Jakob Wassermann
Faber oder Die verlorenen Jahre
Jakob Wassermann

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22

Noch um drei Uhr nachmittags saß Faber finster und untätig in seinem Zimmer. Er hatte beschlossen, nicht ins Amt zu gehen; widrig war ihm jeder Schritt dorthin, so daß schon sein Gang verändert war, wenn er den Weg antrat. Er hatte eine begonnene Arbeit, einen vor Tagen entworfenen Plan für eine Konzerthalle, weiterführen gewollt, aber kaum hatte er zum Bleistift gegriffen, so hatte er ihn zerstreut und mutlos wieder weggelegt.

Er vernahm Stimmen und unterschied sie. Es war seine Mutter, die mit Fides sprach. Nach einer Weile kam sie zu ihm ins Zimmer. Sie fragte, ob sie ihn störe. Er bot ihr stumm einen Stuhl an. Sie dankte leise, setzte sich und seufzte. Innerhalb weniger Tage war sie merklich gealtert. Tiefe Rinnen hatten sich um den Mund gekerbt; das Haar, vordem noch von braunen Fäden durchzogen, war eisgrau; die Augen hatten von der früheren Leuchtkraft nicht mehr die Spur.

Der teilnahmsvoll prüfende Blick des Sohnes veranlaßte sie zu traurigem Nicken. »Ja, Eugen«, sagte sie, »jetzt hast du auf einmal eine Greisin als Mutter. Wer hätte das gedacht. Ich, Herrgott, ich. Vor einem Jahr noch, und kein Orkan hätte mich umschmeißen können. Nun kündigt mir der alte treue Knecht da«, sie strich an ihrem Körper herab, »kündigt mir den Dienst.«

»Du hast viel in deinem Leben getan, du kannst auch mal ruhen, Mutter«, erwiderte Faber sanft.

»Ruhen, freilich, das möcht ich gern. Obschon es nicht der Zustand ist, in dem ich mich wohl fühle. Seitdem dein Vater tot ist, der herrliche Mann, hab ich immer die größte Angst vor dem Moment gehabt, wos mal heißt: abrüsten. Es gibt Menschen, die dürfen nicht zu sich kommen. Wenn ich zu mir komme, ist vielleicht niemand zu Hause. Du lachst. Es ist gar nicht zum Lachen.«

»Nein, Mutter, ich hab nicht gelacht.«

»Und zu den andern kommen, mit den andern sein, das ist vorbei. Ich konnte mich nie an den Gedanken gewöhnen, daß ich einst eine Zeit erleben soll, die nicht mehr meine Zeit ist. Was hats geholfen? Es ist nun doch so. Diese Zeit da, eure Zeit, nein, sie ist nicht mehr meine. Kennst du das Märchen von den Versteinerten? Der Prinz geht den Berg hinan; lauter Versteinerte um ihn. Und fortwährend Höhnen, Kreischen und Heulen hinter ihm. Aber er darf sich nicht umdrehen. Wenn er sich umdreht, wird er selber zu Stein. Das ists. Wer noch ein Herz im Leibe hat und sich umdreht zu dem Geheul, wird zu Stein.«

»Hast du gute Nachrichten über Valentin? hält er sich da draußen in der Anstalt?« fragte Faber, um die Mutter von ihren düsteren Betrachtungen abzulenken.

»Es scheint; es besteht Hoffnung«, antwortete sie unsicher.

Doch erwies sich, daß nicht bloß die Sorge um den Enkel sie bedrückte, sondern daß ihr auch um Klara bang war. Außerdem, und das war der eigentliche Grund ihres Besuches, hatte sie eine Auseinandersetzung mit Hergesell gehabt, dessen Empörung keine Grenzen kannte, seit er erfahren, daß Eugen sich zur Partei der Ultraroten geschlagen hatte. Viele seiner Bekannten, die es im offiziellen Parteiorgan gelesen, hatten es ihm bereits hämisch oder verwundert mitgeteilt. Von solchem Verwandten, hatte er erklärt, müsse er sich lossagen, damit er nicht allenfalls gezwungen sei, ihm in seinem Hause zu begegnen. »Er will noch heute zu dir kommen, Eugen«, schloß Anna Faber; »er will dich vor die Wahl stellen, entweder öffentlich zu widerrufen oder auf die Gemeinschaft und Verbindung mit ihm, seinen Kindern und seiner Frau in aller Form zu verzichten.«

»Ei«, spottete Eugen, »der möchte wohl so einen kleinen Reichstag zu Worms arrangieren? Er soll nur kommen.«

»Du darfst nicht vergessen, daß Hermann bei all seinen Fehlern eine sittlich hochstehende Person ist«, sagte Anna Faber; »bei ihm geht es um wirkliche Ideale, um die Sache gehts ihm. Du mußt jedenfalls seinen Standpunkt achten.«

Eugen zuckte die Achseln. »Du wolltest von Klara sprechen, Mutter«, wich er aus.

Nun, mit Klara war es so, daß sie sich ihrer Familie von Tag zu Tag mehr entzog, auch an ihren Kindern kein Interesse mehr nahm. Die Besuche des Pater Desiderio waren in letzter Zeit, besonders nach dem Vorfall mit Valentin, immer häufiger geworden, und es war nicht zu verkennen, daß der willensstarke und sehr gebildete Priester eine Macht über sie ausübte, die in allen ihren Lebensäußerungen hervortrat. Sie ging jetzt täglich in die Kirche und jeden Sonntag zur Beichte. Ganz frühe Erinnerungen an religiösen Unterricht, bevor noch die Mutter sie mit Plan und Vorbedacht von Glauben und Glaubensdienst losgerissen, bekamen Gewicht und Bedeutung. Sie kasteite sich, sie schlief wenig, es zeigte sich an ihr die Wollust des Sichversenkens, die mit völliger Gleichgültigkeit gegen die Umwelt verbunden ist. Pater Desiderio hatte sie überzeugt, daß ihre protestantisch geschlossene Ehe ein verwerfliches Konkubinat sei; Sünde, für die es keine Absolution gäbe; seitdem hatte sie sich von ihrem Gatten entfernt, und so, daß sie zu schaudern anfing, wenn sie bloß seinen Schritt vernahm. Es hatte den Anschein, als wolle er es nicht wissen und nicht sehen, als wolle er den friedlichen Zustand nach außen hin, vielleicht auch um der Kinder willen, solang wie möglich aufrechterhalten; doch lang konnte es nicht mehr dauern; der Bruch war unvermeidlich; die Folgen mußten für alle Beteiligten schmerzlich sein.

Anna Faber überließ sich hier keiner schönfärbenden Täuschung. Zu tief hatte sie die Wandlung der Tochter erkannt; zuviel Aufschluß hatte sie gewonnen aus Klaras Wesen und aus leidenschaftlichen Geständnissen; deshalb war ihr Bericht auch von einer gewissen Ergebung getragen; sie hatte soviel Entscheidendes von Verwirrung, Umkehr und Fall ihrer Kinder erlebt, daß sie sich endlich als hilflos Besiegte erklären mußte.

Eugen hörte zu, und so sorgenvoll-gespannt ihn auch die Mutter anschaute, er fand kein Wort des Trostes oder nur des Bedauerns.

Anna Faber schüttelte schwermütig den Kopf. Plötzlich erblaßte sie und sagte: »Ich glaube, da ist Hermann.«

Es war aber nicht Hermann Hergesell, sondern Fleming. Er kam mit Christoph herein, den er mit liebevoller Miene an der Hand führte und der in kurzer Zeit eine Menge der schwierigsten Fragen an ihn gerichtet hatte. »Weißt du, mein Bübchen«, sagte er, »das muß ich erst mal alles nachlesen. Das sind Dinge, bei denen man nicht schwadronieren darf. Die Sonne ist ein Stern. Zweifellos kann man sie einen Stern nennen. Trotzdem ist es die Sonne. Es gibt noch viele Sonnen unter den Sternen, aber welche und wie sie heißen, da muß ich erst meine Bücher durchstudieren.«

»Warum so feierlich schwarz, Fleming?« fragte Faber, als der Knabe gegangen war.

»Ich war bei ihrem Begräbnis«, erwiderte er; »sie war einmal meine Schülerin, die Olga Veit. Vor ein paar Jahren, als ihre Eltern noch wohlhabend waren, habe ich sie im Griechischen unterrichtet. Ein feines Geschöpf.«

»Olga Veit? Begräbnis? Was sprichst du?« fragte Faber erstaunt.

»Weißt du denn nicht –?« wunderte sich Fleming; »ich dachte, du weißt. Die Geliebte von diesem Baltesser. Vorgestern hat sie Veronal genommen. Er hat sie einfach zertreten, dieser ... Baltesser. Die zweite in ein paar Wochen. Eine hat sich vom vierten Stock heruntergestürzt. Es gibt solche Frauenmörder. Sie machens zum Metier. Sonst ist wenig los mit ihnen. Es sind die einzigen Mörder, die ich guillotinieren ließe, wenn ich was zu sagen hätte.«

Vor Fabers nach innen gewendeten Blick erstand zweifellos das Bild der jungen Schwangeren, wie sie in sklavinnenhafter Unterwürfigkeit sich auf die Schulter ihres Geliebten lehnte, und wie der in verächtlicher Gleichgültigkeit, die schlimmer war als Züchtigung, sich das demütige Anschmiegen gerade noch gefallen ließ. Er sagte aber nichts weiter, schlug nur vor Fleming die Augen nieder.

Die Miene Flemings verriet, daß er bis zur Bedrängnis erfüllt war von Worten, von Mahnungen und Vorhaltungen; daß ihn die Sorge um den Freund und die an ihm erlittene Enttäuschung hergetrieben hatte, daß er vielleicht noch auf der Stiege draußen genau gewußt hatte, was er sagen und was auf Eugen Eindruck machen mußte. Sei es nun, daß Anna Fabers Gegenwart ihn hinderte und in Verlegenheit setzte, sei es, daß ihn Eugens starre und ablehnende Haltung einschüchterte, er setzte sich bescheiden, ja fast furchtsam auf einen Stuhl in die Ecke und beschäftigte sich schweigend damit, die Gläser seiner Brille zu putzen. Als Anna Faber sich verabschiedet hatte, ließ er von Zeit zu Zeit ein zaghaftes Räuspern hören, doch Eugen achtete dessen nicht. Wenn er die Augen erhob und Fleming wie einen schwarzen Schatten an der Wand gewahrte, schien der Blick zu fragen: Was willst du von mir? Es war, als ob sich der ganze Fleming in eine stumme Anklage verwandelt hätte.

»Ich mache dich aufmerksam, daß Hermann Hergesell alsbald hier erscheinen wird«, sagte Faber endlich. »Das soll nicht bedeuten, daß ich dich wegwünsche. Im Gegenteil, es ist mir sogar angenehm, wenn du bleibst. Mich genierst du nicht; wenn du ihn genierst, mag er sich beschweren; wir werden dann sehen. Ich lege jedenfalls keinen Wert auf ein Gespräch unter vier Augen. Außerdem scheinst du doch Erklärungen von mir zu erwarten; vielleicht kannst du bei der Gelegenheit etwas für dich herausnehmen. Ich weiß nicht; vielleicht. Ich weiß nicht, ob ich dem Manne nicht sagen werde: dort, mein Bester, hat der Zimmermann das Loch gebaut.«

»Tu das nicht, Eugen«, sagte Fleming: »das ist bequem. Du bist Argumente schuldig, nicht Brutalitäten.«

»Pah, Argumente«, erwiderte Faber, wie wenn ihn ekle.

Es klopfte, und ohne die Aufforderung abzuwarten, trat Hergesell ein. Die schmale kleine jünglingshafte Gestalt, fast geräuschlos gehend, wirkte etwa wie ein eiliger Bote, der eine Nachricht zu überbringen hat, um wieder zu verschwinden. Dennoch stand er unverrückbar und energisch in der Mitte der Stube, mit kurzsichtigen blauen Augen bald auf Faber, bald auf Fleming blickend. Er trug einen eleganten Ulster, der zugeknöpft war und seine Figur noch schlanker und unerheblicher erscheinen ließ. Über den Schuhen hatte er hellbraune Gamaschen, um den Hals einen seidenen blaugestreiften Schal. Den Hut hielt er mit steifer Gebärde in der Hand. Überhaupt war etwas unerbittlich Steifes an ihm, das Faber ein verstecktes Lächeln abnötigte.

»Ich habe Freund Fleming gebeten, unserer Unterhaltung beizuwohnen«, sagte Faber in spöttischem Ton. »Das heißt, Unterredung ist wohl ein übertriebener Ausdruck. Meine Mutter hat vorhin die Vermutung geäußert, Sie hätten eine Mitteilung für mich. Ich bin ganz Ohr.«

Hergesell schien zu überlegen. Er gehörte zu den Männern, deren Verhalten sich nach einem ungeschriebenen Kodex regelt, der lediglich unter denen gilt, die sie für ihresgleichen erachten. Er sagte, ohne rechte Festigkeit, was ihn offenbar selbst beirrte: »Ja. Es ist richtig. Ich komme, um Rechenschaft von Ihnen zu verlangen, Eugen. Da Sie doch nun einmal der Bruder meiner Frau sind. Ich finde, es ist notwendig zur Klarstellung der verwandtschaftlichen oder vielmehr der gesellschaftlichen Beziehung. Sie werden mich verstehen.«

»Freilich verstehe ich«, antwortete Faber, ohne den spöttischen Ton fallen zu lassen. »Da ist doch weiter keine Kunst dabei. Ich habe mich nach Ihrer Meinung politisch kompromittiert, und da wäre es Ihnen lästig, den Verkehr mit mir fortzusetzen. Begreif ich vollständig. Sie hätten sich nicht persönlich zu bemühen brauchen. Schade, daß Sie sich bemüht haben. Eine schriftliche Mitteilung hätte genügt. Wozu soviel Höflichkeit?«

Auf den farblosen Wangen Hergesells zeigten sich zwei rote runde Flecke. »Politisch kompromittiert nennen Sie das?« versetzte er mit verachtungsvoller Würde; »ich nenne das anders. Ich nenne es sich wegwerfen, sich besudeln, die öffentliche Erklärung abgeben, daß man darauf verzichtet, unter die Kulturmenschen gezählt zu werden. Ich nenne es ein Attentat am Volk und ein Verbrechen an uns und unsern Kindern. Und nur deshalb bin ich gekommen, weil ich mich verpflichtet fühlte, es mir aus Ihrem eigenen Mund bestätigen zu lassen. Machen Sie wenigstens keinen Hohn daraus, daß ich nicht leichtfertig gehandelt habe.«

Die Hände in den Taschen, ging Faber eine Weile stumm auf und ab. Dann begann er: »Ich will Ihnen einmal was sagen, Schwager Hergesell. Sie sind ein Mann der Überzeugungen. Ihre Überzeugungen in Ehren; das sind stählerne Waffen im Kampf des Lebens. Ich bin ein Mensch der Anschauungen und werde von allem, was ich anschaue, was mich anschaut, entwaffnet. Wir stehen nicht auf dem gleichen Boden; wir können uns miteinander nicht verständigen; aus jedem von uns redet eine andere Welt. Es sind verschwendete Worte, Ihre sowohl wie meine. Warum wollen Sie mir also eine Bestätigung abzwingen, die schließlich doch nicht das bedeuten würde, was Sie in ihr sähen? Ich will keine Feindschaft, ich will keine Freundschaft; lassen wir doch die Dinge, wie sie sind.«

»Das kann ich nicht«, entgegnete Hergesell und warf den Kopf zurück; »es ist Frage der Reinlichkeit für mich, Frage der Säuberung.«

Faber wiegte sich auf gekretschten Beinen. »Hm«, sagte er; »sonderbar. Was für eherne Charaktere es doch gibt. Da kann man sich nicht wundern, daß die Funken spritzen, wenn sie zusammenstoßen. Aber ich weigere mich, mit Ihnen zusammenzustoßen, Hermann Hergesell. Meine Gesinnung ist friedlich. Ich fahre auf ein anderes Geleise. Denn sehen Sie, die ganze Sache hat mit Politik nicht das mindeste zu schaffen. Merk dirs, Fleming, das ist für dich gesagt, nicht für ihn. Er meint vielleicht, weil er Klaras Gatte ist, ich hänge den Mantel nach dem Wind. Aber Klara ist für mich verloren so gut wie alle anderen und alles andre. Ich kann den Mantel nicht mehr hängen, der Wind hat ihn mir fortgeweht. Die Leute, die er«, dabei wies er in finster-zorniger Weise mit dem Daumen auf Hergesell, »zum Anlaß nimmt, um von Säuberung und Reinlichkeit zu sprechen, haben mich auf der Gasse aufgelesen wie einen Haufen Kehricht. Ahnungsvolles Gemüt, mein Schwager, Mann meiner Schwester. Ich bin keine Beute für sie gewesen, auf die sie stolz sein durften; sie konnten mich am kleinen Finger hinter sich herschleifen, sie konnten mit mir anstellen, was sie wollten. Was haben mich ihre Absichten geschert? die Rachepläne gegen eure Gesellschaft? oder ihre Parteiintrigen? nicht soviel, wie durch zusammengebissene Zähne geht. Als Kind habe ich gezündelt, wenn ich allein im Zimmer war. Mein kleiner Christoph bringt in solchem Falle die Uhr zum Stehen. Der eine so, der andre so. Nehmt an, daß ich gezündelt habe. Bis jetzt hats ja bloß bei Hergesells Feuer gefangen. Wird zu löschen sein.«

»Eugen, Eugen«, murmelte Fleming schmerzlich.

»Ich weiß nicht, wie ich derlei Reden aufzufassen habe«, sagte Hergesell mit einer Miene, die beleidigend gewesen wäre, wenn Faber dafür Sinn und Auge gehabt hätte; »man ist verantwortlich für seine Handlungen, oder man ist es nicht. Ein drittes kommt nicht in Betracht. Was gedenken Sie zu tun?«

»Nichts«, entgegnete Faber ruhig; »was soll ich tun? Haben Sie am Ende ein Protokoll in der Tasche zum Unterschreiben? Vielleicht unterschreib ich. Ist das nicht alles ganz verflucht gleichgültig?«

»Ich sehe wohl, worauf es hinaus will«, sagte Hergesell frostig; »es ist ein System bei Ihnen. Ungefähr wie wenn jemand hofft, vor Gericht für unzurechnungsfähig erklärt zu werden.«

Auch diese Beleidigung überhörte Faber. »Ging es um die Wahl im Ernst«, sprach er trüb und trocken, »das heißt, würde mir einer befehlen, den ich zu fürchten hätte: rechts oder links, Eugen Faber, Hergesell oder Baltesser; ich schwankte nicht lang. Ihr habt euerm Stimmvieh gut vorschwatzen, daß ihr hohe Ideen und nationale Heiligtümer aufrichten wollt; es ist ein oft gekauter Fraß, den ihr ihm auf den Tisch setzt. Da es ihn gehorsam hinunterschlingt, habt ihr recht. Nur bildet euch nicht ein, daß das, was dann Hoch und Hurra schreit, und euch den Hokuspokus glaubt, das Volk ist oder gar die Nation. Ihr seid eine Phalanx von Professoren, Hofräten und Generälen, und die euch den Begeisterungsschwindel vorspielen, ist die traurige Masse derer, denen ihr ein Jahrhundert lang eingetrichtert habt, daß Professoren, Hofräte und Generäle die Blüte des Vaterlandes sind. Volk, o Gott. Volk ist etwas anderes. Wenn ich mich unters Volk mische, spür ich es wie einen einzigen Leib, spüre, wie dieser Leib zuckt und sich windet und kein Ende sieht der Qualen und nur für seinen armseligen Bissen Brot zittert. Deutsches Volk; wo bist du? wo hast du dich verkrochen und verborgen vor den Peinigern deines eigenen Stammes, den Lügenpropheten und gelehrten Schwärmern, die dir vorn ein Stück Zucker reichen, während sie hinten dafür sorgen, daß du brav und still deine zentnerschweren Lasten weiterschleppst? Fürs Volk schaffen, im Volk wirken; ja das wäre ein Traum, ein schöner deutscher Traum; aber wo ist es, das Volk? wo ist sein Gesicht? wie kann es mich sehn und hören? Es sieht nicht und hört nicht. Es läßt mit sich geschehen, was die Herren auf dem Katheder droben beschließen; es weiß ja von der Schule her, daß, was die tun, wohlgetan ist. Das sitzt im Blute, daran ändert keine Revolution was. Jeden Tag erleb ichs, seit ich wieder daheim bin, und es ist wahrlich bitter, zuschauen zu müssen. Ists da nicht praktischer und redlicher, man schlägt sich zu den Baltessern, wenn mans überhaupt für der Mühe wert hält, sich irgendwohin zu schlagen? Die wollen doch wenigstens aufräumen mit dem ganzen Plunder. Auch denen kommts auf Blut und Jammer nicht an; aber da ist keine Heuchelei dabei; da steht die Bestie in ihrer nackten Gräßlichkeit vor einem. Es ist, wie wenn man auf einem Schiff vierundzwanzig Stunden an den Pumpen gearbeitet hat; geht es dann endlich unter, so fühlt man sich erleichtert, und es ist Schluß.«

Bei den letzten Worten war seine Stimme leiser geworden, denn Martina war ins Zimmer getreten. Mit stillem, fast gläubigem, wider Willen gläubigem Ausdruck in dem blassen Gesicht, einer Gläubigkeit, die seiner Person galt, nicht dem, was er sagte, hatte sie zugehört. Nun näherte sie sich ihm und reichte ihm einen Brief. Verwundert betrachtete er ihn, riß ihn auf und las: »Schwester Benigna bittet Eugen Faber aufs herzlichste, sie zu besuchen.« Es war eine große, klare Handschrift. Daß Schwester Benigna die Fürstin war, wußte er.

Er schien unschlüssig, obwohl es hier keine Unschlüssigkeit für ihn geben konnte.

»Du mußt jetzt mit mir gehen, Eugen, jetzt sogleich«, sagte Martina mit so ernstem Nachdruck, daß er nicht länger zu zaudern wagte. Sie brachte ihm sogar den Mantel herein; er zog ihn an, und sie gingen. Fleming und Hergesell folgten ihnen bis vors Haus. Dort schlug jeder eine andere Richtung ein.


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