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Am Morgen erwachte er nach kurzem, schwerem Schlaf und lauschte den verworrenen Geräuschen des Hauses. Da bemächtigte sich seiner eine Unruhe, wie wenn jemand, während er noch geschlummert, ins Zimmer getreten sei. Er hob den Kopf, und wirklich sah er an der Tür einen kleinen Menschen stehn, der mit einem Ausdruck von Neugier, Trotz und Listigkeit in den weitgeöffneten grauen Augen unverwandt in die Richtung des Bettes schaute. Faber stieß einen freudigen Laut aus und streckte die Arme nach dem Knaben. Dieser schritt mit gravitätischem Ernst auf ihn zu und sagte rasch, wobei er sich sichtlich gegen die innere Bewegung wehrte, von der er ergriffen wurde: »Ich mag das nicht gern, wenn ein Mann im Bett liegt.«
Faber mußte lachen, nahm ihn bei den Händen und zog ihn zu sich heran. »Warum magst du es nicht?« fragte er.
»Großvater ist auch tagsüber im Bett gelegen, und dann war er tot. Außerdem ist es so weibisch.«
»Weißt du denn, wer ich bin?« fragte Faber, nachdem er ihn herzlich, fast leidenschaftlich auf beide Wangen und beide Augen geküßt. »Ja, das weiß ich,« erwiderte Christoph mit Gewicht, »und ich bin froh, daß ich wieder einen Vater habe. Bloß mit Frauen, das ist langweilig. Da haben die andern Buben auch keinen Respekt vor einem.«
Faber hielt das Kind im linken Arm, und es überließ sich nur allmählich, wie aus Vergeßlichkeit, der zärtlichen Umschlingung. »Erinnerst du dich noch an mich?« fragte er weiter und atmete, mit der Nase förmlich suchend, den Haargeruch des Knaben ein, der anders war als vor sechs Jahren.
Christoph sah ihn scharf an und schüttelte den Kopf. »Nein,« sagte er bedächtig, »aber du gefällst mir. Wir wollen uns kennen lernen. Hoffentlich hast du nicht soviel zu tun wie die Mutter.«
»Hat Mutter so viel zu tun?«
»Das will ich meinen! Den ganzen Tag ist sie fort, und oft am Abend auch und am Sonntag auch. Nur Fides ist immer da. Sie ist sehr lieb, die Fides.«
»Schön,« sagte Faber, »wir werden versuchen, ob wir uns miteinander vertragen. Du darfst aber die Geduld nicht verlieren, denn mit Buben, weißt du, hab ich seit vielen Jahren nicht verkehrt.«
Christoph nickte. »Ich muß jetzt in die Schule«, erklärte er resigniert; »nachmittag hab ich frei, da erzählst du mir deine Abenteuer. Ja?« Faber versprach es.
Er kleidete sich langsam an. In Schrank und Kommode fand er Anzüge und Wäsche geordnet, alles sauber, alles an seiner Stelle, als wäre er gestern fortgegangen. Martina hatte zu früher Stunde das Haus verlassen; sie ließ ihn durch Fides wissen, daß sie zu Mittag zurück sein werde. Der freudig-leuchtende Blick der Bestellerin und die hübsch-entschlossene Art, wie sie ihm zum Willkomm die Hand bot, fielen ihm auf. Sie war ziemlich groß, von brünettem Typus, ungemein anziehend in Haltung und Manier und mochte etwa sechsundzwanzig Jahre zählen.
Aus Martinas Briefen wußte er, daß sie seit ungefähr zehn Monaten im Hause war. Im Oktober des vorigen Jahres hatte Martina geschrieben, die Fürstin habe sie mit einer jungen Person bekannt gemacht, die ohne Freunde und ohne Erwerb sei, und auf die Bitte der Fürstin habe sie Fides zu sich genommen. Sie sei die Tochter eines ehemaligen hohen Militärs und habe Schweres erlebt. Worin das Schwere bestand, teilte Martina nicht mit, und in einem späteren Brief gab sie offen zu, daß sie es nicht wisse und daß es eine stillschweigende Übereinkunft zwischen ihnen sei, es unberührt zu lassen. Da die Fürstin über Fides' Vergangenheit genau unterrichtet sei, könne sie, Martina, sich ja bescheiden, zumal das junge Mädchen ihr ganzes Vertrauen gewonnen habe. Und wieder in einem andern Brief deutete sie das Zwitterhafte von Fides' Stellung an, wodurch trotz der Freundschaft, die sie verbinde, manche zarte Hemmungen sich geltend machten; die Freundin entlohnen, verbiete sich; aber Fides sei arm; gleichwohl fühle sie sich durch die Zuflucht, die sie bei Martina gefunden, vollauf entschädigt und weiche jeder Erörterung über Geld und Gelddinge stolz und ängstlich aus. Und ihre Dienste seien groß; nicht bloß, daß sie sich Christophs aufs verständigste angenommen und dessen Zuneigung gewonnen habe, sondern es sei ihr auch die Führung der kleinen Wirtschaft allein überlassen und Martina könne sich mit ruhigem Gewissen den Pflichten und Obliegenheiten widmen, denen jetzt ihr Tag gehörte.
Soviel wußte also Faber.
Als er am Frühstückstisch saß und sein Blick melancholisch durch den Raum schweifte, fiel ihm wieder die leere Stelle zwischen den Türen auf, wo vor Jahren Martinas Bild gehangen; er gewahrte deutlicher als am Abend das dunklere Viereck auf der blauen Tapete. Fides kam herein, um den Tisch abzuräumen; er fragte sie nach dem Bild. Sie schaute hin und schien überrascht. »Das Bild der Fürstin?« fragte sie. »Nein,« gab er zurück, »ich meine das Bild meiner Frau, ein Pastellporträt in schwarzem Rahmen.« Die Überraschung in Fides' Zügen wuchs. »Ach das,« sagte sie nachsinnend, »das hab ich nie hier an der Wand gesehen; es hängt drüben in der Kammer, wo Ihre Hefte und Zeichenbretter aufbewahrt sind.« Faber machte ein Gesicht, als finde er die Verbannung begreiflich. »Es ist ja kein Meisterwerk«, versetzte er; »ich hab es selbst gemalt, wissen Sie, und in der Malerei bin ich ein blutiger Dilettant. Würden Sie so freundlich sein, es herüberzubringen?« Das wolle sie gern tun, sagte Fides und ging hinaus.
Nach wenigen Minuten kam sie wieder, das ziemlich schwere Bild schleppend; Faber nahm es ihr ab, trug es zum Fenster und betrachtete es. »Na ja,« murmelte er mit hochgezogenen Brauen, »gelb ... grün ... es ist ja wahr, aber immerhin ...« Er wandte sich zu der schweigenden Fides und sagte: »Sie haben etwas von einem andern Bild erwähnt, dem Bild der Fürstin. War denn das dort aufgehängt? und warum ist es nicht mehr da?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Fides mit leisem Kopfschütteln; »bis vor ein paar Tagen hing es noch da. Eine Bleistiftzeichnung, nur der Kopf; eine gute Arbeit, soviel ich davon verstehe, und das einzige Bild, das wir von ihr kennen. Ich weiß nicht, warum Martina es entfernt hat. Komischerweise hab ich es nicht einmal vermißt.«
»Und wo mag es hingekommen sein?« erkundigte sich Faber gespannt.
»Ja, wo mag es hingekommen sein«, wiederholte Fides, den Zeigefinger am Kinn; »warten Sie, es ist vielleicht in Martinas Schlafzimmer, in der Wäschelade. Mir ist, als hätte sie etwas gesagt, daß das Glas zerbrochen ist.« Wieder ging sie hinaus, und in der Tat brachte sie nach einer Weile auch dieses Bild. Es war fast ebenso groß wie das andere und ebenfalls in schwarzem Rahmen. Sie lehnte es an den Tisch und sagte: »Stimmt, die Glasscheibe ist zerbrochen.«
Faber vernahm ihre Worte nicht; sein Augenmerk richtete sich sogleich auf das Gesicht der Frau, das ihm nun zum erstenmal Erscheinung wurde.
Es war ein Gesicht, dessen Anblick wohl geeignet war, den Beschauer zu frappieren, ob er nun wußte oder nicht wußte, wen es darstellte.
Die Frau mochte sechzig Jahre alt sein. Der Kopf war von einer Kapuze umhüllt und erinnerte dadurch an eine Nonne oder Äbtissin, doch hatte die Umhüllung einen Saum von Spitzen, der zweifellos auf Weltlichkeit deutete, und ließ das schlicht gescheitelte Haar sehen. Das Antlitz, außerordentlich schmal, zeigte Linien von bestrickender Zartheit, und jede Form, Stirn, Wangen, Mund, Kinn und Schnitt der Augen war so vollendet regelmäßig, daß man den Porträtisten in Verdacht nehmen konnte, er habe die Natur korrigiert, weil es ihrer nicht habhaft geworden. Dem aber widersprach, daß der Ausdruck der Züge dem Bildnis eine überzeugende Lebenswahrheit verlieh. Eine schmerzlich-kontemplative, madonnenhaft-adlige Heiterkeit rückte das Gesicht wie hinter einen Lichtschleier; so kam ein schwebendes Spiel der Gegensätze zustande, Aufhebung des Wahrnehmbaren durch Geahntes, der Figur durch Schicksal, vor dem der Griffel des Zeichners sich zuletzt doch ohnmächtig erwiesen hatte, so daß Auge und Phantasie beunruhigt wurden und nach Anhalt in der Erfahrung suchten.
Fides' Blicke liefen von Faber zu dem Bild, von dem Bild zu Faber, und es sah aus, als ob sie mit Begierde, mit Erregung fast die Wirkung zu erforschen trachtete, die es auf ihn übte. »Es gibt den rechten Begriff nicht,« sagte sie, »es fehlt das Wesentliche. Das Lächeln fehlt. Die Frau hat Zähne wie ein siebzehnjähriges Mädchen, und wenn sie lächelt, überzieht sich das blasse Gesicht ganz mit Rosa. Das erstaunt einen jedesmal.«
Sie konnte Fabers Erwiderung, falls er eine zu geben gewillt war, nicht abwarten, da die Flurglocke läutete. Statt ihrer betrat dann Jakob Fleming das Zimmer, verklärt, mit ausgestreckten Händen. Faber begrüßte ihn freundlich, doch zerstreut. Seine Aufmerksamkeit war noch von dem Bild beansprucht. Nachdem er ein paar flüchtige Redensarten mit Fleming getauscht, wies er mit einer Kopfbewegung auf die Zeichnung und fragte: »Was ist nun deine Meinung über die Dame?«
Fleming schob die Lippen vor, nahm die Brille herunter, putzte umständlich die Gläser mit einem Zipfel seines Taschentuchs und erwiderte endlich: »In deiner Miene liegt etwas, was mich auffordert, Kritik zu üben. Da wendest du dich an die falsche Adresse. Wahrscheinlich hat man dir Dinge erzählt, die nicht ganz alltäglich klingen. Gefällt dir das Gesicht nicht? Das Bild ist ähnlich, sehr ähnlich. Dem Leben abgelauscht, wie man zu sagen pflegt.«
»Wozu das,« unterbrach ihn Faber unmutig; »antworte offen und grade.«
»Ja, wenn das so leicht wäre,« wand sich Fleming; »was soll dir meine unmaßgebliche Meinung? Du kannst zwanzig Leute fragen, und jeder wird dir was anderes antworten. Es liegt wohl daran, daß alle zwanzig unter dem Niveau bleiben. Das muß ich auch befürchten. Man kommt sich ein bißchen zwergenhaft vor, etwa wie ein vierjähriger Knirps, der die Gegenstände auf dem Tisch nicht sehen kann und die Zehen streckt.«
Faber machte eine ungeduldige Gebärde. »Verstiegenheiten«, murrte er. »Mit Verstiegenheiten bin ich aufgewachsen. Du erinnerst dich: Pedaltreten nannten wir es, wenn meine Mutter in die Superlative verfiel. Du warst doch immer ein leidlich gefaßter Mensch und kein Freund vom Pedal. Was hat dich in solchen Taumel versetzt?«
»Taumel?« rief Fleming komisch verzweifelt, »von Taumel ist nicht die Rede. Zeit meines Lebens war ich in keinem Taumel, mein guter Eugen. Du entrüstest dich am unschuldigen Objekt, wirklich.«
»Zanken wir uns nicht,« begütigte Faber; »kurz und gut: du kennst die Fürstin?«
»Ja, ich kenne sie. Das heißt, ich Hab zwei- bis dreimal mit ihr gesprochen und war drei- bis viermal dabei, wenn sie mit andern gesprochen hat. Ich gehöre ja gewissermaßen zum Bau jetzt. Ich bin seit einigen Wochen dort Lehrer.«
»Wo dort?«
»Na, dort, wo auch Martina ist. In der Kinderstadt.«
»Kinderstadt? Nennt ihr es so?«
»Ja, wir nennens so.«
»Da du die Frau kennst, mußt du mir auch Auskunft geben können, wer und wie sie ist.«
Fleming rückte verlegen auf dem Stuhl. »Natürlich,« stotterte er, »so ungefähr wenigstens. Ich begreife nur nicht ...« doch Fabers finster werdendes Gesicht schüchterte ihn ein und er fuhr eilig fort: »Ich zweifle nur, ob ich dich in bezug auf Personalien werde befriedigen können. Daß sie einem unserer ältesten Adelsgeschlechter entstammt, wirst du ohnehin wissen. Neulich versicherte mir jemand, der als sattelfester Genealoge gilt, sie sei verwandt und verschwägert mit allen europäischen Höfen und Dynastien, den gestürzten und noch bestehenden. Aber ich bin ja ein alter Demokrat, und so was imponiert mir nicht. Von ihrer Vergangenheit ist uns fast nichts bekannt. Es geht das Gerücht, daß sie um ihr dreißigstes Jahr herum als Novize in einem Ursulinerinnenkloster gelebt hat, lange Zeit, daß sie aber dann aus irgendwelchen Gründen zurückgetreten ist. Schwerwiegende Erlebnisse, heißt es, haben sie wieder in die Welt gerufen, aber wie gesagt, darüber wissen wir nichts. Auch über ihre Vermögensverhältnisse herrscht keine Klarheit. Ein Zweig der Familie ist reich; der, dem sie angehört, soll verarmt sein. Was nicht hindert, daß sie fortwährend über bedeutende Mittel verfügt. Allerdings hat ihr die Gemeinde das Terrain und die Baracken halb und halb geschenkt; aber für die bloße Erhaltung sind ja Unsummen erforderlich. Ihren eigenen Besitz hat sie bis auf den letzten Pfennig beigesteuert; aber das war ein Tropfen im Meer. Die Sache ist die, daß Freunde hinter ihr stehen. Mit diesen Freunden muß es eine eigentümliche Bewandtnis haben. Niemand kennt sie, niemand nennt sie. Gewöhnlich wird das Geld für derlei Unternehmungen von philanthropisch gestimmten Kapitalisten aufgebracht; das sind manchmal gute Leute, manchmal minder gute, manchmal soziale Pioniere, manchmal Gelegenheitsgeber und Abzahler von schlechtem Gewissen. Das hier sind unsichtbare und namenlose Spender; oder eine Organisation von Spendern mit zentralisierter Macht. Sie gibt sich wie eine von ihnen Ausgesandte, wie die Beauftragte eines ebenso weitverzweigten wie verborgenen Ordens. Das Ganze ist äußerst geheimnisvoll. Der Charakter ist es, Ziel und Führung sind es. Meines Erachtens spielen da religiöse Strömungen hinein; es sieht aus wie ein großes Regenerationswerk unter einer mysteriösen Diktatur. Aber man durchschaut es nicht. Man spürt nur etwas Neues, etwas, das anders ist als alles Bisherige. Du bemerkst, wie vorsichtig ich mich ausdrücke. Doch bei aller Vorsicht darf ich die Tatsache nicht unterschlagen, daß jeder, oder fast jeder, der in den magischen Kreis tritt, ohne weiteres gesteht, daß er Zeuge von etwas Wunderbarem, etwas Erschütterndem geworden ist.«
Fleming schwieg und spähte blinzelnd zu Faber hinüber, der auf der andern Seite des Tisches saß und nervös auf der Platte trommelte. »Gib zu, daß ich als Fremdling ungläubig sein darf,« sagte er mit einem Ausdruck von Kälte und Abwehr; »was weiß ich noch von euch? kaum mehr als ihr von mir wißt, und das ist herzlich wenig. Ich habe noch keinen getroffen, der so aus der Art, aus der Menschenart geschlagen wäre, daß ich daran Hoffnungen knüpfen sollte für mich oder für euch oder für das gesamte Geschlecht. Mit dem was uns in die Augen sticht, gehts wie mit den Scheinwerfern; aus der Nähe besehen ist so ein Lichtschleuderer ein erbärmliches Glühstümpchen vor einem Hohlspiegel, und man geniert sich, daß man sich von ihm hat blenden lassen. Gibs zu, gibs ruhig zu.« Fleming schüttelte tadelnd den Kopf. »Kein Anlaß, von Schein und Scheinwerfern zu reden,« entgegnete er. »Es liegt ja alles auf der Hand. Was geschieht, ist alltäglich und selbstverständlich. Wie es geschieht, steht auf einem andern Blatt. Ich weiß nicht, ob du genau unterrichtet bist. Eine Kinderstadt also. Kinder im Alter zwischen fünf und vierzehn Jahren. Vaterlose, mutterlose, vater- und mutterlose, von den Eltern verlassene, von Eltern und Erziehern mißhandelte, auf die Straße gestoßene und verwahrloste, von der Polizei aufgegriffene, bettelnde, halbverhungerte und bereits dem Verbrechen ergebene: keine Spielart fehlt. Von den Einrichtungen will ich nicht sprechen; ich weiß, daß dir Martina ausführlich darüber berichtet hat. Wahrscheinlich auch über den besonderen Informationsdienst, an dem sie in der ersten Zeit teilgenommen hat. Tag für Tag und Nacht für Nacht wandern erprobte Männer, Frauen und junge Menschen durch die Elendsquartiere, ziehen in Häusern und Wohnungen Kundschaft ein, haben ihre Funktionen bei den Ämtern, auf den Bahnhöfen, in den Straßen. Und so in einer Anzahl von Städten. Überflüssig, dir von diesen Labyrinthen des Grauens zu erzählen. Wer lebt, trägts mit. Um wieder auf die Fürstin zu kommen, muß ich feststellen, daß ihre physische Beschaffenheit die zarteste ist, die man finden kann, ihre Arbeitsleistung hingegen derart, daß man nicht begreift, wie sie es bewältigt. Ad eins. Ad zwei, und dabei kann ich mich auf die Aussagen einer ganzen Reihe von Personen stützen, strömt von ihr ein höchst seltsamer Zauber aus, etwas, dem auch ich, Jakob Fleming, der ich hier sitze und unfähig bin, davon Rechenschaft abzulegen, mich nicht zu entziehen vermochte, etwas, das überhaupt nicht häufig vorkommen dürfte in der Welt.«
Er stockte und strich sich mit der Hand über die Stirn. »Bin ich wieder ins verbotene Fahrwasser geraten?« fragte er mit liebenswürdiger Ängstlichkeit. »Zum Kuckuck, mein Lieber,« erboste er sich plötzlich, »warum machst du auch ein Gesicht wie ein Prüfungskommissar? Kann ich was dafür, daß die Frau was Besonderes ist? Ja, was ganz Besonderes, was Außerordentliches, was Großes vielleicht.«
»Es ist nicht erlaubt, von Größe zu sprechen dahier«, sagte Faber mit schmerzlichem und verbissenem Gesicht. »In dieser Weise ist es nicht erlaubt. Schnell hat man bei euch sein Diplom. Zeig mir den großen Menschen, daß ich mich vor ihm beugen kann, aber zeig ihn so, daß ich ihn nicht durch die Brille billiger Schwärmerei sehn muß und in der bengalischen Beleuchtung sattsam bekannter Charitas. Zeig ihn, zeig ihn! Ich kenn keinen, ich seh keinen, ich seh nur die kleinen, die dummen, die bösen. Ich seh nichts von Größe, ich spür nichts von Größe, ich weiß bloß von Gewalt und Raub. Ja! Gewalt und Raub geschieht dahier, geschieht an mir!«
Die letzten Worte schrie er und sprang empor. Fleming schaute ihn bang-staunend an und erhob sich gleichfalls, um ihn zu beschwichtigen; seine Gebärden waren lauter erschrockene Fragen. Doch Faber erschrak selbst. Er schloß eine Sekunde lang die Augen, dann legte er den Arm um Flemings Schulter und sagte hastig: »Nichts. Verzeih. Ich bin unzurechnungsfähig. Hab einen verdammt wirren Schädel. Du mußt Nachsicht haben. Setz dich, mein Bester. Erzähl weiter. Erzähl mir noch von der Frau. Nicht wahr, du findest auch, daß ein Zauber im Spiel ist? Siehst du, das interessiert mich über die Maßen. Gerade das ists was mich interessiert und nichts anderes. Also sprich: worin besteht der Zauber?«
»Mich wundert,« gab Fleming zögernd zur Antwort, »mich wundert sehr, daß du nicht Martina darum gebeten hast oder noch bitten willst. Das wollt ich schon vorhin sagen. Martina ist doch unbedingt die Berufenste dazu. Sie ist viele Stunden des Tags in unmittelbarer Nähe der Fürstin. Keine ist so bevorzugt. Sie wird von allen deshalb beneidet. Niemand kann dir bessern Aufschluß geben. Warum fragst du sie nicht?«
»Das will ich dir erklären,« sagte Faber mit feigem Blick; »aber nicht jetzt. Ein andermal. Halt mich nicht länger hin, Fleming, ich bitte dich: worin besteht der Zauber?«
»Worin der Zauber besteht ...« erwiderte Fleming und verzog grübelnd die Stirn; »das ist schwer zu beschreiben. Wie soll man das beschreiben, den Zauber, den ein Mensch hat? Wenn du mich zwei, drei Stunden ruhig nachdenken ließest, damit ich mir einige Umstände aufnotieren könnte, würd ich möglicherweise was Annehmbares und Stichhaltiges zutage bringen. Aber so, mitten im Gespräch; du, das ist schwer. Ich wills aber probieren, um deinetwillen; will mich bemühen. Denk dir ein Paar Augen, stille große ernste Augen wie bei einem neugeborenen Kind. Du weißt ja, neugeborene Kinder haben so einen Urweltblick. Also diesen Blick denk dir. Wenn dich nun dieser Blick trifft, so hast du das Gefühl, du wirst aus dem Schlaf aufgeweckt. Du hast verschlafen, kommt dir vor, wirst aufgeweckt und schämst dich entsetzlich. Ferner denk dir eine Art von natürlichem Betragen, das einen gewissermaßen kitzelt. Man ist so überrascht, daß es einen kitzelt. Hast du noch nie die Erfahrung gemacht: hin und wieder begegnet man einem Menschen, der so natürlich ist, daß einem zumut ist, wie wenn einem die Lösung einer schweren Schachaufgabe gezeigt wird, über der man wochenlang stumpfsinnig gebrütet hat. Was, so dumm warst du, und so einfach ist die Geschichte! Denk dir dazu ein Lächeln ... ja, aber wie soll ich dir das Lächeln beschreiben, das ist ja vollends unmöglich; ein zärtliches und zutrauliches Lächeln ist es; schüchtern, als ob es sagen wollte: entschuldige, daß ich da bin; und dahinter, hinter dem Lächeln leuchtet eine ruhige, tiefe Kraft, eine ruhige, tiefe Seelenkraft.«
Mit zappligen Schrittchen durchmaß er den Raum, kehrte zurück, setzte sich wieder und fuhr mit hilfloser Geste fort: »Aber da bin ich schon am Ende. Bist du aus all dem klüger geworden? Kaum. Ich könnte das Roß anders aufzäumen, könnte dir allerlei kleine Szenen schildern. Stell dir vor: zehntausend Kinder! Da ereignet sich manches, was dann von Mund zu Mund geht. Da brodelt eine Menge Schicksal, da wirbeln Leidenschaften durcheinander, da dringt die Welt herein und lädt haufenweise ihr Böses ab, Unverstand und Verderbnis. Bloß ein Beispiel. Kommt da unlängst ein wüst besoffener Kerl, der sein Töchterchen zurückhaben will; er braucht das Kind, es muß kochen, die Mutter liegt im Spital und so weiter; alles Lügen; in Wirklichkeit hat er das Wurm halbtot geprügelt, wenn es von seinen Bettelgängen nicht genug Geld heimbrachte. Der tobsüchtige Bursche ist nicht zu bändigen, zertrümmert ein paar Fensterscheiben, fuchtelt mit dem Messer herum, verlangt nach der Fürstin; so wird sie ja auch unterm Volk genannt. Man führt ihn zur Fürstin, denn es ist Befehl, jeden, wer es immer sei, wer es fordre, Zutritt zu ihr zu geben. Der Kerl torkelt herein, zufällig war ich dabei, schreit, flucht, höhnt, will das Kind. Sie hört ihm zu; eine ganze Weile läßt sie ihn rasen; dann nähert sie sich ihm, legt ihm die Hände auf den Arm, spricht mit ihm, ganz vertraulich und freundlich wie mit irgendeinem von uns; da verstummt der Unhold, verstummt und starrt sie an, erst blöd-verwundert, dann beklommen und entgeistert; stiert und stiert, macht kehrt, wankt hinaus, lehnt sich draußen an die Mauer und fängt an zu heulen. Du, Eugen, das muß man gesehen haben, um zu wissen, was ein Mensch über den andern vermag. Da nützen keine Worte und Erzählungen, das muß man mit seinen zwei Augen gesehen haben.«
Faber schwieg lange. Endlich sagte er mit finsterm Eigensinn: »Mag es so sein. Ich wills für wahr und wirklich nehmen. Nur bessert es nichts an meiner Lage. Im Gegenteil, es verschlimmert sie.«
»An deiner Lage?« fragte Fleming erstaunt; »wieso an deiner Lage? Was hat denn die damit zu schaffen, was die Fürstin ist oder nicht ist?«
Faber beugte sich über den Tisch, ergriff Fleming beim Handgelenk und flüsterte mit rauher Stimme und drohendem Blick: »Du kannst es wohl nicht mehr aushalten vor Neugier? witterst Geheimnisse und möchtest mich zum Schwatzen bringen, was?«
Fleming verbarg seinen Unwillen. Er schüttelte den Kopf und sah Faber teilnahmsvoll an.
»Aber da sind keine Geheimnisse,« grollte Faber, und der Ausdruck seiner Züge wurde immer gehässiger; »hättest du Augen, so müßtest du nicht wie die Katze um den heißen Brei herumschleichen. Hellseher seid ihr nicht, ihr; was euch nicht brennt, blast ihr nicht, und wer nicht schreit, den hört ihr nicht.«
Er starrte traurig vor sich hin. Fleming seufzte und machte nicht ganz ernst gemeinte Anstalten, sich zu verabschieden. Doch Faber hielt ihn mit einem bittenden Blick zurück, der noch rätselhafter war als sein bösartiger Ausfall. »Du hast mich gefragt, warum ich mir von dir erzählen lasse, was ich wissen will, statt von Martina,« begann er wieder, und seine Stimme klang plötzlich weich; »hast du denn gedacht, das ist so einfach? Martina hat mir allerdings genug geschrieben über die Fürstin. Ich habe in den letzten zwei Jahren zweiundzwanzig Briefe von Martina bekommen, und sechzehn handeln beinahe ausschließlich von der Fürstin. Nun ist Martina keine Stilkünstlerin; sie trifft zwar manchmal mit ihren Bemerkungen den Nagel auf den Kopf, aber was sie schreibt, ist vom Augenblick geboren und wie es der Augenblick will. Wir waren ja nie aufs Schriftliche eingestellt. Das Schriftliche war karg zwischen uns. Das Mündliche in gewisser Hinsicht übrigens auch. Ich glaube, wir haben uns mit dreihundert Vokabeln verständigt wie die Bauern.«
»Das ist wahr, Eugen, das ist außerordentlich wahr!« rief Fleming eifrig nickend. »Ihr habt so stumm miteinander gelebt, ihr beiden, in einer so richtigen Stummheit, möcht ich sagen. Mir scheint, ihr habt nie höhere Gespräche geführt, wie man es nennt, habt nie Betrachtungen angestellt, über euch selbst nicht und über Gott und Welt nicht. Ihr habt immer nur von Wirklichem geredet, so ganz bescheiden von Gegenständen und Vorkommnissen. Das ist wahr; damals ist es mir gar nicht weiter aufgefallen; jetzt, wo du es erwähnst, muß ich darüber lachen, so wahr ist es.«
»Siehst du,« antwortete Faber, dankbar für die Zustimmung, »wie kann ich da auf einmal kommen und ein Verhör über jemand anstellen? Ich könnte gelegentlich fragen: was für eine Landsmännin ist die Betreffende? was für Kleider trägt sie? was hat sie gestern gesagt, als das und das passierte? Aber doch nicht: was für ein Mensch ist sie? Das wäre doch viel zu weit gegangen. Da hätte mich Martina kurios angeschaut. Ebensogut könnte ich fragen: was fühlst du für mich? Das käme ihr geradezu sinnlos vor; was fühlst du für mich! Verstehst du das endlich, Fleming?«
»Ja, ich verstehe dich genau,« sagte Fleming mit einer Miene, als sei jedes von Fabers Worten eine Offenbarung für ihn.
»Darüber denkt sie nicht nach, was einer für ein Mensch ist,« fuhr Faber in wunderlich belehrendem Ton fort; »das muß sie erfahren. Und wenn sie es erfahren hat, so weiß sie es zwar, aber nicht in der Ratio, sondern im Bilde. Bilder aber lassen sich nicht mitteilen, du hast es ja selber vorhin gestehen müssen. Wollt ich nun von ihr verlangen, sie soll mir ein Bild geben, das heißt, sie soll in Worte fassen, was verschwiegen in ihr lebt, so wäre das nicht bloß ein brutaler Eingriff in ihr Gemüt, sondern die Folge wäre auch, daß sie das Bild nicht mehr sähe und mir statt dessen lauter verkehrtes Zeug auftischen würde.«
Flemings Augen hinter den Brillengläsern wurden rund wie Teller. Obgleich er behauptet hatte, er verstehe ganz genau, schien er doch nur dumpf zu ahnen, was hier vor sich ging und was diesen Mann bewegte, der sich mit gewaltsamer Anstrengung nur, wie ersichtlich war, zu solchen Bekenntnissen entschloß. »Du sagst aber, daß Martina dir eine Menge Briefe über die Fürstin geschrieben hat«, bemerkte er scheu.
Faber lächelte wie über die Frage eines Kindes. »Martinas Briefe sind eben Martinas Briefe,« versetzte er trocken. »Tatsachen, nichts als Tatsachen. Wo sie gewesen ist. Wer zu ihr gekommen ist. Was sich ereignet hat. Was die Fürstin gesagt, getan, gewünscht, geplant hat. Alles hat natürlich den Bezug auf mich, so scheint es wenigstens. Sie nimmt ja an und darf annehmen, daß das was sie so glühend auffaßt und mitlebt, mich ebenso trifft wie sie. Sie vergißt nur, daß ich ausgeschaltet bin. Sie vergißts und wills nicht wissen. Sie spürts und läßt den Faden fallen. Ich aber wußte, es ist etwas weg aus meinem Leben, das ihm so eingefleischt war wie die Lunge meinem Leib. Seitdem ich das wußte, konnt ich eigentlich nicht mehr so recht atmen. Und es ist noch etwas Quälendes dabei, etwas entsetzlich Quälendes. Wenn ein Kranker den Namen seiner Krankheit kennt, so beruhigt ihn das gewissermaßen. Der Mensch muß seine Krankheit benennen können, sonst wird er trübsinnig oder noch was Schlimmeres. Es sind welche in die Heimat zurückgekehrt, die sind grausam enttäuscht worden. Man hat sie betrogen, man hat ihnen die gelobte Treue nicht gehalten; die Frau hat einen Liebhaber gehabt, mehrere Liebhaber gehabt, hat vielleicht sogar anderweitig geheiratet, weil sie ihn tot geglaubt; das hat Hand und Fuß, da weiß man wie man sich zu benehmen hat. Der arme Teufel kann die Möbel zertrümmern, kann schießen, kann irgendwem den Hals abschneiden; aber ich? Was soll ich tun? Ich weiß nicht einmal, was vorgeht und ob ich das Recht habe, mich zu beklagen.«
»Du, Eugen, am Ende sind das lauter Hirngespinste,« redete ihm Fleming treuherzig zu; »wärs nicht am einfachsten, du gingst mal zur Fürstin und sprächst mit ihr? Du solltest mal sehen, wie rasch die leeren Blasen platzen würden.«
»Ich habe nichts mit der Fürstin zu sprechen,« erwiderte Faber schroff, »ich habe nichts mit ihr zu tun. Nur mit dem Schatten hab ich zu tun, den sie wirft und der alles in meinem Leben finster macht, was einmal licht gewesen ist.«
Man hörte Stimmen; die Tür ging auf und Martina trat auf die Schwelle. Hinter ihr stand Fides und hielt einen riesigen Rosenstrauß in der Hand, den Martina mitgebracht. Das Wissen um den Besitz der Rosen machte ihr Gesicht noch strahlender als sonst.
Sie war amüsiert, als sie die beiden Männer in ernsthafter Haltung einander gegenüber sah. Die Heiterkeit steigerte sich zu hellem Gelächter, das nicht ohne einen Beiklang von Verlegenheit war, als sie die an die Wand gelehnten Bilder erblickte, das der Fürstin und ihr eigenes.