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Am andern Tag trat Faber seinen Posten an. Er wurde dem Chef der Abteilung und einigen Kollegen vorgestellt, erhielt einen Platz an einem Schreibtisch, der voller Akten lag, gab sich Mühe, der treuherzigen Unterweisung eines alten Kanzlisten zu folgen, wie diese Akten zu behandeln seien, vertiefte sich sodann in die Lektüre von Eingaben, Reskripten, Gesuchen, Kostenvoranschlägen, Schadendarstellungen, blickte zerstreut auf die Personen, die unablässig durch den korridorartigen Raum gingen, lauschte einem bis ins einzelne gehenden Gespräch zweier Stubengenossen über die Eigenschaften ihres Stammwirtshauses, und als die Amtsstunden vorüber waren, sah sein Gesicht von der überstandenen Langeweile leidend aus. Auf dem Heimweg besuchte er Fleming und schilderte ihm mit bissigem Humor seine Eindrücke und Erlebnisse; es sei nur ein Glück, fügte er hinzu, daß es belanglos sei, ob er sich dort aufhalte oder nicht; diese Art Vorspiegelung von Arbeit sei bloß geeignet, die Zeit totzuschlagen, von welchem Artikel er allerdings genug im Vorrat habe. »Eure neugebackenen Ämter sind offenbar dazu da, Leute, die sonst Fensterscheiben zertrümmern würden, durch Beschmieren von Papier unschädlich zu machen«, sagte er.
»Ach Gott, wir versuchens auf alle Weise«, seufzte Fleming. »Panik und kein Ende. Wir sind wie die Hühner auf einem Hof, über dem der Geier kreist. Was willst du bei dem Gegacker und Flügelschlagen Nützliches zustande bringen? Geier; na ja, das hat noch was Imposantes; aber die Ratten im Stall ... Vorige Woche haben sie sechzehn kostbare Werke aus der Universitätsbibliothek gestohlen. Kein Mensch kümmert sich darum. Oder, um im Bild zu bleiben, kein Hahn kräht danach. Du weißt, ich lamentiere nicht gern; aber manchmal freuts einen schon wirklich nimmer, wenn das Heiligste nicht verschont wird. Wann kommt Martina zurück?«
Faber zuckte die Achseln. Er erbat sich von Fleming das uralte Buch von Cardano über Astrologie, das dieser besaß; er hatte es in früheren Jahren schon einmal von ihm entliehen. Fleming studierte seinen Katalog, dann stieg er auf eine Leiter und zog den Folianten aus einem der obersten Fächer. »Gib hübsch acht darauf, es ist unersetzlich«, sagte er, und fügte hinzu, während ein breites Lächeln über sein gutmütiges Kuchenbäckergesicht ging: »Hältst du die Sterndeuterei noch immer wie anno dazumal für eine Wissenschaft? Der alte Goethe scheint recht zu haben, wenn er behauptet, daß man mit vorrückenden Jahren Mystiker wird.«
»Es handelt sich nicht ums Sterndeuten«, versetzte Faber; »es handelt sich um ... na, mir fehlen die philosophischen Ausdrücke, die so was interessant machen. Man sucht Zusammenhänge. War es nicht eine Rettung für unser Selbstgefühl, wenn man Zusammenhänge konstatieren könnte? Da wäre man gleich weniger armselig. Man könnte sich eine Funktion einbilden. Die Chinesen wissen darüber viel. Deshalb sind sie auch so ruhige und unergründliche Leute. Leb wohl, alter Fleming.«
Er ging nach Hause, aber da niemand in der Wohnung war, ging er wieder fort. Das schöne Wetter verlockte ihn nicht so sehr, als ihn die leeren Zimmer verdrossen. Bei einem Obststand kaufte er einige schöne Birnen, aber als er sich auf einer Alleebank niederließ, um sie zu essen, hatte er keine Lust mehr; er beschloß, sie mit heim zu nehmen.
Doch wollte er zuerst noch bei Clara vorsprechen. Er traf sie am Tor des Hauses; sie stieg eben aus einem Privatauto und verabschiedete sich von einer älteren Dame, die im Wagen sitzen blieb und die trotz der warmen Witterung einen Pelz trug, einen Chinchillamantel. Als Clara den Bruder gewahrte, zog sie ihn am Arm in den Hausflur und sagte im Weitergehen: »Wie du mich hier siehst, bin ich um unzählbare Millionen mehr wert als vor einer Stunde noch. Also hab Respekt.« Sie entnahm einer ledernen Handtasche ein ziemlich großes Etui, sah sich mit komisch-outrierter Ängstlichkeit um, ob niemand in der Nähe sei, öffnete es und Faber erblickte, mit einigem Staunen, ein wertvolles Edelsteindiadem, das in dem Halblicht des Stiegenhauses ein Feuerwerk von purpurnen, grünen und blauen Strahlen warf.
»Die Dame im Auto, das war meine Schwiegermutter, mußt du wissen«, berichtete Clara, indem sie das Etui wieder in das Täschchen schloß; »eine elegante und großartige Frau, die Regierungsrätin Hergesell. Nun findet morgen ein feierliches Familiendiner statt. Der Regierungsrat wird nämlich siebzig Jahre alt. Und weil ich keinen entsprechenden Schmuck hab und doch als jüngstes Mitglied des Hergesellschen Clans was vorstellen soll, hat mir Mama das Diadem geliehen. Deine Schwester wird also morgen Abend in einem Prunk auftreten, der sich gewaschen hat. Du begreifst, daß mich das Lampenfieber heut schon um den Verstand bringt.«
Faber bemerkte lächelnd: »Es wird dir nicht gelingen, mir den Glauben daran auszureden, trotz deinem Spott. Es ist gar keine Schande, wenn dich die Juwelen ein bißchen verrückt machen. Ich versteh es. Solche Diamanten haben was Ungeheures. Ich muß immer an verhexte und geläuterte Seelen denken.« Er errötete, was ihm sehr gut stand. Er errötete, weil er mit seinen Worten das Gebiet des Alltagsmäßigen verließ, was selten der Fall war.
»Mutter liegt seit gestern zu Bett; sie ist nicht ganz wohl«, sagte Clara, als sie die Wohnung betraten. »Geh ein wenig zu ihr; ich komme gleich hinüber.«
In Anna Fabers Zimmer herrschte eine Unordnung wie in einer Zeitungsredaktion. Überall lagen Bücher und Broschüren, beschriebene Blätter und Stöße von Briefen. Sie war noch immer wie vor Zeiten mit der ganzen Welt in Briefwechsel. Auf einem runden Tisch neben ihrem Bett befanden sich eine Teekanne, eine Tasse, ein paar aufgeschnittene Semmeln, ein riesiges Tintenfaß, ein Barometer und eine Photographie in einem Mahagoniständer. Diese zeigte das Bild Valentins, ein ungewöhnlich hübsches Jünglingsgesicht, an dem die halbmondförmig nach unten gezogenen schmalen Lippen und die sonderbar schief oder schräg blickenden Augen auffielen.
Die Unterhaltung zwischen Mutter und Sohn war einsilbig. Eugen erkundigte sich nach der Art von Anna Fabers Unpäßlichkeit. Sie lehnte in kargen Antworten jede Besorgnis ab und war über Eugen böse, weil er sie seit einiger Zeit vernachlässigt hatte. Ihr Aussehen ließ nicht auf ernste Krankheit schließen; die Augen blitzten lebensvoll; das derbe und fleischige Gesicht mit den Spuren einstmaliger Schönheit war sonnegebräunt. Das Übel saß in den Beinen; sie könne nicht stehen und nicht gehen, klagte sie ungeduldig.
»Immerhin, morgen muß ich heraus«, rief sie mit ihrer stets etwas theatralisch wirkenden Heftigkeit; »eine Person wie ich kann nicht dreimal vierundzwanzig Stunden in den Federn fielen. Du, hör mal, teurer Sohn«, sagte sie, indem sie ihre kräftige Stimme dämpfte und Eugen fest ansah, »könntest du mir nicht Geld verschaffen? Ich brauchte eine größere Summe. Mit Hergesell ist nichts anzufangen; kein Funken von Generosität in dem Mann, und Clara hält er so kurz wie nur möglich. Allerdings hängt er seinerseits wieder von seinem Vater ab. Nun, wie stehts, hast du was übrig für mich?«
Eugen schaute sie verwundert an. Die Bitte war so dringlich, das Wesen der Mutter dabei so seltsam versteckt, daß er nicht gleich eine Entgegnung fand. Anna Faber hatte es nie verstanden, mit Geld umzugehen; sie verachtete es zwar, besaß aber nie welches; wenn ihr gelegentlich einmal etwas zufloß, verschenkte sie alles oder machte die unsinnigsten Einkäufe. Die eigenen Kinder hatten sie deshalb frühzeitig schon in Vormundschaft genommen, so daß sie immer nur über geringe Beträge verfügen konnte.
»Da müßtest du mir erst sagen, Mutter, wozu du Geld nötig hast«, antwortete Eugen mit halb humoristischer Bedenklichkeit; »eine größere Summe ... nein, das ginge nicht, aber eine Nothilfe gewissermaßen, darüber ließe sich vielleicht reden, aber wie gesagt, keine Heimlichkeiten.«
Anna Faber erzürnte sich. »Ich bin alt genug und Manns genug, oder Frau genug, um auch mal meine Heimlichkeiten haben zu dürfen. Was für schundige Leute ihr alle seid; pfui Teufel!«
Eugen lachte. Er nahm die Sache nicht besonders ernst. Ehe er etwas entgegnen konnte, kam Clara herein. Sie hatte sich einen schwarzen Seidenschal um die Schultern geworfen, und auf den Haaren trug sie das Diadem. »Nun, wie gefall ich euch?« fragte sie mit gespielter Aufgeblasenheit, hinter der doch das Vergnügen zu merken war; »feudal, wie? Es ist doch gut, eine Hergesell zu sein. Wie gefall ich dir, Mutter? Der Schal ist natürlich nur als Aushilfsdekoration gedacht.«
Anna Faber blickte die Tochter verklärt an. »Muß man wirklich eine Hergesell sein?« äußerte sie mit stolzem Zurückwerfen des Kopfes; »als eine Faber ist man auch wer. Du siehst aus, als ob du damit geboren wärst.«
»Gott schütze mich vor solcher Hoffart«, spottete Clara. Dann trat sie vor Eugen hin. »Und was denkt der Herr Bruder?« redete sie ihn an; »ich kann ihm sagen, was er denkt. Erstens denkt er, daß seine Martina hundertmal hübscher mit dem Schmuck aussähe. Ist wahr. Aber mich hats halt betroffen. Zweitens denkt er, daß wir Fabers arme Schlucker sind, immer gewesen sind und immer sein werden. Ist nicht minder wahr, denn auch mein Anteil am Hergesellschen Reichtum läßt sich, genau besehen, durch meine fünf Finger blasen.« Sie blies durch die gespreizten Finger.
»Du sollst nicht Gedanken lesen, Schwester, du liest schlecht«, erwiderte Eugen.
»Ja ja«, fuhr Clara fort, indem sie in den Spiegel schaute, »ein armes Mädchen, das in eine reiche Familie heiratet, ist wie ein kleiner Handwerksmeister, der sich von einer Aktiengesellschaft aufkaufen läßt. Mal eine Generalversammlung im Jahr, bei der er zusehen darf, wie die Dividenden verteilt werden, und im übrigen kann er froh sein, wenn man ihm leutselig auf die Schultern klopft.«
»Lästerlich, was die zusammenredet!« rief Anna Faber aus; »und deine Kinder?«
Clara nahm das Diadem vom Kopf. »Meine Kinder? Die sind bereits auf der andern Seite, auf der wohlhabenden.«
»Gib nur um Himmelswillen auf die Brillanten acht,« beschwor Anna Faber die Tochter, »für eine solche Kostbarkeit verantwortlich sein, das brächte mich um den Schlaf.« Eugen verabschiedete sich. Fides wartete bereits mit dem Abendessen auf ihn, als er heimkam. Er fragte nach Christoph, der schon zu Bett gebracht war, und sie erstattete in pflichthaftem Ton Bericht. Er erzählte vom Amt, von dem Besuch bei Mutter und Schwester, von dem Edelsteinschmuck. Sie hörte mit freundlich-offenem Blick zu. Jedesmal gefiel es ihr, wie er die Worte setzte. Auch schien ihr seine Stimme angenehm zu sein. Farbe und Fall der Stimme haben ja bedeutenden Einfluß auf die Beziehungen zwischen Menschen.
Das Essen schmeckte ihm. Er fand es rührend, daß sie sich auch in dieser Hinsicht um ihn bemühte. Insbesondere lobte er die Zubereitung des Gemüses und fragte, wo sie kochen gelernt habe; nicht viele Frauen ihrer Art verstünden zu kochen, und die es verstünden, machten viel Lärm davon. Sie erwiderte, man habe sie schon als Mädchen angehalten, in der Wirtschaft zu arbeiten; später sei es notwendig geworden. Er hatte schon bemerkt, daß sie ihrer Ehe nie unmittelbar Erwähnung tat.
Mit einem Seitenblick auf ihre Hände sagte er, es wäre schade, wenn solche Hände am Herd ruiniert würden. Sie zog die Stirn ein wenig in Falten und antwortete, da Martina so lieb gewesen sei, für mehrere Stunden im Tag eine Küchenaushilfe aufzunehmen, sei keine Gefahr. Er fürchtete taktlos gewesen zu sein, aber der Versuch, den Fehler wieder gutzumachen, hätte ihn vielleicht vergrößert. In der Eile, mit der er ihr (die Mahlzeit war zu Ende) die Birnen anbot, die er mitgebracht, lag eine Abbitte. Sie holte zwei Teller und zwei silberne Messerchen und begann eine Birne zu schälen.
»Sie sollten sie nicht schälen«, sagte er; »sie verliert den Duft und den Flaum.«
»Es geht nicht«, versetzte sie lächelnd; »ich bin nicht darnach erzogen. Hineinbeißen, das geht nicht.«
»Früchte wollen behandelt sein wie Tiere«, fuhr er in pedantischem Ton fort und sah zu, wie sie ein abgeschnittenes weißes Stück zwischen ihre großen weißen Zähne schob; »betrachten Sie doch mal so eine Birne. Wieviel Lebendiges in der Kontur; die graziöse Biegung noch im Stengel oben; die goldene Fleischfarbe, wie warm, wie zart; kein Maler bringt das heraus. Die Tongefäße im Orient ahmen fast alle die Form von Früchten nach.«
Es war noch früh am Abend, und im Haus gab es noch manches zu schaffen für Fides. Sie ging, und sie kam wieder; sie trug das Geschirr hinaus; sie gab den Blumen Wasser; dann brachte sie ihr kleines Wirtschaftsbuch, setzte sich zum Tisch und rechnete; die Rechnung schien nicht zu stimmen; sie legte den Bleistift quer über die Lippen und dachte nach, wobei der Ausdruck ihres Gesichtes etwas Madonnenhaftes hatte. Aber wenn sie auf seine Fragen antwortete, oder das Schweigen selbst mit ein paar Worten brach, geschah es in einer kameradschaftlichen Weise und immer mit dem nämlichen freundlich-offenen Blick.
Faber hatte unterdessen seinen astrologischen Folianten aufgeschlagen. Er blätterte darin und sah die verschiedenen geometrischen Figurationen an. Fides fragte ihn, was es für ein Buch sei; er erklärte es ihr; sie war überrascht, setzte sich neben ihn und sah auch in das Buch.
»Der Mann beweist, daß ich nichts unternehmen kann, was nicht in den Sternen als Gesetz und Vorschrift für mich steht«, sagte Faber. »Und auch nichts unterlassen. Dreihundert Jahre ist das Buch alt, aber an das Schicksal in den Sternen haben die tiefsten Geister schon vor sechstausend Jahren geglaubt. Es ist was dran, aber man darf sich nicht damit beschäftigen, sonst ist man gleich zu sehr angeklammert. Und ob der Stern, dem man vertraut, einen dann wirklich führt, das ist die Frage. Gestern wars noch Lüge und Phantasterei, heut wirds wieder wahr, so kehrt sich alles um. Man muß nur abwarten, wie die Kugel rollt.«
Sie redeten noch eine Weile darüber, dann sagte Fides: »Morgen wird ein Brief von Martina kommen.«
Sie gingen frühzeitig zur Ruhe, denn beide waren müde vom langen Aufbleiben in der vorigen Nacht.
Es kam aber kein Brief von Martina am andern Tag. Faber blieb nur kurze Zeit im Amt. Er war schon zu Mittag wieder zu Hause. Es schien, daß es ihm jetzt auf einmal behagte, zu Hause zu sein. Sonderbar war nur, daß er sich wenig mit Christoph abgab, und Fides machte ihm auch Vorwürfe darüber. Doch er hatte die Geduld nicht. Nur wenn Fides zugegen war, ließ er sich die Gesellschaft des Knaben gefallen, und dies konnte dem natürlichen Scharfsinn des Kindes nicht entgehen; es zog sich seinerseits zurück, und seine forschenden Augen, wie aus einem Hinterhalt hervorglänzend, enthielten ein verlegenes Mißtrauen. Wie dies zu deuten war, beunruhigte Faber kaum, auch bemerkte er es kaum. Fides hätte sich möglicherweise Gedanken darüber gemacht, da sie eine erstaunliche Kenntnis vom Charakter des Knaben besaß; aber die Veränderung in Fabers Wesen, die Aufgeschlossenheit und neue Lebhaftigkeit, die er zeigte, verursachte ihr solche Hoffnung und Genugtuung, daß sie keinen Schatten an dies Gefühl lassen mochte.
Man sah es ihr an; es war etwas Stolzeres als sonst in ihren Mienen, und in dem fast kindlichen Eifer, mit dem Faber ihre Nähe suchte, ihr Wort, ihren Blick, wollte sie nichts anderes gewahren, als eben die von ihr bewirkte Wandlung zum Guten. Daß auch sie sich dabei noch mehr erschloß, gesprächiger, teilnehmender, beweglicher, ja sogar heiterer wurde, war kein Wunder. Täuschen konnte sie sich nicht, durfte sie sich nicht; es war in ihr sicherlich auch keine Richtung und Regung dafür vorhanden, und deshalb hatte sie ihrer selbst auch gar nicht acht.
Sie sprach davon, daß sie die Zimmer für Martinas Rückkehr schmücken wollte.
Er erzählte ihr, am Abend, von seinen Erlebnissen auf dem Schiff; von Begegnungen mit sibirischen Jägern; von einem Brand in einem chinesischen Dorf; und manches andre noch. Sie lauschte, das Kinn auf die gekreuzten Hände gestützt.
Während er erzählte, hatte er ein Blatt Papier vor sich liegen und zeichnete. Es wurde ein Kopf; es wurde ein Gesicht. Kräftige Stirn, schöngeschweifte Brauen, fester voller Mund, über den Zügen eine leise schwermütige Verschleierung.
Es war ein Porträt von Fides.
Sie errötete, als ihr Blick darauf fiel, und als er sie fragte, ob sie es haben wolle, schien sie zuerst unschlüssig, nahm es aber dann doch. Er griff noch einmal nach dem Blatt und schrieb unter das Bild; unvergeßlich dankbar Eugen Faber.
Da senkte Fides den Kopf, hob ihn wieder und sah ihn mit einem wunderbar ruhigen Blick an.
Am andern Abend, Fides stickte für Martina ein Monogramm in ein Battisttaschentuch, gerieten sie im Gespräch wieder auf die übermäßig lange Zeit seines Exils, ein Thema, auf das er bei jeder Gelegenheit zurückkam kraft einer Zwangsvorstellung, und mit dem Gebahren eines Menschen, der eine Nadel aus seinem Fleisch entfernen will und die Stelle nicht finden kann, wo sie steckt; da widerstand er nicht der schmerzlichen Verlockung, in einem Augenblick der Vergegenwärtigung der gelebten Qual, schüchtern und umschreibend von der sinnlichen Entbehrung zu reden, die einen Mann in solcher Lage der wahrhaftigen Hölle ausliefere.
Sie erschrak ein wenig und lehnte die unerwartete Offenherzigkeit durch eine unwillkürliche Gebärde ab; doch sie sah alsbald, daß er ganz naiv und wie in Unschuld davon sprach, fast so als wolle er ihr ein Leid klagen, das er keinem zuvor entdecken gekonnt und als ob er von der Mitteilung nachträglich noch Linderung erhoffe. Da ließ sie ihn gewähren.
Es sei schwer, in dem Bezug völlig aufrichtig zu sein, sagte er, zumal gegen eine Frau; habe doch die Natur Mann und Weib hierin ganz verschieden erschaffen; wo der eine aus Mangel an Nahrung verkomme, sei die andere noch nicht einmal zur Empfindung des Hungers gelangt, und Zivilisation und Sitte verschärften die Unterschiede noch mehr. Übrigens wage man sich sogar im Selbstgeständnis nicht so weit vor und wisse zuletzt um die eigene Not nicht viel besser Bescheid als um die fremde. In Europa sei eben trotz aller Wissenschaft der Leib in Acht und Bann getan.
»Im allgemeinen freilich büßen unsere Männer, wie ich sie dorten gesehen, alle Scheu ein und werden zu Bestien«, fuhr er fort; »man kann sich ja denken, wie das zugeht. Aber aus dem widerwärtigen Schauspiel ist auch nichts anderes zu erfahren, als daß sie eben auf ihre Kulturwürden Verzicht leisten; da bricht die Raserei hervor. Die schließt nicht aus, daß gegen die Erniedrigung angekämpft wurde, sie beweist nur, daß man im Kampf unterlegen ist. Die meisten Männer, neunundneunzig unter hundert, haben das Talent, sich zu teilen. Sie trennen Körper und Seele voneinander. Sie schalten die Seele aus oder schalten den Körper aus, je nachdem. Zu dem Behuf haben sie Spezialregeln und Sondergesetze erfunden, jeder für sich, auch eine besondere Advokatenkunst mit allerlei schlauen Rückversicherungen und Hintertüren. So kann ihnen nie was passieren. Es gibt einen Bezirk für die Liebe, für das, was sie das Höhere heißen, und einen für die sogenannten Leidenschaften und das übrige, was sie dann in einen Topf werfen. Die Leute sind fein heraus; sie haben für alle Gelegenheiten einen Passepartout, und mit dem in der Tasche paddeln sie gemütsruhig in ihrem Abenteuerschifflein durch die Gewässer. Mit mir wars leider so bestellt, daß ich dazu nicht die mindeste Begabung hatte. All die Zeit über war ich unheilbar fixiert. Wie mit Schmiedeketten. Konnte mich nicht loslösen. Man redet vom Blut, von der Gewalt des Blutes. Sicherlich schafft das Blut einem viel Pein; sicherlich. Aber bei mir war das die schlimmste nicht. Die schlimmste schuf das Auge und das Ohr, und was als Erinnerung in Aug und Ohr eingeätzt war. Und dann so eine gewisse verruchte Musik, ein Surren und Sausen in den Nerven, endlos, ungefähr wie Telegraphendrähte surren, wenn man den Kopf an die Stange drückt, nur viel unerträglicher, und so, daß man sich nicht davon befreien konnte. Aber mit dem Fixiertsein war es auch eine wunderliche Sache. Allerdings gabs nur eine einzige Frau in der Welt für mich; doch die verlor nach und nach alles Wirkliche und wurde zu etwas Riesengroßem, so daß ich den Himmel nicht mehr sehen konnte, weil sie davor stand. Und wenn ich eine Frau vor mir dahinschreiten sah, da war das Schreiten für sich allein etwas, das durch alle Gedanken fuhr wie ein elektrischer Schlag; auch das, wie ihr Gewand sich an die Hüften schmiegte, und wie die Nackenhaare sich bewegten und die Knie sich bogen. Immer vermischte sich das sichtbare Bild mit dem gewunschenen, und dann gleich die qualvolle Frage: wird man es einst wieder greifen, wieder halten; wieviel Weg und Zeit und Unglück liegt noch dazwischen? Und so Wochen und Aberwochen, Monate und Jahre. Unmöglich kann man den Begriff davon geben. Es ist bloß Gestammel, was man sagt.«
Das alles brachte er so einfach vor, mit so schonender Zurückhaltung, daß das anfängliche Unbehagen aus Fides' Zügen schwand. Ernst und aufmerksam hörte sie ihm zu.
»Ich bin einmal krank in einem Zelt bei herumziehenden Hirten gelegen«, erzählte er; »es war im oberen Amurgebiet; eine wüste Gegend. Wie lang ich da lag, weiß ich nicht mehr; fünf oder sechs Tage vielleicht. Und denken Sie sich, da geschahs, daß ich jede Nacht vom Gesang einer Frauenstimme aufwachte. Jede Nacht zur selben Stunde sang eine tiefe Frauenstimme dasselbe Lied, ein melancholisches Volks- oder Hirtenlied in einem gezogenen, monotonen Rhythmus. Es klang von so fern her, daß ich mich anstrengen mußte, um es überhaupt zu hören. Dieser Gesang war das Schrecklichste, was ich erlebt habe. Jedesmal klopfte mir das Herz bis in die Schläfen; ich hatte keine Luft mehr zum Atmen; wie ein Verrückter warf ich mich auf den Decken herum und biß in die Zeltstangen. Es war ein Zustand wie der, bevor man verschmachtet. Alles glüht, der Gaumen, die Haare, die Fingernägel. Und in einer Nacht hielt ichs nicht mehr aus, taumelte aus dem Zelt, stürzte hin und kroch dann auf allen vieren in die Richtung, von wo der Gesang schallte. In meinem Hirn war bloß der Gedanke: zu der Frau; zu der Frau. Als wäre dort Rettung. Die Frau, die singende Frau, das war die Rettung, das war die Gottheit. Mocht es auch der Tod sein, das hätte nichts geändert. Nun, zu Zeiten ließ dann das tolle Fieber wieder nach, und man war nur noch stumpf.«
Er stand auf und schüttelte sich. »Genug«, rief er mit dem Bemühen, die Stimmung ins Harmlose zu wenden, »Sie sehen daraus nur, daß man ein bißchen Nachsicht verdient, wenn man sich bei der Heimkehr nicht wie ein sanftmütiger Quäker aufführt.« Er lächelte sarkastisch. »Da fällt mir eine Geschichte ein, die ich mal irgendwo gehört oder gelesen habe. Die Geschichte von einem Taubenehepaar. Ein Tauber und eine Taube hatte sich ihr Nest gebaut, die Taube legte Eier und begann zu brüten, der Tauber flog fort und holte Nahrung für die Gesponsin. Das ging eine Weile so; eines Tages, als er zurückkommt, findet er das Nest leer. Die Dame ist verschwunden. Er wartet; er sorgt sich; in der Sorge um den Nachwuchs begibt er sich indessen selbst an das Geschäft des Brütens; wie aber Stunde um Stunde und die ganze Nacht vergeht, ohne daß die Frau erscheint, packt ihn plötzlich eine berserkerhafte Wut, und er fängt an, nicht nur das Nest vollständig zu zerstören, sondern auch die Eier hinauszuwerfen, die auch richtig auf dem Erdboden unten zerschellen. Kein Stein, oder wie man in dem Fall richtiger sagt, kein Halm bleibt auf dem andern. Noch ist sein Grimm nicht verraucht, da bemerkt er die Dame auf einem Dachfirst über der Straße mitten in einer Taubenversammlung, wo sie anscheinend das große Wort führt. Er, wie der Satan, schießt hinüber, und alsbald entsteht ein grausiges Wirbeln von Federn. Die Versammlung stiebt bis auf den letzten Mann auseinander, und der beleidigte Eheherr bringt seine Ausreißerin siegreich und streng nach Hause. Sie müssen sich wohl nach der Schlacht gleich versöhnt haben, offenbar hat der Frau Taube die Rabbia ihres Gemahls mächtig imponiert, denn das Nest wurde wieder aufgebaut, wobei aber keins von den früheren Bestandteilen benutzt wurde, sondern lauter ganz neue, und das hat mir an der Sache besonders gefallen; es wurden frische Eier gelegt, die wurden frisch bebrütet, und die Ehe verlief dann weiter ganz normal, soviel ich weiß.«
Fides lachte herzlich. »Nun, der Meister Tauber hat jedenfalls kurzen Prozeß gemacht«, sagte sie; »der Unhold, wie er im Buch steht; grausam und rebellisch. Finden Sie ihn nachahmenswert? Ich nicht.«
»Nicht gerade nachahmenswert«, antwortete Faber schmunzelnd, »aber etwas Befriedigendes hat sein Auftreten doch. Man könnte ihn sogar ein wenig beneiden.«
Lachend trennten sie sich für die Nacht.
Am andern Morgen hatte sich Faber eben zum Weg ins Amt fertig gemacht, als die Flurglocke dreimal schrill läutete. Er vernahm aufgeregtes schnelles Fragen; unmittelbar darnach stürzte Anna Faber zu ihm ins Zimmer und teilte ihm mit allen Zeichen des Entsetzens mit, der Brillantschmuck sei gestohlen worden, Eugen müsse sogleich mit ihr gehen.