Schaugier dieser Menschen preisgeben wollte, das glaubte ich nicht ruhig mit ansehen zu können; ich beschwor ihn durch Miene und Gebärde, es zu unterlassen; er stieß mich mit dem Arm zurück. Sie tanzten; ein widriger Tanz war es, zynisch und orgiastisch, mit einer Musik wie wenn Hyänen bellen und Gläser zerschellen, und als sie sich unter schallenden Bravos und Beifallsgeheul wieder an den Tisch begaben, setzten sie sich mit verschlungenen Händen nieder. Auf einmal sah ich, daß das Mädchen den Ring mit dem Saphir schmeichlerisch-lüstern betrachtete, den Eugen an der Hand trug. Diesen Ring hatte ihm Martina vor nun genau zehn Jahren geschenkt; das wußte ich. Kaum beschreiben läßt sich meine Empfindung, als er den Ring herunterzog, um ihn auf den Finger der Dirne zu streifen. Und sie, sie fragte, ob sie ihn behalten dürfe; er flüsterte ihr darauf etwas ins Ohr. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen. Eugen, rief ich ihm warnend zu. Er schaute mich groß an und sagte, indem er mir wie ein Halbverrückter zublinzelte, er leihe ihn ihr bloß, er werde ihn morgen wieder holen und ihn auslösen, wie ein Pfand. Diese Worte übersetzte er ihr; sie lachte und umarmte ihn. In diesem Moment wurde sein Gesicht aschfahl. Mit einem Ausdruck von Ekel, wie ich ihn noch nie auf einem menschlichen Antlitz wahrgenommen habe, stieß er das Mädchen so roh von sich, daß sie sich am Tischrand halten mußte, um nicht zu fallen; sie verfärbte sich; das fassungslose Erstaunen in ihren Augen verwandelte sich in unbeschreiblichen Haß; hätte sie ein Messer gehabt, sie hätte ihn sicherlich erstochen; solche Kreaturen sind ja von gefährlicher Leidenschaftlichkeit. Die Szene erregte Aufsehen; man umringte uns; das Mädchen streckte den Arm aus und sagte etwas mit heiserer Stimme; von dem Schleier, den sie trug, hatte sich die Agraffe gelöst und sie stand völlig nackt da; Eugen hatte demütig den Kopf gesenkt; aufgefordert seine Rechnung zu begleichen, reichte er mir die Brieftasche; ein Neger erschien plötzlich auf der Bildfläche, der uns mit drohender Miene hinausbegleitete; ich stammelte: der Ring, Eugen, um Gottes willen, der Ring. Er machte eine zornig-wegwerfende Geste. Alles an ihm und er selber erschien mir unbegreiflicher als je.

Wir schritten durch die nachtleeren Straßen. Es schlug drei Uhr. In der Nähe des Gerichtsgebäudes, in einer dunklen Gasse, kamen wir an einer Wein- und Schnapsschenke vorbei, die noch oder vielleicht schon wieder geöffnet war. Eugen zog mich mit hinein. Ein paar fragwürdige Gäste saßen bei trüber Beleuchtung an den Holztischen; zwei oder drei von ihnen schliefen. Wir setzten uns in einen abseitigen Winkel und Eugen verlangte Kognak. Ich bat ihn inständig, er möge doch den Fusel nicht trinken, der hier verzapft würde; er achtete nicht darauf. Eine Zeitlang saß er schweigend und trank das höllische Gebräu, von dem man eine ganze Bouteille vor uns hingestellt hatte; auf seiner Stirn perlte seiner Schweiß. Auf einmal wendet er sich zu mir und spricht: »Du bist nun Zeuge gewesen. Man kann nicht behaupten, daß ich die Dame gleichgültig gelassen hätte. Verdammt schöne Dame. Die verzehrt zehn auf einen Sitz, zehn in Frack und Lackschuhen, und bleibt bei Appetit wie vorher.« Er wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn. »Was soll das?« frag ich; »du wirst doch nicht sagen wollen, daß das eine Dame ist?« Er lacht. »Entrüste dich nicht, tugendhafter Fleming,« antwortet er, »ich meine bloß, daß ich keine ausgeblasene Hülse bin. Ich hätte sie aufziehen können wie eine Stahlfeder, bis zum Klingen. Ich war keine taube Nuß für sie; sie hat gewittert, was für einen Brand ich in ihr hätte entzünden können, und sie in mir, jawohl auch sie in mir. Du warst Zeuge.« Ich sagte achselzuckend: »Ja das war ich.« Er fährt düster fort: »Du bist auf dem Holzweg, alter Fleming, wenn du dich in eine pharisäische Verachtung solcher Frau hineineiferst. Die ist erfahren im Blut und lügt der Natur nichts vor. Sie weiß, was ein Weib zu wissen hat, wenn sie unter den schmierigen Händen des Mannsvolks nur mit einigermaßen heilen Gliedern durchschlüpfen will, und wenn sie mal auf einen den Blick wirft, so kannst du dich darauf verlassen, daß sie ihrer und seiner sicher ist. Da heißts nichts für nichts und viel für viel und fürs Herz unter Umständen alles. So stehn die Dinge.« Ich darauf: »Schön; aber ist es deines Amtes und deiner, Eugen Fabers, würdig, denen das Panier zu halten? Es sind vielleicht andere da, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, andere, die im Kot nach Perlen klauben dürfen. Du nicht. Und du weißt, warum nicht.« Er schaut mich eine Weile stumm an und fragt sodann: »Glaubst du mir, Fleming?« Es bedurfte hierauf keiner Entgegnung; er ist ja der aufrichtigste aller Menschen, unfähig zur Verstellung. »Glaubst du mir,« fährt er fort, über den Tisch gebeugt, wobei ich in seine ernsten braunen Augen blicken kann, »glaubst du mir, wenn ich dir sage, daß ich in all den Jahren kein Frauenwesen auch nur in Gedanken angerührt habe?« Ich nicke. »Und du meinst doch nicht etwa, daß es an Gelegenheit und Anreiz gefehlt hätte? Die Erde ist groß und das Leben ist weit, und überall rinnt der nämliche Saft durch Menschenadern. Aber da war keine Faser in mir, die ins Glühen gekommen ist, trotz allem, was das Hirn malt, was das Fieber aufwirft aus der Tiernatur. Reden wir davon nicht. Vermutlich hast du darüber nie nachgedacht in deiner zufriedenen Weisheit.« Nein, darüber hätte ich niemals nachgedacht, sage ich. »Gut, das wollt ich nur hören,« antwortet er; »und nun, versteh mich recht und reim dir darauf was zusammen, wenn du kannst: man greift nach dem Becher, der Becher ist voller Wein, verschmachtet setzt man ihn an den Mund und trinkt und trinkt und fühlt auf einmal, es labt einen gar nicht, und es wird einem schaurig kalt zumute und man weiß auf einmal: was du trinkst, ist leere Luft. Wie geht denn das zu? Vielleicht so: die Hand, die dir den Becher reicht, ist nur barmherzig, verstehst du, nur barmherzig, nichts von andrem, was du dir eingebildet hast, nicht etwa ungeduldig, mitzutrinken, nur barmherzig. Und Barmherzigkeit, Fleming, ist das letzte auf der Welt, worauf ich gefaßt bin, wenn ich meinen ganzen Menschen bringe.« Wieder wischt er sich den Schweiß von der Stirn, und ich, leider, ich verstehe nicht. Mir will scheinen, als habe er zu viel von dem eklen Spiritus hinuntergegossen und seine Geisteskräfte seien getrübt. Da er meine Verwunderung bemerkt, lacht er kurz auf und versinkt wieder in sein brütendes Schweigen. Mit Mühe gelingt es mir, ihn zum Aufbruch zu bringen. Draußen dämmerte es bereits; er sagte, er möchte nicht nach Hause, ob er in meiner Wohnung schlafen könne. Wir gingen also zu mir, und ich richtete ihm notdürftig ein Lager auf meinem Sofa. Halbausgekleidet warf er sich hin und fiel sogleich in schweren Schlaf, der ohne Unterbrechung vierzehn Stunden dauerte. Ich selber konnte nur wenig ruhen; erstens weil mein Tag unabänderlich zur nämlichen Zeit beginnt, und dann, weil mich die Vorgänge der Nacht viel zu sehr beschäftigten, als daß ich ein Auge hätte schließen können. Obschon mir bei fortgesetztem Nachdenken manche von Eugens Worten nicht mehr so rätselhaft erscheinen wollten wie zuerst und sich mir, wie durch wolkiges Gespinst, der erschütternde Kampf zweier Seelen enthüllte, bin ich doch im wesentlichen noch ebenso ratlos, und es scheint mir außer Frage, daß nicht nur das Gleichgewicht von Eugens Gemüt verhängnisvoll gestört ist, sondern daß auch Ereignisse stattgefunden haben, die mir verborgen sind und in die er mir keinen Einblick geben will oder kann. Inzwischen habe ich erfahren, daß Martina mit der Fürstin nach England gereist ist, und zwar, ohne vorher Abschied von Eugen zu nehmen, am Nachmittag, ehe Eugen zu mir kam. Die Entscheidung war innerhalb einer Stunde gefallen; um vier Uhr wurde der Entschluß gefaßt, um sechs Uhr waren schon Pässe und Billette bereit. Es handelt sich, wie ich höre, um wichtige Beratungen mit den Führern der Mission; die Fürstin, die natürlich allein nicht reisen wollte, hat Martina als Begleiterin erwählt, und diese soll so glücklich darüber gewesen sein, daß der Brief, den sie für Eugen hinterlassen, nur aus ein paar in aller Eile hingeworfenen Sätzen bestand. Leider vermehrt sie durch solche Unüberlegtheiten das Heikle und nun schon Gefährdete der Situation, und wer sie nicht kennt, wie ich sie kenne, vermöchte wohl an der Dauerhaftigkeit eines Bandes zu zweifeln, das ich, meinerseits, für geradezu metaphysisch unzerreißbar halte, nach wie vor, mögen Weltleute und Alltagspsychologen auch die Achseln darüber zucken.


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