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Durch den Gichtanfall mehrere Tage lang am Ausgehen verhindert, hatte Anna Faber auch ihren Enkel Valentin nicht sehen können. Bis jetzt hatte sie ihn fast täglich besucht, oder sie hatten sich in einem Kaffeehaus getroffen. Nachdem er von Hermann Hergesell aus dem Hause gewiesen war, hatte Valentin zuerst in einem zweifelhaften Quartier Unterkunft gefunden. Mit vieler Mühe, und indem sie sich mit einigen Persönlichkeiten von wenig vertrauenswürdiger Beschaffenheit in Verbindung setzte, war es ihr gelungen, diese Zufluchtsstätte zu entdecken. Der junge Mensch, der daran gewöhnt war, bei allen seinen teils törichten, teils gefährlichen Abenteuern auf den nachsichtigen Schutz der Großmutter zu zählen, hatte eine Weile auch mit ihr getrotzt, war aber nun recht froh darüber, daß ihre beharrlichen Nachforschungen sie zu ihm geführt hatten, fast so froh wie Anna Faber selbst. Sie verschaffte ihm eine anständige Wohnung bei einer früheren Bekannten, einer Hauptmannswitwe, und zahlte für drei Monate voraus den Mietzins.
Kurz bevor sie bettlägerig geworden, hatte er sie wegen einer Schuld zu quälen begonnen, die er nach seinem zerknirschten Geständnis leichtsinnig aufgenommen und zu einem bestimmten nahen Termin begleichen sollte. Er wußte die Umstände so dringend, seine Lage so bedroht darzustellen, daß Anna Faber in lebhafte Unruhe geriet und sich an alle möglichen Leute um Geld wandte. Unter andern auch an Eugen. Die Unruhe wuchs, während sie ans Zimmer gefesselt war, und sie beschloß, ihn an dem Abend, an welchem Hermann und Klara auf dem Fest bei der Familie Hergesell waren, zu sich kommen zu lassen. Es war im Notfall möglich, ihn telephonisch zu benachrichtigen, ein langwieriger Prozeß, bei dem sie außerdem viel Vorsicht aufweisen mußte, um nicht von Klara oder deren Mann belauscht zu werden. Damit er sie besuchen konnte, war es aber auch geboten, daß sie jemand von den Dienstleuten ins Vertrauen zog, und es gelang ihr mit Hilfe einiger kleiner Geschenke das Stubenmädchen zu überreden und zur Verschwiegenheit zu verpflichten.
Gegen neun Uhr abends kam er. Sie bewirtete ihn mit Tee und Süßigkeiten, und während er sichs munter schmecken ließ, fragte sie ihn nach dem Stand seiner Angelegenheit. Er jammerte und schimpfte; sie tröstete ihn und versprach Hilfe, sobald sie wieder das Bett verlassen könne. Um ihn von seinem Kummer abzulenken, erzählte sie ihm von dem Fest bei Hergesells und dem märchenhaften Diamantenschmuck, mit dem Clara bei diesem Anlaß in der Gesellschaft erscheine. Er horchte hoch auf. Er ließ sich den Schmuck beschreiben, und keine Einzelheit genügte ihm. Anna Faber seufzte. Nie hatte sie so unter dem Gefühl der Armut gelitten wie in diesem Augenblick, da sie in das begierig und erwartungsvoll glühende Gesicht des geliebten Knaben sah. Wenn sie einen solchen Schatz besäße, äußerte sie, brauchte er sich um Geld und Geldschulden nicht zu sorgen.
Er hatte stets Vorliebe für Schmuck und schöne Dinge gehabt; das gefiel ihr an ihm, und daher beantwortete sie ganz arglos die immer bohrender und eigensinniger werdenden Fragen, die er in einem Ton von kindlicher Naivetät an sie stellte. So fragte er zum Beispiel, wo Klara wohl die Juwelen aufbewahren würde, wenn sie heimkomme; ihm wäre da kein Schloß sicher genug, und ein eiserner Schrank sei doch seines Wissens nicht in der Wohnung. Anna Faber erwiderte beruhigend, Klara werde das Diadem ohne Zweifel morgen schon ihrer Schwiegermutter zurückbringen, und für die paar Stunden sei die Kommode in ihrem Schlafzimmer, wo auch ihr eigener Schmuck eingeschlossen sei, sicher genug. Dann erkundigte er sich nach dem ungefähren Wert des Diadems und erging sich in allerlei phantasievollen Projekten, was er beginnen würde, wenn ihm einmal etwas so Herrliches in die Hände fiele. Jedenfalls würde er es gut verstecken, sich nicht mucksen, sich vollständig unsichtbar machen, und es erst wenn Gras darüber gewachsen sei, in einem andern Land zu Geld machen. Ergötzt von seinen Prahlereien und nicht ganz einwandfreien Wunschträumen tätschelte ihm Anna Faber die Wangen und schickte ihn dann fort.
Das junge Paar kehrte erst um die Morgenfrühe heim. Klara blieb bis zum Mittag im Bett. Sie hatte die Absicht, am Nachmittag der Regierungsrätin den Schmuck abzuliefern, doch es wurde vier Uhr, ehe sie mit ihrer Toilette fertig wurde, dann kam Pater Desiderio und blieb bis fünf, und da sie unaufschiebbare Besorgungen in der Stadt zu machen hatte, telephonierte sie ihrer Schwiegermutter und bat sie, ihr das Diadem erst morgen bringen zu dürfen. Ihrem Mann, der einige Freunde zum Tee hatte, sagte sie nichts davon. Sie liebte es überhaupt nicht, ihre Angelegenheiten mit ihm zu erörtern, da ihr seine Umständlichkeit und sein mißtrauisches Inquirieren verhaßt war.
Anna Faber hörte die Tochter, begleitet von der Erzieherin und den beiden Kindern, die Wohnung verlassen. Sie war eben vom Bett aufgestanden, um einige Gehübungen zu machen, da öffnete sich die Tür und Valentin schlüpfte ins Zimmer. Er warf sich ihr sogleich an den Hals und erstickte ihre Vorwürfe und die Ausrufe ihrer Besorgnis mit Zärtlichkeiten. Dafür war sie sehr empfänglich, und sie fragte ihn im Flüsterton ängstlich nach dem Grund seines Kommens. Er erwiderte, ebenfalls flüsternd, er habe Sehnsucht nach ihr gehabt, nur deswegen sei er gekommen, es sei ihm auf einmal so bang geworden, und da habe er sich in den Kopf gesetzt, sie aufzusuchen. Dies befremdete sie zwar, aber sie wünschte es zu glauben, und so glaubte sie es.
Er erzählte ziemlich erregt, er habe schon stundenlang vor dem Haus gelauert; er habe das Stubenmädchen abgepaßt; die habe ihm gesagt, die junge Frau sei heute noch nicht ausgegangen, werde aber gegen fünf Uhr fortgehen. Der Herr bleibe wahrscheinlich ganz zu Hause. Nun habe er gewartet, bis Klara aus dem Tor getreten; habe sie und die Kinder sogar ein Stück Wegs verfolgt, um zu sehen, wohin sie ging und um daraus einen Schluß ziehen zu können, wie lang sie fortbleiben würde. Zu spät erst erkannte Anna Faber die Schlauheit der Berechnung in all den Vorbereitungen. Er wußte natürlich, wo Hergesells Eltern wohnten, und da er sich überzeugt hatte, daß Klara eine andere Richtung einschlug, konnte er fast mit Sicherheit darauf zählen, daß sich der Schmuck noch in ihrem Zimmer befand. Nur Hermann Hergesell war noch zu fürchten. In der Tat hatte er vor diesem gewaltige Angst, und als ihn Anna Faber fragte, wie er denn habe wagen können, die Wohnung zu betreten, da er doch Onkel Hermann zu Hause gewußt, der gedroht hatte, ihn ins Zwangsarbeitsheim schaffen zu lassen, falls er ihn je wieder in seinem Haus beträfe, und bei seiner eiskalten Unerbittlichkeit diese Drohung auch ausführen würde, erwiderte Valentin, als ob er nun gezwungen sei, die wahre Ursache seines Besuchs zu nennen, es könne sein, daß er für längere Zeit verreisen müsse, um sich vor seinem Gläubiger zu flüchten, und da habe er von der Großmutter Abschied nehmen gewollt. Umsonst versuchte ihm Anna Faber dies auszureden; er beharrte dabei, daß es notwendig sei und versprach nur, ihr so bald wie möglich zu schreiben. Er beschwor sie auch, ihn um keinen Preis zu verraten; auch daß er bei ihr gewesen, dürfe sie keiner Menschenseele anvertrauen; es hänge vielleicht sein Leben davon ab. Sie sagte es ihm zu, gelobte es ihm sogar, eingeschüchtert durch sein Bitten und Drängen, und bei all seiner Raffiniertheit war er einfältig genug, sich von dieser Seite her für gesichert zu halten. Während dieser Gespräche wurde er zusehends aufgeregter, öffnete einige Male die Tür, um hinauszuhorchen, ob Hergesells Stimme zu vernehmen war, schrak heftig zusammen, als eine andre Tür aufging, dann sagte er, er wolle sich in die Küche schleichen und sich von der Köchin ein paar Äpfel geben lassen; er habe vorhin so hübsche Äpfel auf der Anrichte gesehen. Anna Faber verwies ihm den Mutwillen, (dabei zitterte er jedoch, wie sie deutlich sah), machte sich erbötig, ihm die Äpfel zu bringen, aber das wollte er nicht und schlich auf Zehen hinaus, indem er der Großmutter lächelnd zuwinkte und sie durch Gesten aufforderte, ihn gewähren zu lassen. Es dauerte sechs oder acht Minuten, ehe er zurückkam. Diese Zeit dünkte Anna Faber eigentümlich lang, und als er wieder ins Zimmer huschte, war er ganz blaß, anscheinend vor Schrecken, und sagte, es sei jemand vor der Küche gestanden und er habe sich im Gang hinten versteckt. Dann küßte er der Großmutter die Wangen und die Hände und verabschiedete sich in größter Hast. Anna Faber brauchte lange Zeit, um sich von ihrer Bestürzung und Beklommenheit zu erholen.
Als Klara nach Hause kam, war sie sehr müde, nahm nur einen kalten Imbiß zu sich und ging gleich zu Bett. Erst um acht Uhr morgens, nach dem Aufstehen, ging sie an ihre Kommode und machte sofort die Wahrnehmung, daß die mittlere Lade nicht mehr versperrt und das Schloß aufgebrochen war. Sie riß die Lade heraus; das Diadem war verschwunden. Sie fühlte eine solche Schwäche in den Beinen, daß sie sich auf den Fußboden setzen mußte; gleichwohl schwindelte ihr noch immer, und sie hielt sich an einem Stuhlbein fest. So jäh sie auch begriff, daß keine Minute zu verlieren war, so ratlos war sie, an wen sie sich wenden sollte. Die ganze Gräßlichkeit ihrer Lage stand ihr bereits in der Sekunde der Entdeckung vor Augen. Mit Aufwand aller Kräfte erhob sie sich und wankte in das Zimmer der Mutter. Sie schloß die Tür, lehnte sich mit dem Rücken daran und stieß in rauhem Gurgeln die Worte hervor, die das geschehene Unglück enthielten. Anna Faber schlug die Hände zusammen und preßte sie dann auf den Mund. »Schlag keinen Lärm«, raunte Klara mit finster-wildem Blick; »Hermann darf nichts wissen. Wenn Hermann es erfährt, stürz ich mich aus dem Fenster. Rate mir; was soll ich tun? Es kann nur gestern nachmittag geschehen sein, während ich fort war. Wer war im Haus? Meine Leute sind ehrlich. Hast du jemand gesehen oder gehört?«
Da wurde es licht in Anna Fabers Kopf. Sie stieß einen heisern Schrei aus und fiel mit der Stirn auf ihr Bett. Klara sprang hinzu, hoffnungsartige Mutmaßungen wirbelten durch ihr Gehirn; sie rüttelte die Mutter an den Schultern, und Anna Faber, gebrochen, verstört, verzweifelt, murmelte den Namen Valentin durch die Zähne. »So gesteh, so erzähle!« herrschte Klara sie an und richtete sie mit feindseliger Gewalt empor. Anna Faber erzählte.
»Sofort in seine Wohnung«, zischte Klara, ohne sie zu Ende erzählen zu lassen; »du weißt, wo der Halunke wohnt; sofort mach dich fertig. Und kein Wort. Kein Wort vor den Mädchen; keinen Laut vor Hermann. Ah das könnte ihm passen! Das Familiendiadem weg und Klara die Schuldige! Das könnte ihm passen. Klara auf Lebenszeit gedrückt, auf Lebenszeit reuige Sünderin. Und wenn der Bursche entwischt ist, wenn der Schmuck nicht zum Vorschein kommt, Mutter, dann gibts eine furchtbare Abrechnung, das sag ich dir. Also schnell, schnell, schnell; versuch, ob du gehen kannst; es muß sein, es gibt kein Nichtkönnen.«
So hatte Anna Faber die Tochter noch nicht gesehen. Was kam da zum Ausbruch an Verhehltem, an bitterstem Groll, an Ehelast und Ehequal! Sie hatte zwar immer geahnt und gespürt, daß Klaras Zusammenleben mit ihrem Mann brüchig war bis in den Kern, aber sie hatte Klara für eine kühle, häusliches Ungemach mit verachtendem Stolz bezwingende Natur gehalten. Nun schleuderte ein weibgewordener Vulkan seine heiße Lava über sie, und sie erbebte, verkroch sich angstvoll und schwieg.
In fünf Minuten war sie angezogen. Klara hatte unterdessen nach einem Auto geschickt. Glücklicherweise hatte Hermann Hergesell schon um sieben Uhr das Haus verlassen; er hatte Reitstunde heute; so entgingen sie der Gefahr, ihm Rede stehen zu müssen. Eine halbe Stunde später befanden sich beide Frauen vor der Kammer, in der Valentin logierte. Die Vermieterin, eine weißhaarige hinkende Frau, die diensteifrig herbeigeeilt war und Anna Faber lärmend begrüßte, sagte ihnen, der junge Herr schlafe noch; er schlafe seit zwölf Stunden; er sei am frühen Abend heimgekommen, habe sich von ihr das Nachtessen bereiten lassen und ihr mitgeteilt, daß er heute für ein paar Wochen verreisen werde; um Mittag käme ein Freund zu ihm, mit dem gemeinschaftlich er die Reise antreten wolle.
Klara verlangte keine weiteren Erklärungen und gab auch keine. Sie klopfte mit der Faust an die versperrte Tür, daß es durch das Haus dröhnte. Anna Faber zog die Hauptmannswitwe beiseite und flüsterte ihr mit aufgerissenen Augen zu, ihr Enkel habe sich ein wichtiges Dokument angeeignet, das man von ihm herausbekommen müsse; ein unbesonnener Streich, der nicht viel zu bedeuten habe; sie möge sich nicht darum kümmern und ruhig in ihre Stube gehen. Damit wurde sie die unangenehme Zeugin eines Auftrittes los, der ebenso häßlich wie für alle Beteiligten beschämend werden mußte.
Es dauerte nur kurze Zeit, bis auf das donnernde Pochen die Tür geöffnet wurde. Aber es war keineswegs ein aus dem Schlummer Geweckter, der sie aufmachte; der junge Mann war vollständig angekleidet und, wie es schien, eben im Begriff gewesen fortzugehen. Auf dem Tisch lag sein Mantel und sein Hut; daneben stand eine lederne Reisetasche. Er wurde leichenblaß, als er Großmutter und Tante vor sich sah. Klara, mit verschränkten Armen und keine Bewegung Valentins aus dem Auge lassend, verstellte sofort die Tür; Anna Faber jedoch tat das verkehrteste, was sie tun konnte; sie stürzte auf Valentin zu und bat ihn mit erhobenen Händen um Rückgabe des Schmucks. Bei seiner Ehre und dem guten Namen der Familie, bei ihrer Liebe zu ihm und um seiner Zukunft willen beschwor sie ihn, den Folgen seines Verbrechens durch tätige Reue zuvorzukommen. Während ihres Redestroms gewann Valentin Zeit zur Überlegung. Er nahm eine Miene an, als fasse er nicht, was sie von ihm wollte, wessen sie ihn bezichtigte. Erst schien er ungläubig, dann zeigte sich helles Entsetzen in seinem Gesicht; vom Standpunkt der Schauspielerei aus betrachtet keine üble Leistung. »Was? ich soll das getan haben?« rief er, und seine Augen blitzten vor Empörung; »ich? ja wann denn? wie denn? wo denn? ich soll ein Dieb sein? wie kommt ihr denn darauf? freilich, weil ich schutzlos bin, weil ich niemand hab, weil ich eine Waise bin, weil ich nicht einmal einen ehrlichen Vatersnamen von euch bekommen hab, da darf man mir jede Schlechtigkeit zumuten. Aber ich will nicht, ich will nicht, ich werd mein Recht schon finden, ich werd mich schon meiner Haut wehren, das sollt ihr sehen.«
Offenbar glaubte er, indem er so tobte und Tränen vergoß, Eindruck auf seine Großmutter zu machen und den Verdacht von sich abzulenken. Anna Faber wurde in der Tat irre durch das Bild beleidigter Unschuld, das er bot, und schaute die Tochter ratlos an. Klara hatte noch keine Silbe geäußert. Mit finsterem Hohn, die Lippen fest aufeinandergepreßt, betrachtete sie den Neffen. Ohne sich von der Türe wegzurühren, sagte sie, und jedes Wort klang wie mit dem Messer geschnitten: »Ich fürchte, Mutter, wir werden bei diesem Lügenschüppel allein nicht viel ausrichten. Die Hauptsache ist, daß ich ihn in Gewahrsam habe und daß er mir nicht entwischen kann. Der Wagen steht noch unten; fahr du so schnell wie möglich zu Eugen und hol ihn. Derweil steh ich hier Posten, und Gott gnade dir, Bursche, wenn du nur muckst.« Valentin warf einen scheuen Blick auf sie; ihr Wesen und ihre Haltung flößten ihm entschieden Furcht ein, und er geriet dieser eisigen Entschlossenheit gegenüber in Zweifel, ob er seine bisherige Taktik beibehalten oder auf andere Mittel zur Rettung sinnen sollte; das sah man ihm an.
Anna Faber gehorchte stumm. Sie bewegte sich und handelte ganz mechanisch. Als sie Eugen, den sie glücklicherweise noch zu Hause traf, das Geschehene berichtete, brach noch einmal der Schmerz über die getäuschte Liebe in heftiger, fast maßloser Weise aus. Sie warf sich in die Sofaecke und schluchzte. Eugen bemühte sich, sie zu beruhigen, und obwohl er ein nicht geschickter Tröster war, gelang es ihm, wenigstens ihrem lauten Jammer Einhalt zu tun. Durch das Vernommene ziemlich verwirrt und im Augenblick nicht recht wissend, wie er sich verhalten solle, ging er hinaus, um Fides zu suchen. Er traf sie in Christophs Stube beim Aufräumen; Christoph war schon in der Schule. In ein paar Worten teilte er ihr mit, was geschehen war und daß seine Mutter gekommen war, ihn zu Hilfe zu rufen. Es hatte den Anschein, als wolle er nichts unternehmen ohne ihren Rat, und in der ganzen Art, wie er ihr den Fall darlegte, war etwas, wie wenn er ihr zu verstehen geben wolle, welch unbegrenztes Vertrauen er zu ihr hege.
Sie sah vor sich nieder und sagte: »Es wird schwer sein, ihn zum Geständnis zu bringen. Da er sich ins Leugnen schon verbissen hat, kann er nicht mehr gut zurück. Man hätte das anders angreifen sollen.«
»Wie denn, Fides? Sprechen Sie doch. Es ist eine schreckliche Geschichte. Besonders für meine Schwester ...«
»Oft hat es merkwürdige Wirkung auf solche Menschen, wenn man sie rasch in eine fremde Umgebung bringt«, erwiderte sie; »da verlieren sie ihre Sicherheit und verraten sich leichter. Führen Sie ihn doch hierher. Behalten Sie ihn einstweilen unter Ihren Augen.«
Er nickte zustimmend. Eine freudige Hochachtung war in dem Blick, mit dem er sie anschaute.
Wenige Minuten später saß er mit der Mutter im Auto. Als sie die düstere, längliche Kammer betraten, bot sich ihnen folgendes Bild. An dem einen Ende, neben der Tür, hatte Klara auf einem Stuhl Platz genommen und saß regungslos, die Arme über der Brust verschränkt, ohne Farbe im Gesicht, den Blick starr geradeaus gerichtet; am andern Ende, auf dem Rand des ungemachten Bettes, saß Valentin, eine Zigarette im Mundwinkel und angelegentlich mit dem Schneiden seiner Fingernägel beschäftigt. Kaum aber war er Fabers ansichtig geworden, den er seit mehr als sechs Jahren, als er noch nicht zehn Jahre alt gewesen, nicht gesehen hatte und sogleich wiedererkannte, so erhob er sich, lächelte mit wirklich bestrickender Liebenswürdigkeit, ging ihm einige Schritte entgegen und bot ihm die Hand. Er hatte den schrägen oder schiefen Blick genau wie auf der Photographie, die in Anna Fabers Zimmer stand. Im übrigen war Faber betroffen von der beinahe mädchenhaften Anmut der Züge. Die Ähnlichkeit mit seinem Vater war so groß, daß Eugen mit einer Regung des Schreckens den Bruder wie leibhaftig vor sich sah. Sicherlich hatte diese Ähnlichkeit zu der überschwenglichen Liebe Anna Fabers beigetragen, denn Roderich war ihrem Herzen noch immer, so viele Jahre nach seinem Tod, der nächste.
Faber tat, als bemerke er die dargereichte Hand nicht, und Valentin zuckte traurig-resigniert die Achseln. Er trug einen eleganten grauen Herbstanzug mit sorgfältig gebügelter Hosenfalte, braunseidene Strümpfe zu braunen Halbschuhen und eine violette Krawatte in untadelhafter Knüpfung. Der noch nicht sechzehnjährige Mensch in dieser Lebemannskleidung und -haltung hatte trotz seines bestrickenden Wesens etwas Affenhaftes und Verderbtes.
»Mach dich fertig und geh mit mir«, sagte Faber kurz. »Und ihr«, wandte er sich an Klara und die Mutter, »durchsucht die Stube aufs genaueste, jeden Winkel, das Bett, den Fußboden, die Wände, die Kleider und die Reisetasche dort. Ich werde euch bei mir zu Hause erwarten. Das Weitere wird sich dann finden.«
Clara stand auf; Valentin nahm Hut und Mantel, sah Faber treuherzig-fragend in die Augen und folgte ihm widerspruchslos. Zuerst, auf dem Flur, schritt er hinter Faber, doch dieser bedeutete ihn durch einen herrischen Wink, sich an seiner Seite zu halten. Als sie die drei engen Treppen hinabgestiegen waren und in den Hausflur kamen, stürzte Valentin plötzlich mit blitzschneller Bewegung voraus; augenscheinlich hatte er mit dieser Gelegenheit zur Flucht gerechnet; aber er hatte Fabers Aufmerksamkeit und Vorsicht unterschätzt; er hatte noch nicht zwei Schritte gemacht, als ihn Faber mit eisernem Griff an der Schulter gepackt hatte. Er sprach kein Wort. Valentin hatte wieder das traurig-resignierte Achselzucken, doch seine Miene wurde nach und nach finster.
Er drückte sich in die Ecke des Wagens und grub die Hände in die Manteltaschen. Der steife runde Hut war tief in die Stirn geschoben. Beim Aussteigen legte sich wieder der eiserne Griff um seinen Arm; das Auto schickte Faber zurück, damit die beiden Frauen es benutzen konnten; auf der Treppe ließ er Valentin vorausgehen; oben angelangt, im Eßzimmer, wies er stumm auf einen Stuhl; Valentin setzte sich, und Eugen wählte den Platz so, daß ihm keine seiner Bewegungen entgehen konnte. Fides schien nicht zu Hause zu sein; um diese Stunde besorgte sie gewöhnlich die Einkaufe für die Wirtschaft. Auf seinem Gesicht malten sich Ekel und dumpfe Erregung, die von den äußerlich gespannten Umständen herrührte. Er richtete kein Wort an den Neffen. Vom gestrigen Abend her lag noch der Cardano auf dem Tisch; er schlug das Buch auf und versuchte zu lesen.
Valentin hatte den Mantel nicht ausgezogen. Den Hut hielt er auf den Knien und drehte ihn langsam zwischen den Händen. Er schaute in den Regen hinaus, und die nach unten geschwungenen Lippen zuckten bisweilen böse. Mehrmals langte er nach der Zigarettendose an die Westentasche, wagte es aber offenbar nicht, zu rauchen. Wieder nach einer Zeit legte er den Hut auf die Sofalehne und schwang ein Bein übers andere, um sich ein unbefangeneres Aussehen zu geben. Dann nahm er die ledernen Handschuhe heraus, strich sie auf dem Knie glatt und rundete den Mund wie zum Pfeifen. Es war zu merken, daß ihm das Schweigen vollständig unerklärlich, ja geradezu unheimlich war. Immer häufiger und scheuer kehrte sich der schiefe oder schräge Blick gegen den stumm sitzenden Faber.
So verflossen anderthalb Stunden. Endlich schellte die Eingangsglocke. Das Küchenmädchen öffnete. Anna Faber und Klara traten ins Zimmer. Ein Blick genügte Faber, um zu wissen, daß ihre Nachforschungen vergeblich gewesen waren. Anna Faber setzte sich erschöpft in eine Ecke. Klara trat vor den Bruder hin und sagte: »Nichts. Wie vorauszusehen war. Bevor wir weggingen, ist der gewisse Jemand gekommen, mit dem das Bürschchen wahrscheinlich seine Vergnügungstour machen wollte. Eine Weiblichkeit. Geschminkt und parfümiert zum Übelwerden. Sie ist gewaltig erschrocken bei unserm Anblick und wollte wieder abpaschen. Ich habe sie mit dem Hinweis auf polizeiliche Einmischung bei der Quartierfrau interniert. Und du, Eugen, was hast du ausgerichtet?« Die Frage klang kategorisch. Faber erhob sich und antwortete: »Ich habe gewartet. Ich habs dir ja dort gesagt, daß ich auf euch warten werde.«
»Gewartet!« stieß Klara hervor, und ihre Züge hatten auf einmal einen unbeschreiblich wilden und verächtlichen Ausdruck; »gewartet. Worauf? Warum? Ich hab keine Zeit. Wenn ich nicht mit dem Hergesellschen Schmuck dieses Zimmer verlasse, dann geht mein Weg wo anders hin als nach Hause, daß ihrs nur wißt. Der Spaß hat dann aufgehört. Das eheliche Idyll mit schwiegerväterlicher Rente und schwiegermütterlicher honigsüßer Protektion ist aus. Es schleicht einer dort herum in meinem Hause, ein Feiertagsredner und Direktor der sittlichen Weltordnung, den der Dünkel aufplustert wie einen Frosch, wenn ich durch einen meines Blutes vor ihm gedemütigt bin. Laßt einen Theoretiker durch die Ereignisse recht behalten, und ihr habt die Hölle auf Erden. Herkunft, Zucht, Erziehung, Tradition, Ideale, das schwirrt euch nur so um die Ohren, und von früh bis abends fühlt ihr euch als der elende Dreck, der ihr seid, nicht wert, die Schuhriemen eines solchen nationalen Kulturträgers zu lösen. Und war das nur das ärgste! Wer kann aber aussprechen, was das ärgste ist? Zusammensein ohne Herz, ermeßt ihrs? Und die Furcht davor, Tag und Nacht die Furcht vor dem Schritt und vor der Stimme, und vor dem Wort, das man weiß. Wie gräßlich, die Furcht vor dem Wort, das man weiß, eh es noch gesprochen ist; mags gut oder böse sein, man verabscheuts. Ihr könnt freilich sagen: du hasts gewollt, du hasts auf dich geladen, es ist deine Sache und keines anderen. Das stimmt; wen soll ich für mein verfluchtes Leben verantwortlich machen als mich allein? Mich und meinen frechen Anspruch, und das Irrlichterieren, die Tollheit im Wünschen und, Gott verzeih mirs, das Alles-tun-dürfen und das Alles-sagen-dürfen. System, System. Da sitzt einer«, sie wies mit dem ausgestreckten Arm auf Valentin, »ein wahres Ausstellungsstück, eine Reklamenummer des Systems. Schau ihn dir nur an, Mutter; freu dich an deinem Werk. Ein herrliches Exemplar; nie hat unsere Familie was ähnlich Großartiges hervorgebracht. Regelrechter Dieb und Zuchthäusler, herrlich! Und alles durch Nachsicht, durch Güte, durch Aufopferung, durch seelisches Verständnis und Freiheit, all die schönen Dinge, aus denen uns der Feiertagsredner einen Strick dreht. Ach, ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr.«
Sie preßte die Handballen an die Schläfen und schüttelte mit geschlossenen Augen sekundenlang den Kopf. Die Beherrschte, grillig Spröde, in Gefühlsäußerung Karge so entfesselt zu sehen, erschütterte Faber. In seinen Augen malte sich der Schmerz über das Bild der Existenz, das dieser Ausbruch ihm verschaffte, und er stand da wie gelähmt. Dies vermehrte Klaras Erbitterung noch. »Was soll also geschehn?« herrschte sie ihn an; »willst du vielleicht auch einen Fußfall vor dem Galgenvogel tun? Das wird mir zuviel. Jetzt heißts: Entweder – oder, mein Bursche«, sie packte Valentin beim Kragen des Mantels und riß ihn mit solcher Kraft vom Stuhl, daß er auf die Knie stürzte; »her mit dem Raub«, schrie sie mit heiser gewordener Stimme; »heraus mit dem Schmuck, oder ich zertrete dir deine niederträchtig hübsche Fratze.«
»Um Himmels willen, Klara!« rief Anna Faber. In der Tat war das junge Weib, wie sie über den entsetzt blickenden Valentin gebeugt stand, ein schreckenerregender Anblick. Hohn, Haß und Angst machten ihre Züge unkenntlich.
»Laß«, gebot Eugen, »laß, Klara.« Er trat zwischen sie und Valentin und wandte sich an den letztern. »Du wirst jetzt gefälligst deine sämtlichen Taschen ausleeren«, sagte er kalt; »fackle nicht, besinn dich nicht; es gibt kein Entkommen mehr.«
Mit einem Satz fuhr Valentin empor. Sein Gesicht wurde schlohweiß. Alles Sympathische und Einschmeichelnde war im Nu daraus verschwunden. »Nein«, stieß er gurgelnd hervor und wich gegen die Wand zurück; »das geschieht nicht. Das tu ich nicht. Auf keinen Fall tu ichs. Laßt mich fort, sag ich euch.«
Faber schritt auf ihn zu und antwortete drohend: »Bequemst du dich nicht dazu, so werde ich es für dich tun müssen. Nur wird es dann weniger glimpflich für dich abgehen.«
Valentins Augen, wie gelbe Opale schillernd, hefteten sich voll Trotz und Verzweiflung auf Faber. Er duckte sich, schmiegte Schultern und Rücken in den Mauerwinkel, fuhr mit der Rechten in die Hosentasche, zog einen Revolver hervor und hielt ihn Faber entgegen. Es war ein sechsläufiger Browning; Faber sah die schwarzen runden Löcher dicht vor sich. Er stutzte und wurde um eine Schattierung blasser.
Anna Faber schrie gellend auf.
Da öffnete sich die Tür zum Flur und Fides trat auf die Schwelle. Sie war von ihren Morgengängen soeben heimgekommen; sie hatte noch den Hut auf dem Kopf, einen einfachen schwarzen Strohhut mit einem Samtband, der sie gut kleidete. Anna Fabers Schrei hatte sie herbeigezogen. Mit einem Blick übersah sie, was geschah und was geschehen war. Ohne zu zögern, ging sie zu Valentin hin, umklammerte seine krampfhaft ausgestreckte Hand, entwand ihm mit einem kurzen Griff den Revolver und reichte ihn Faber, wobei sie den von ihrem unvermuteten Erscheinen verblüfften und an allen Gliedern zitternden jungen Menschen nicht aus den Augen ließ. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte mit leiser, fester Stimme zu ihm: »Kommen Sie mit mir. Wir haben miteinander zu reden.«
Er sträubte sich nicht. Mit gesenktem Kopf folgte er ihr ins Nebenzimmer, ein kleines Gelaß, von dem aus man in Martinas Schlafzimmer kam. Sie schloß die Türe.
Die Zurückbleibenden sahen einander an, und die Blicke lösten sich erst nach einer Weile voneinander. Klara stand steif und stumm in der Mitte des Zimmers. Anna Faber hatte den Kopf in die Sessellehne gedrückt; ihr robuster Körper verriet tiefe Abspannung, der Ausdruck ihrer Züge eine nicht mehr zu verwindende Lebensenttäuschung.
Man hörte die Stimme von Fides als ein vokalloses, gleichmäßiges Murmeln. Dann war es eine Zeitlang still; dann hörte man Valentins Stimme, doch nur kurz, wie ein verlorenes Raunen. Dann kam wieder Fides' Stimme. Faber stand am Fenster und malte mit dem Zeigefinger den Buchstaben F in den dünnen Schweiß der Fensterscheibe, mehr als zwanzigmal den einen Buchstaben. Er lauschte auf Fides' Stimme.
Nach einer halben Stunde ging die Tür auf. In dem Raum drinnen kniete Valentin vor einem Stuhl, auf den er, lautlos schluchzend, das Gesicht gepreßt hatte. Fides trat heraus, in der Hand das Etui. Es war geöffnet, so daß man die wundervollen Steine sehen konnte. Schweigend, mit ernster Miene und ernstem Blick übergab sie es Klara. Diese sprach kein Wort. Sie reichte Fides nur die Hand. Sie senkte dabei auch ihr Haupt; es war, als neige sie sich vor einer Überlegenen und anerkenne die Überlegenheit. Anna Faber saß mit großen, feuchtglänzenden Augen da.
Eugen betrachtete Fides stumm vom Kopf bis zu den Füßen, wie wenn sie ihm fremd geworden und fern gerückt wäre. Sie schüttelte schwach lächelnd den Kopf, deutete mit einer flüchtigen Geste, die er verstand, auf Valentin im andern Zimmer, dann ging sie hinaus.
Faber faßte die Mutter unter den Arm und zog sie zum Fenster. »Du mußt den Buben irgendwo unterbringen, wo er eine Tätigkeit findet und beaufsichtigt wird«, sagte er; »laß ihn während der nächsten Tage nicht allein, aber sei trocken im Verkehr mit ihm. Weißt du einen passenden Zufluchtsort? Es ist vielleicht der letzte Moment, um ihn noch zu einem brauchbaren Menschen zu machen. Ich denke, das heutige Erlebnis wird nicht spurlos an ihm vorübergehen.«
Anna Faber erwiderte, daß sie schon seit einiger Zeit den Plan erwogen habe, ihn in ein landwirtschaftliches Institut zu bringen, mit dessen Leiter sie befreundet sei und mit dem sie über die Angelegenheit bereits korrespondiert habe. Valentin sei nicht abgeneigt gewesen, als sie mit ihm darüber gesprochen; jetzt werde er wahrscheinlich gern einwilligen. Sie wolle noch heute mit ihm hinausfahren.
Klara war weggegangen. Eine Viertelstunde später hörte Eugen auch seine Mutter und Valentin über den Flur gehen und sich entfernen. Er stand eine Weile sinnend, dann schritt er durch die Räume der Wohnung, um Fides zu suchen. Sie war in ihrer Kammer, die neben Christophs Stube lag. Die Tür war nur angelehnt; er klopfte schüchtern und ging hinein.