Jakob Wassermann
Faber oder Die verlorenen Jahre
Jakob Wassermann

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9

An den nächsten Tagen wurde Faber von der Familie gefordert, das heißt hauptsächlich von seiner Mutter, die ihre Rechte mit Ungestüm geltend machte. Sie kam und holte ihn einfach, und wenn Christoph zu Hause war, nahm sie ihn mit, ohne auf Fides' Einrede zu achten. Martina ließ sie wissen, sie möge nachkommen, aber Martina erschien nicht, und es wurde Anna schwer, ihre Bitterkeit zu verhehlen.

Rüstig und betriebsam, wie sie war, hatte sie für Eugen bereits einen Posten besorgt. Sie besaß unter Personen von Einfluß zahlreiche Bekanntschaften; ihre Hartnäckigkeit ermüdete vor keinem Widerstand, und manche Leute waren ihr nur deshalb zu Willen, weil an ihrem Namen die Erinnerung an Kampf und Opposition haftete. So war es ihr gelungen, ihm bei der Wiederherstellung der vernachlässigten öffentlichen Gebäude den ziemlich gut besoldeten Inspektionsdienst zu verschaffen. Im September sollte er das Amt antreten.

Martina erblickte darin kein Hindernis für den Plan, auf den sie hingedeutet hatte und den sie ihm nun verriet; sie hegte begründete Hoffnung, daß er bei den beabsichtigten Neubauten in der Kinderstadt als Architekt werde wirken können. Es sollte sich späterhin nicht mehr bloß um fliegende Baracken handeln; man dachte an solide Anlagen in einem dem Zwecke angemessenen Stil. Faber sagte weder nein noch ja; er verhielt sich kühl und schweigsam, als ihm Martina die Vorteile und Möglichkeiten eifrig auseinandersetzte.

Er schien es überhaupt nicht angenehm zu empfinden, wenn man sich seinet- und seiner Zukunft wegen befliß. Auch als ihm die Mutter freudestrahlend den Erfolg ihrer Bemühungen verkündete, brachte er es nur zu halbem Dank. Anna verübelte es ihm nicht, trotzdem ihr Schwiegersohn Hergesell, der zufällig zugegen war, mißfällig das Gesicht verzog und den Schwager kalt prüfend betrachtete. In Fabers antwortendem Blick war ebenfalls kein Wohlwollen; sie hatten sich beide noch nicht zu dem verwandtschaftlichen Du entschlossen, das Anna für selbstverständlich hielt und zu Klaras spöttischer Erheiterung mehr als einmal verlangt hatte.

Hergesell, wenig über dreißig Jahre, war Kunsthistoriker und gehörte einem exklusiven Kreis von Professoren und jungen Gelehrten an, die sich, weitab von den Wegen der Wissenschaft und Arbeiten des Friedens die Erneuerung vaterländischen Geistes zur Aufgabe gesetzt hatten und in einem leidenschaftlichen Kampf gegen die herrschende Regierungs- und Gesellschaftsform standen. In ihrer geheimbündlerischen und verfeinerten Weise scheuten sie ebensowenig vor den Mitteln des Hasses und der Aufhetzung zurück wie die Tribunen der Straße in ihrer schmutzigen und groben; indem sie hohe Gestalten und verehrungswürdige Ideale zu Dienern und Behelfen ihrer politischen Pläne und Utopien erniedrigten, und ihren Kundgebungen, auf Kunst und Sage, Philosophie und Geschichte bauend, den Ernst und die Dringlichkeit wahrhafter Zeugnisse, zielweisenden Tuns zu verleihen wußten, war die Wirkung, die sie übten, fast unwiderstehlich auf die Jugend und ganz unbedingt verführerisch. Hergesell war von trockener Natur und hatte aufgefaßt und verarbeitet, was ihn von Schauen und Miterleben befreite. Bevor er in diesen Zirkel getreten, war ihm jene freundliche Anmut der blonden blauäugigen Jünglinge eigen gewesen, die sich bis an die Grenze der zwanziger Jahre bewahrt, eine geistige Nettigkeit und Reinlichkeit auch, die ein Ergebnis guter Erziehung und sorgloser Verhältnisse ist; aber ganz allmählich, wie unter einem unausgesetzten Druck, hatte er sich verhärtet, verengert und verknöchert. Vom ersten Augenblick an stellte er in Eugen Fabel den Gegner fest; sie hatten noch kein Wort miteinander gesprochen, da nahm er schon die Haltung des Patriziers gegen den Plebejer an, des Eingesessenen und Edelgeistigen gegen den, der von draußen kommt und fordert, irgend etwas fordert, man weiß nicht was, aber jedenfalls sich selbst und seine dunklen, seine wahrscheinlich zerstörerischen Kräfte in eine gefügte Gemeinschaft zwängt. Und so blieb es, obschon Wort und Gehaben zunächst nichts davon merken ließen.

Faber hatte nicht geglaubt, die Schwester in strahlendem Eheglück zu finden, aber was er wahrnahm, enttäuschte ihn doch. Alles in dem Hause machte den Eindruck gefesteter Wohlhabenheit, und seine beharrlich beobachtende Miene ließ erkennen, daß er daraus gewisse Folgerungen zog, die ihn traurig, vielleicht sogar mitleidig stimmten. Klara mochte dies fühlen, aber sie war weit entfernt, eine Aussprache herbeizuführen, in welcher Erklärung oder Verteidigung so sichtlich erwartet wurde. Im Gegenteil, der Sarkasmus, mit dem sie Eugen behandelte, war noch stachliger als der, den sie gewöhnlich im Verkehr mit Menschen hatte.

Eines Abends waren sie allein, und das Gespräch kam auf ihre frühe Jugend. Eugen erinnerte Klara an die tollen Streiche, die sie begangen. Wie sie einst mit einem Bündel auf dem Rücken wie ein Handwerksbursch nach Venedig gewandert; wie sie in einer Mondscheinnacht in ihren Kleidern in den Schloßteich gesprungen, um die Wasserrosen zu pflücken, und wie sie dann, naß bis auf die Haut, mit den gelben Blüten im triefenden Haar an der Spitze der Freunde und Freundinnen Lieder singend durch die Straßen gezogen; wie sie, ein halbes Kind noch, sich mit kriegerischem Mut eines Judenjungen angenommen, den eine verwilderte Horde mit Steinwürfen verfolgte; »mit fünfen auf einmal hast du dich herumgebalgt; erinnerst du dich? und dein Gesicht war von Blut überströmt, als du heimkamst.«

Sie erinnerte sich. Die Stirn trotzig umschattet blickte sie zu Boden und sagte ironisch: »Du gibst mir zu verstehen, daß diese Klara damals eine hohe Vorstellung von sich gehabt hat, was? ihr Anspruch an Menschen war unerbittlich, meinst du, und so verwegen sies auch trieb, ihr zu nah zu kommen wagte keiner. Sie war nicht für die Wegelagerer da, wenn sie sich auch als Vagabund aufspielte, das willst du mir doch zu verstehen geben?«

Er sah still vor sich hin, ohne zu antworten.

Mit herausforderndem Spott in ihrer Miene fuhr Klara fort: »Du gehst herum wie einer, der was faul findet im Staate Dänemark. Freilich ist was faul, mein Lieber. Aber was willst du tun? Willst du dich als Rebell unter uns niederlassen? Auf deinem Gesicht steht immer zu lesen: ihr gefallt mir nicht mehr, ihr seid mir durch und durch zuwider. Das begreif ich. Fragt sich nur, wie wir dem abhelfen sollen. Dabei geben wir uns noch Mühe, einige unserer schlimmsten Schandflecke zu verheimlichen. Da ist zum Beispiel unser Neffe Valentin. Von dem weißt du noch gar nichts. Es braucht nur sein Name genannt zu werden, und Mutter fängt schon an zu zittern.«

»Was ist mit ihm?« forschte Eugen.

»Frucht«, erwiderte Klara verächtlich. »Du weißt doch, daß er Mutters Augapfel war. Somit Frucht. Mutter hat ihm so lange vorerzählt, daß ein geborener Faber ein Ausnahmemensch ist, und erst recht, wenn er das Glück illegitimer Herkunft hat, bis der junge Mann nicht umhin konnte, seine Maßregeln danach zu treffen. Wir waren ja alle Ausnahmemenschen, du, ich, Roderich, Karl, hast dus schon vergessen? Lauter Musterexemplare mit Sondervorrechten, aber doch nicht so beweiskräftige wie der. Immerhin waren wir auch als zweibeinige Demonstrationen erzeugt und gedacht und sollten dem bürgerlichen Viehzeug vor Augen führen, wie rückständig es ist mit seiner Moral und seinem Katechismus und so weiter. Findest du nun, daß wirs so herrlich weit gebracht haben, Bruderherz?«

Eugen schwieg.

»Um wieder auf besagte Frucht zu kommen, so waren und sind wir dagegen die reinen Engelein, an denen der liebe Gott seine Lust hat. Wie bequem hattens doch die Eltern in früheren Zeiten; wenn so ein Sprößling mißraten war, setzten sie ihn mit einer kräftigen Verfluchung vor die Tür und erklärten ihn für tot. Heutzutag bemüht man sich um seine Seele, wenn auch von Seele so wenig zu bemerken ist wie bei einem Hering. Dieser hoffnungsvolle junge Mann, fünfzehn Lenze alt, verbringt seine Nächte in Champagnerkneipen, teils als Tänzer, du kannst dir denken, was für Tänze das sind, teils als Barkeeper. Damit verdient man jetzt klotzig viel Geld, mußt du wissen. Bis vor einem Monat hat er bei uns gewohnt; Mutter und ich machten den Paravent und brachten es wirklich fertig, daß Hermann von seinem lästerlichen Leben nichts erfuhr. Aber neulich kam er des Morgens mit einem Kokainrausch nach Hause, da hat ihn mein Gatte hinausgeworfen. Wo er seitdem residiert, ist uns nicht bekannt. Bisweilen taucht fahles Gelichter hier auf, um sich nach ihm zu erkundigen; auch eine Art Damen; auch ein Schneidermeister mit unbezahlter Rechnung. Mutter ist in Verzweiflung und Sorge, obschon sie es uns zu verhehlen trachtet, und ich habe sie in Verdacht, daß sie ihre ganze freie Zeit darauf verwendet, sein Logis ausfindig zu machen. Sie glaubt noch an ihn. Sie ist in ihrem Innern fest überzeugt, daß diese Mißgeburt ein Prinz Heinz ist, der bis zur Thronbesteigung mit allerlei Falstaffs und Pistols sein lustiges Unwesen treibt. Mutter nimmt vom Leben nur an, was sie beschließt anzunehmen. Beneidenswert.«

»Du bist hart, Klara«, sagte Eugen.

»Gott sei Dank; wär ich weich, so wär ich längst zu Brei zertreten,« war die brüske Antwort. »Anzustoßen war immer mein Schicksal, darum brauch ich Krusten.« Sie stand auf, trat zum Fenster und sagte abgewandt: »Ich habe schlecht gehaust mit meiner Jugend, das ist es. Ich habe mir die Grenzen zu weit hinausgeschoben. Auf einmal begann mir zu schwindeln. Wenn einem schwindelt, greift man nach einem Halt. Man besinnt sich nicht lang, wenn einem schwindelt. Schluß damit. Laß mich in Frieden.«

Einige Male, wenn Faber gegen Abend die Wohnung der Schwester verließ, begegnete er auf der Treppe einem Jesuitenpater, einem Mann in mittleren Jahren, dessen ruhiges und gescheites Gesicht ihm auffiel. Einmal begleitete ihn Klara ins Vorzimmer, da kam der Priester gerade und Klara machte sie miteinander bekannt. »Pater Desiderio, das ist mein Bruder«, sagte sie, und ihre Stimme klang plötzlich sonderbar matt und gedämpft. Eugens fragender Blick glitt von der Schwester zu dem Priester; beide lächelten kaum merklich.

Im Lauf einer Woche kam er fast täglich zu Mutter und Schwester, obgleich sein Benehmen verriet, daß er sich keineswegs heimisch oder behaglich fühlte, besonders dann nicht, wenn Hergesell zugegen war. Dieser spürte es wohl, und eines Abends, nach dem Essen, äußerte er sich gegen Anna und seine Frau in etwas hochmütigem Ton darüber; er sei nicht gewöhnt, daß man in sein Haus komme, um ihn als lästig zu empfinden, sagte er.

Klara erwiderte achselzuckend: »Es zieht ihn ja auch nicht zu uns, zu mir oder zu Mutter. Es treibt ihn nur weg von daheim. Am liebsten ginge er von sich selber weg.«

»Das mag wohl wahr sein,« pflichtete Hergesell bei; »er ist eine entwurzelte Existenz. Wohin gehört er? er weiß es nicht. Was erstrebt er? er weiß es nicht. Wo sind seine tieferen Verpflichtungen? er hat keine. Von solchen Menschen wimmelt unsere Welt jetzt, und bei den meisten bedarf es nur des Stichworts, und sie werden, ... nun, sie werden, was sie eben sind.«

»Eigentümlich, wie genau du Bescheid weißt um den armen Eugen,« sagte Klara mit finsterem Gesicht, während Anna Faber den Schwiegersohn schweigend ansah.

»Wir erleben es jeden Tag, schaut euch nur um,« fuhr Hergesell mit seiner sanften, ein wenig knabenhaften Stimme fort; »der unfruchtbare Geist, der verneinerische Geist, das ist das Übel. Man erklärt sich für frei; man will keine Fessel tragen; recht schön. Aber es gibt Fesseln, die man sich selber anschmieden muß, will man nicht als form- und seelenloses Einzelwesen ein Zufallsdasein außerhalb der ewigen Gesetze und Zusammenhänge führen. Ich kenne Leute, die nur ein Lächeln haben, wenn man von Volksgemeinschaft spricht, von deutscher Nation etwa und deutscher Idee, dieselben Leute, die in eine törichte Ekstase geraten, wenn sie bloß das Wort Menschheit hören. Menschheit, das ist nachgerade ein Vorwand geworden für geistige Unzucht, ein hinterlistiger Weg für alle Arten von Brandstiftung und Verräterei. Sei nicht ungehalten, Klara, ich sage das nur, und ich bitte Mutter um Verzeihung, wenn ich so kühn bin, es zu sagen, weil ihr Fabers immer eine verhängnisvolle Neigung zu, ... wie soll ichs nur nennen, zu verantwortungsloser Verbrüderung gehabt habt, zu einem Demokratismus ohne rechten Hintergrund und Aufblick. Und ich glaube bei Eugen rächt sich das am bittersten. Er steht nicht. Er ist kein Mensch, der steht. Er ist ein Mensch, der flieht.«

»Ach was, Blech«, brummte Klara. Sie hatte eine Kerze angezündet, um einen Brief zu siegeln. »Demokratismus; Blech. Was soll überhaupt der lichtvolle Vortrag? Uns bedauernswerte Fabers gänzlich zerschmettern? Laß uns doch noch eine Weile vegetieren, wenn auch auf unsere schlechte demokratische Manier. Wir lieben nicht die Kommandos. Wir lieben nicht, daß man uns zum Rapport ruft. Wir haben keine so strikten Überzeugungen. Wir sind von uns nicht so überzeugt und von ... von euch nicht so überzeugt. Wir sind schüchterne Personen.« Sie blies die Kerzenflamme aus, während Hergesell sie erstaunt von der Seite anblickte.

Anna Faber ging ruhelos auf und ab. Als Hergesell sich in sein Arbeitszimmer begeben hatte, trat sie mit totenblassem Gesicht zu Klara und sagte: »In einem Punkt hat er recht: Eugen ist ein Mensch, der flieht. Das hat mich unmittelbar getroffen, weil es eben wahr ist. Was wird nun daraus werden? Sprich, Klara, du bist klug, du siehst die Dinge real: soll ich auch noch diesen Sohn verlieren? hab ich ihn schon verloren?«

Klara spielte mit dem Petschaft in ihrer Hand. Ihre Lippen waren fest aufeinandergepreßt.

Anna packte ihre beiden Hände so heftig, daß das Petschaft zu Boden fiel. »Was ist mit ihm?« drängte sie; »du weißt es. Was für ein Unglück droht ihm? was muß ich tun, um es zu verhüten?«

»Übertreib doch nicht so, Mutter,« antwortete Klara unwillig; »das sind so starke Worte. Unglück; ich weiß von keinem Unglück. Es scheint, er und Martina vertragen sich nicht mehr so wie früher. Es scheint sich zwischen ihnen etwas verändert zu haben. Warum nicht? Wir alle müssen mal raus aus dem Paradies, so oder so. Was heißt das: den Sohn verlieren? Man hat einen Sohn nicht mehr, der dreißig Jahre alt und mit seinem Leben ganz wo anders steht als wo du stehst. Wenn man von Unglück reden kann, seh ich nur eins: daß du deine Hand nicht abziehen kannst. Eine Mutter muß lernen, die Hand von ihren Kindern zu nehmen.«

Sprachlos schaute Anna Faber die Tochter an. Sie wich zurück, tastete nach einem Sessel, ließ sich schwer darauf niederfallen und flüsterte: »Das klingt beinahe als ob ich ein Verbrechen an euch begangen hätte ...«

Klara zuckte die Achseln. »Viel zu starke Worte,« sagte sie mit ihrer tiefen Stimme und hob das Petschaft wieder auf.


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