Jakob Wassermann
Faber oder Die verlorenen Jahre
Jakob Wassermann

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13 Geschichte der Fides

»Ich bin in einer norddeutschen Mittelstadt geboren; einen Teil meiner Kindheit und Mädchenjahre habe ich im deutschen Süden verlebt, auf einem Gut, das einem Bruder meiner Mutter gehörte. Ein großes schönes Gut, in weiter Wald- und Hügellandschaft. Mein Vater stammte aus einer Junkerfamilie, aus kleinem Adel also; sein Rang als Offizier erhob ihn in die herrschende Kaste. Er konnte sich als Gebieter der Stadt fühlen, und die Stellung, die er beanspruchte, wurde ihm auch eingeräumt. Ich sah immer nur Menschen, die sich vor ihm demütigten oder ihm schmeichelten. Insofern er keinen Widerspruch erfuhr, war er ein umgänglicher und höflicher Mann, wenn auch kühl und formelhaft.

»Meine Mutter war von viel vornehmerer Geburt als er. Keinen Augenblick des Lebens verleugnete sich ihre Abkunft aus uraltem Hause und historisch-berühmtem Geschlecht, das in den Ostprovinzen, in der Vorzeit schon, für den Glauben gekämpft und Männer von unvergänglichem Ruhm hervorgebracht hatte. Mein Vater würdigte diesen Familienstolz durchaus an ihr und behandelte sie auch im häuslichen Kreis mit einer etwas steifen Auszeichnung. Ich erwähnte vorhin, daß meine Beziehung zur Fürstin weit zurückreicht; die Fürstin ist eine Verwandte meiner Mutter im zweiten Grad, und meine Mutter hat es ihr nie verziehen, daß sie aus ihrer Exklusivität heraustrat und sich, wie sie es ausdrückte, mit dem Volk gemein machte. Ich hörte in meiner Kindheit sehr viel von der Fürstin sprechen, aber nur Nachteiliges, auch bei den Verwandten in Süddeutschland; als es sich einmal fügte, daß ich sie sah, um mein fünfzehntes Jahr herum, war ich sehr betroffen von ihrer Schönheit und Milde, und ich begann an manchem irre zu werden, freilich nur schüchtern und kaum bewußt. Sie war gekommen, weil die Mutter nach ihr verlangt hatte. Die Mutter wollte sie noch einmal sehen. Sie war krank und fühlte ihren Tod heraus.

»Ich glaube nicht, daß wir arm waren. Reich waren wir keinesfalls. Schmuck und edles Mobiliar hatte sich von Jahrhunderten her vererbt. Die Lebensführung war, was man als standesgemäß bezeichnete. Das hatte seine unverrückbaren Formen und Gesetze. Es war für jeden einzelnen geregelt, in dem was er sprach, und in dem was er tat. Keiner konnte etwas tun oder sagen, was man nicht von ihm erwartete. Geselligkeit entwickelte sich nach einem Programm. Urteile über Menschen und Ereignisse waren immer wie aus höherem Mund diktiert. Sich dagegen aufzulehnen war unmöglich. Eine Meinung zu äußern, die nicht die Meinung von allen war, hätte die größte Bestürzung erregt. Bei den Verwandten im Süden war man ein wenig liberaler, aber doch eigentlich nur in Worten, in der Ausdrucksweise und dem rascheren Temperament zuliebe; der Grundton, wenn ichs recht bedenke, war auf die nämliche Starrheit gestimmt. Die Laune war besser, man lachte leichter. Aber für mich wars schon ein Unterschied wie Tag und Nacht.

»Natürlich wenn man in solcher Luft erzogen ist, kommt der Geist schwer zum Bewußtsein, daß es andere Art und anderes Leben überhaupt gibt. Wie sollte mans denn erfahren haben; nicht einmal zum Bilde reichts; der Wille ist noch ganz erstickt. Heute weiß ichs. Heute weiß ich, daß ich bis zu meinem zwanzigsten Jahre eine Marionette gewesen bin; dann erst sickerten Begriffe in mich hinein, und das alte Uhrwerk wollte nicht mehr laufen. Das heißt, es kam einer, der die Räder auseinander nahm und die Drähte zerschnitt und nachschaute, ob eine Menschenseele da war. Bis dahin war mein ganzes Dasein, wie soll ich sagen, erzwungene Äußerung gewesen. Jeder Wunsch stand unter Zwang. Die Gedanken waren befohlen, Umgang war befohlen, jedes Gespräch war ein Zeremoniell. Wenn man allein war, war man in einem unergründlich leeren Raume, grausig geradezu, und unter Menschen war man in einem eisernen Käfig. Immer ohne es zu wissen, und das macht alles so gespenstisch, trotzdem man Bälle und Theater besucht und Sport treibt und von der Zukunft und von Hoffnungen redet. Man dreht sich immer auf demselben Fleck, und die Leute sagen etwa: schau hin, da ist eine schöne Aussicht und man sagt ja und macht eine entzückte Miene, und der hinter einem, der die Drähte in der Hand hält, paßt schon auf, daß man keinen Schritt zuviel tut und das Entzücken nicht das gebührliche Maß überschreitet. Ich erinnere mich, daß ich einen Schreck bekam, wenn mir jemand zum Beispiel von einem neuen Buch erzählte oder nur den Titel nannte, ja, einen sonderbaren Schreck, wie wenn man gewohnt ist, im verriegelten Zimmer zu schlafen und man hört, wie der Riegel zurückgeschoben wird. Immerfort spürt man schaudernd: wo ich gehe, ist rechts und links Geländer; jenseits ist das Unbekannte, das Gefährliche, das Zwanglose. Da erlebt man nicht und ergreift nichts; sieht und hört nicht einmal; alle Sinne sind im Gefängnis, und so existieren Tausende und existieren noch immer so. Mit der Zeit, ganz, ganz langsam wurde der Gedanke zur Unruhe in mir: ich bin gar nicht ich, ich bin eines andern Ich, vielleicht keines Menschen, sondern eines Schattens oder eines Götzen Ich. Und ich fragte mich logischerweise: wo bin ich denn dann und wer bin ich, wenn mir mein Ich nicht gehört, wenn ich meines Vaters und meiner Mutter und meiner Verwandten und meiner Vorfahren Ich bin? Das war also schon der Anfang von Verwirrung oder auch von Abtrennung, wenn Sie wollen. »Es war kurz nachdem ich zwanzig Jahre alt geworden war, daß ich wieder zu meinen Verwandten auf das Gut reiste, um dort Sommer und Herbst zu verbringen. Diesen Sommer zu vergessen, ist nicht gut möglich, denn es war der, in dem der Krieg ausbrach. Aber von Ahnen oder Aufmerken darauf war keine Spur in mir und von den Weltzuständen wußt ich nichts; ich freute mich nur auf das ungebundenere Landleben. Gleich in den ersten Tagen machte ich mit meinen Kusinen vielerlei Pläne; es waren drei Schwestern zwischen sechzehn und zwanzig, ich war sonach die älteste. Alle drei waren hübsche und aufgeweckte Mädchen, obwohl ungemein hochmütig; ein Bürgerlicher war für sie ein Mensch zweiter Ordnung, und ich hörte einmal einen alten Handwerksmeister, dessen Gruß sie kaum erwidert hatten, hinter ihnen hersagen: ›Du gutes Gottchen, mir scheint, unsereinen hast du erst am achten Tag erschaffen.‹ Ich vertrug mich aber vortrefflich mit ihnen, schon deshalb, weil ich nie das Talent hatte, mich zu einer Partei zu schlagen und mich immer nur aufnehmend verhielt.

»Unser Lieblingsgang war zu einem Pächter, der etwa eine halbe Stunde vom Herrenhaus entfernt wohnte und der eine Zucht von Rassehunden angelegt hatte, lauter riesigen Doggen. Mit den Tieren, es mochten im letzten Jahr sechs oder acht sein, waren wir Mädchen vertraut, kannten wir doch fast alle seit der Geburt, und jede hatte eins, das sie bevorzugte und das ihr besonders anhänglich war. Oft zogen wir mit der ganzen Meute durch die Landschaft, und das war ein prächtiger Anblick; die stolzen Hunde, gehorsam auf den Wink, und die Fräuleins in weißen Kleidern; dann lagerten wir uns, die Hunde rings umher, der eine zu Füßen der Herrin, der andere den Kopf auf ihrem Schoß, der dritte in majestätischer Positur vor ihr. Ich sehe sie noch, die Tiere, mit den finster aufmerksamen Augen und den kraftvoll geschmeidigen Leibern; manchmal verspürte ich beinahe Furcht, wenn sie reizbar aufzuckten und ein grollendes Geknurr hören ließen, wobei die Lefzen zitterten. Der Pächter unterließ nie, uns zu ermahnen, daß wir achthaben und namentlich zwei der Hunde, deren er nicht sicher war, an die Leine nehmen sollten; trotzdem wir uns auf eingezäuntem Gebiet bewegten, käme es doch bisweilen vor, daß sich Fremde hereinverirrten; dann könne ein Unglück leicht passieren. Aber hierin waren wir nach und nach völlig sorglos geworden. Eines Tages, als wir wieder plaudernd unter den Weiden am Fluß kampierten, gab meine Dogge drohend Laut. Ich rief sie zur Ruhe, da springt sie auf, macht ein paar furchtbare Sätze gegen das nahe Gehölz, zwei, drei der andern Hunde folgen bellend; eh wir uns recht besinnen, ertönt ein gräßlicher Schrei; wir laufen hinüber; da liegt ein Mann; das Tier hat ihn zu Boden gerissen und bereits Schulter und Oberarm zerfleischt. Wir waren vor Schrecken gelähmt. Ich war die erste, die den Hund packte und zurückzerrte; die jüngste Kusine läuft ans Wasser und näßt ihr Taschentuch; die andere versucht, das strömende Blut mit Moos zu stillen; die dritte eilt ins Pächterhaus, um Hilfe zu holen, denn der Mann ist ohne Besinnung. Es kommen Knechte mit der Tragbahre; der Verletzte wird zu den Pächtersleuten geschafft; man ruft den Arzt, der die Dogge zur Untersuchung verweist und den übel zugerichteten Menschen verbindet. Die Wunde sei nicht lebensgefährlich, ist sein Urteil, aber zur Heilung seien Wochen erforderlich, vorausgesetzt immer, daß der Hund nicht an der Wut leide. Das war nicht anzunehmen; es zeigte sich auch später, daß die Dogge gesund war. Den Verletzten in die Stadt zu transportieren, war schwierig und nicht ratsam; bei den Pächtersleuten fehlte es an aller Bequemlichkeit, so wurde er auf Geheiß des Onkels am andern Tag ins Herrenhaus gebracht, um dort verpflegt und pasteurisiert zu werden. Die Kusinen und ich, wir besuchten ihn abwechselnd, fühlten wir uns doch ihm gegenüber schuldig, ich noch mehr als die andern; wir erfuhren, daß er Kapruner hieß und Privatgelehrter sei, seit einigen Monaten in der nahen Stadt ansässig; es war ein Mann Mitte der Dreißig, und als ich ihn zum erstenmal sah und sein durchdringender Blick auf mir ruhte, während er unbefangen und freundlich ein paar Fragen an mich richtete, fühlte ich mich sonderbar verwirrt und muß mich wie ein recht dummes Ding benommen haben, denn er lächelte fortwährend, trotzdem er große Schmerzen litt, wie ich wußte.

»Ich meinte nicht anders, als daß der durch unsern Leichtsinn beinahe zu Tod verblutete Mann im Gutshaus bleiben und gepflegt werden würde, bis er einigermaßen hergestellt war; so wars auch gesagt und beschlossen worden. Da kam aber am dritten Tag gegen Abend das Lazarettautomobil aus der Stadt, und der noch schwer Fiebernde wurde fortgeschafft. Ich war sehr verwundert darüber; ich fragte nach dem Grund der veränderten Verfügung; die Kusinen zucken die Achseln, ebenso verwundert wie ich; die Tante antwortet ausweichend und verlegen; ich wende mich an den Onkel; in seinem Gesicht ist eine eigentümliche Erbitterung. Er will mir nicht Rede stehen; ich beharre aber; da erklärt er mir unwillig und widerstrebend, er habe erst heute in Erfahrung gebracht, daß Kapruner ein Individuum von üblem Ruf sei. Inwiefern? frage ich erschrocken. Er will mir keine weiteren Aufschlüsse geben. Ich beharre. Solche Hartnäckigkeit war mir selber neu an mir. Endlich setzt er mir auseinander, Kapruner befasse sich seit Jahren mit der Produktion und Verbreitung umstürzlerischer Schriften; er sei ein Jugendverderber und Geistvergifter, ein Feind der Gesellschaft und des Staates, und jemand, der auf sich halte, könne einen Menschen von der Art nicht einen einzigen Tag in seinem Haus und im Umkreis seiner Familie dulden. Es klang sehr aufgeregt, das alles, und eigentlich mit einem Unterton von Feigheit, der mir nicht entging. Später habe ich diese Art Feigheit bei ähnlichen Gelegenheiten noch oft bemerkt. Mein Nachdenken über das Gehörte hatte keinen Zweck, da ich keinen Begriff damit verband. Doch zwei Dinge erschienen mir als Gewißheit: erstens daß Gesicht und Wesen jenes Mannes nicht mit der Vorstellung schlechter Handlungen vereinbar war; zweitens, daß es eine durch nichts zu rechtfertigende Grausamkeit war, einen Menschen in so gefährdetem Zustand vor die Tür zu setzen. Je länger ich beides bei mir erwog, je unruhiger wurde ich. Mein Onkel hatte sogar strenge verboten, daß man Erkundigungen nach Kapruners Befinden einziehe; er hätte sich nicht anders gebärden können, wenn ein Pestkranker in seinem Haus gelegen wäre. Es fügte sich, daß ein Universitätsprofessor aus der Stadt Besuch bei den Verwandten abstattete; ich konnte ihn in einem günstigen Moment allein sprechen und fragte ihn nach Kapruner; dieselbe Verlegenheit; dieselbe Feigheit. Nachdem das Erstaunen über meine Frage verwunden war, kam etwa folgendes, hastig gestottert: ein Mann, der vielleicht von den besten Absichten beseelt sei; das wolle er nicht bestreiten; aber ein unverantwortlicher Draufgänger jedenfalls und Bedroher geheiligter Ordnungen, einer jener zahlreichen modernen Wühler, die in Wort und Schrift den mühsam gefestigten Bau des Reiches ins Wanken brächten und die darum vom allgemeinen Bannstrahl nicht nachhaltig genug getroffen werden könnten; er wolle doch um Himmels willen nicht hoffen, daß ich einer Erscheinung wie dieser irgendwelche Teilnahme zugewendet hätte. Ich beschwichtigte ihn, aber ich wollte mich nun nicht mehr auf Gesagtes und Gehörtes verlassen; beim ersten Gang in die Stadt kaufte ich mir in einer Buchhandlung eine der Schriften Kapruners und las sie heimlich in der Nacht. Es war eine sozialpolitische Broschüre, viel zu hoch für mein Verständnis, aus der ich aber doch dunkel herausfühlte und bei öfterer Lektüre immer überzeugter inne wurde, daß da ein feuriger und redlicher Geist mit Ideen von gewaltiger Bedeutung rang und das Los seiner Mitmenschen zu erleichtern mit allen Kräften und Gaben am Werke war. Plötzlich erwachte ein Zorn über die Handlungsweise meiner Verwandten in mir, der von Stunde zu Stunde anwuchs. Ganz mit einemmal geschah das. Ich erschien mir wie mitschuldig an einem Verbrechen, oder ärger noch, an einer Unanständigkeit und Unehrlichkeit. Ich wünschte nicht, daß Kapruner glauben sollte, ich sei eines Sinnes mit ihnen und hätte mich gedankenlos über das Vorgefallene getröstet. So schrieb ich ihm, teilte ihm dies mit, bat ihn um einige Zeilen und gab die Adresse des Pächters an, dem ich vorher sagte, daß ich möglicherweise einen Brief bei ihm abholen würde. Kapruner antwortete, freundlich-gelassen, doch nicht ohne bittere Resignation. Zum Schluß forderte er mich auf, ihm über mich selbst zu schreiben; meine Worte hätten ihn bewegt; mein Unternehmen sei, gemessen an der Gesinnung meiner Umgebung, so ungewöhnlich, daß er fast Mitleid mit mir empfinde. So kamen wir in Korrespondenz. Jeder neue Brief von ihm schälte etwas Verhärtetes von mir ab; jeder warf einen Lichtstrahl in meine Herzensfinsternis; in jedem war ein Wort, das mich um und um kehrte. Ich hatte gar nicht geahnt, daß es solche Worte gibt, daß man die Welt so betrachten könne, daß ein Mensch dem andern so viel aufschließen könne. Ich sah meinen Kerker; ich konnte mit den Händen das Gitter fassen; ich erinnere mich, daß ich fast nicht mehr schlief und nicht mehr aß, so durch und durch ging mir alles. Und wie erst, als wir uns dann sahen und einander trafen, immer heimlich, an heimlichen Orten in der Landschaft. Denn daß wir uns begegnen mußten, war ja Notwendigkeit; er war inzwischen völlig hergestellt und die Wunde vernarbt, doch war eine Lähmung im linken Arm verblieben. Er sagte, daß er seiner Mutter den lästigen Unglücksfall habe verschweigen können, da sie während der ganzen Zeit in ihrer Heimat geweilt habe; vor wenig Tagen erst sei sie zurückgekehrt; er lebe mit ihr in gemeinsamem Haushalt; er habe ihr von mir bereits erzählt. Das hatte alles viel Gewicht, was er von seiner Mutter sagte; es fiel mir aber nicht weiter auf; ich war zu begierig, von ihm belehrt zu werden, mein unentschiedenes, schales Leben vor ihm aufzutun wie man bei der Beichte seinen sündhaften Wandel bekennt. Dabei war die Furcht vor Entdeckung groß, obwohl Kriegserklärungen und Kriegslärm in eben diesen Tagen die Welt erfüllten und argwöhnische Augen von mir ablenkten. Mein Vater kam für vierundzwanzig Stunden; er so wenig wie die andern merkte, wies um mich stand und so zog ich Nutzen aus der allgemeinen Verwirrung. Der wilde Rausch und die Kampflust um mich her, die Begeisterung vom Höchstgestellten bis zum Niedersten zogen mich mit in den Wirbel; aber Kapruner wollte mich so nicht haben. Er war ruhig und kalt, er allein, und einmal gegen Abend, als wir durch den Wald gingen, den Tag und die Stunde werd ich nicht vergessen, es war der fünfte September, die ganze Landschaft war in blutige Sonnenröte getaucht, sprach er mit mir darüber. Er sagte, es gäbe nur eines, was er mit allen seinen Sinnen und Gedanken und bis ins Mark seiner Seele verabscheue: das sei Zwang und Gewalt. Und in seiner stillen Weise, mit der tiefen Stimme, die immer noch ein gurrendes Echo in seiner Brust hatte und die mich schon überzeugte, ohne daß ich auf die Worte hörte, setzte er mir auseinander, wie alles Unheil der Menschen von Gewalt und Vergewaltigung stamme. Aus Gewalt und Vergewaltigung aber werde die Lüge geboren, unaufhaltsam, unweigerlich. Die ganze Geschichte der Menschheit sei das Resultat von Zwang und Gewalt, eine fortlaufende Kette von Blutopfern, Schlachtengreueln, Bruderkriegen, Verfolgungen, Hinrichtungen und von Mord in jeglicher Form. Gegen einen Friedensbringer und Propheten der Schönheit und des Glücks träten immer tausend auf, die Haß und Vernichtung predigten, Völkerhaß, Rassenhaß, und was ihnen an triftigen Argumenten fehle, ersetzten sie durch Lüge, durch nichts als Lüge, und von nichts erfüllt und getrieben als von Ehrgeiz, Konkurrenzneid, Machtgier und Besitzgier. Niemals habe ein großer Arzt, ein großer Erfinder, ein großer Astronom auch nur annähernd soviel Verehrung und Ruhm genossen wie diejenigen, die ihre Mitmenschen zu Millionen in den Tod gehetzt, und wer immer sich dawider auflehne, dessen Rede werde erstickt und dessen Andenken vertilgt. Davor dürfe man sich aber nicht fürchten, und wenn die Mauer, die zu erstürmen sei, auch himmelhoch wäre, und wenn man in Brandschutt und Trümmern, die durch Gewalt und Lüge erzeugt werden, bis an den Hals versinke, davor dürfe man sich nicht fürchten; man müsse verkündigen, daß alle Menschen Gottes Kinder seien, gleicherweise Glieder eines Leibes, und daß man seinen Nächsten nicht berauben, bestehlen und belügen kann, ohne sich selbst zu berauben, zu bestehlen und zu belügen. Man müsse nach den Lehren Christi leben, nämlich im Geist und in der Wahrheit leben, und nicht im Wort und in der Lüge. Seit neunzehnhundert Jahren aber hätten es immer bloß einzelne versucht und getan, und die hätten nichts anderes erfahren, als was Christus selbst habe erfahren müssen. Deshalb gehe in unserer Kulturwelt jeder fünfte Mensch im Armenhaus oder im Spital oder im Irrenhaus zugrunde und in Kriegszeiten jeder dritte auf dem Schlachtfeld und durch Hunger und Seuchen. Es müsse aber anders werden, denn mit solcher Gewissenslast auf dem Rücken könne man nicht leben, nicht atmen, nicht lachen und sich nicht dem frohen Gedanken ergeben. Die Arbeit müsse unabhängig werden vom Gelde und es dürfe keine Richter und keine Strafe mehr geben; und es dürfe keiner Besitz von Leben und Seele eines anderen ergreifen; der Mensch müsse dahin gelangen, daß er im anderen Menschen ein Teil von Gott erblicke, und daß er wisse, beständig wisse und lebendig empfinde, daß er Gott leiden lasse, wenn er den schlechtesten seiner Brüder leiden lasse, daß er Gott hungern lasse, wenn er ein Kind hungern lasse.

»So redete er zu mir, der Verfemte, der, den man wie einen mit Ungeziefer Behafteten aus dem Hause verwiesen, darin ich wohnte. Ich habe es mir Silbe für Silbe gemerkt; ich habe es in meinem Gedächtnis aufbewahrt, und es wird mir nicht verwelken und veralten, das weiß ich.

»Indessen waren wir gerade an jenem Tag miteinander gesehen worden. Es erschien aber zu unwahrscheinlich und wurde nicht geglaubt, darum ließ man mir aufpassen und umstellte mich mit Spionen, und als man Gewißheit erlangt hatte, sah ich plötzlich lauter befremdete, eisige Mienen um mich her; die Kusinen reichten mir nicht mehr die Hand, Onkel und Tante schlugen feierlich die Augen nieder, wenn sie meiner ansichtig wurden, selbst die Dienstleute blickten scheu und finster auf mich. Wie ich erst lange nachher erfuhr, hatte Kapruner, dessen frühere Sünden man ja gern vergeben und vergessen hätte, wenn er still geblieben wäre, aus seiner Gesinnung, mit der er sich damals überkühn einem ganzen Volk in den Weg stellte, kein Hehl gemacht; er hatte das gefährliche Wagnis unternommen, vor der allgemeinen Raserei zu warnen und ihre schrecklichen Folgen für Deutschland, für Europa, für die Menschenwelt vorauszusagen. Wut und Entrüstung erwiderten ihm. Er durfte sich nicht mehr auf der Straße sehen lassen und war, wie ich auch erst später erfuhr, zu einem seiner Freunde geflüchtet, der ein einsames Gehöft in der Nähe besaß und ihn wochenlang versteckt hielt. Nur um mich zu sehen, verließ er diesen Zufluchtsort, und nur seine Mutter wußte, wo er sich aufhielt. Ich meinerseits sah mich plötzlich in sein Schicksal mit hineingerissen; es wurde darauf gewartet, daß ich Rede stand. Darauf war ich aber nicht vorbereitet; ich wußte nicht, was sagen, was tun; sollt ich mich verteidigen, sollt ich andere anklagen? Wogegen sollt ich mich kehren? Da fragte mich eines Tages mein Onkel, starr und hochaufgerichtet, ob es den Tatsachen entspreche, daß ich mit Kapruner Beziehungen unterhalte; man habe mich in seiner Gesellschaft gesehen, nicht einmal, sondern mehrere Male; ob es wahr sei, und wenn ja, wie ich das Unfaßliche zu erklären gedenke? Ich erwiderte, es sei wahr; zu erklären hätte ich dabei nichts, außer das eine, daß ich mein Los an das Los Kapruners unverbrüchlich gebunden erachtete. Wenn die Balken der Decke eingestürzt wären, hätte das Entsetzen meiner Verwandten nicht größer sein können. Ich schaute in lauter fahle verzogene Gesichter. Nun muß ich bemerken, daß mir bis zu dem Augenblick auch der Gedanke nicht gekommen war, den ich da so ruhig und zuversichtlich aussprach; es war zwischen mir und Kapruner auch nicht mit einem Hauch dergleichen erörtert oder erwähnt worden, und ich wußte daher auch nicht, ob er mich als Weib und Gefährtin haben wollte. Denn als Weib hatte ich ja gesprochen, ganz gegen meine eigene Absicht. Aber ihre Mienen und Blicke trieben es aus mir heraus; etwas anderes hätte ich nicht zu sagen vermocht; es war wie Befehl. Dann geschah dies. Der Onkel verfügte, daß ich mein Zimmer nicht verlassen dürfe, bis der Vater benachrichtigt und dessen Bescheid eingetroffen sei. Als ich mich zu wehren versuchte, gebot er, mich einzusperren. Das ist also eure Logik, dachte ich, das sind eure Argumente: Gewalt; wie recht hatte Kapruner. Ich mußte mich fügen. Aber als ich die erste Nacht im versperrten Raum verbracht, und die Empörung über solche Schmach ins kaum Erträgliche gewachsen war, faßte ich den Plan zur Flucht. In der nächsten Nacht drehte ich aus Bettuch und Vorhangschnüren ein Seil und ließ mich zum Fenster herab. Nur mit einem Schal über den Schultern wanderte ich bei Regen den drei Stunden langen Weg in die Stadt; morgens um fünf Uhr trat ich bei Kapruners Mutter ein. Ihr Erstaunen war nicht geringer als meine Beklommenheit und Ratlosigkeit. Ich erzählte ihr das Vorgefallene, sie hört mir stumm und ernst zu. Dann, nach einer Weile, teilt sie mir mit, ihr Sohn habe in seinem bisherigen Asyl auf Sicherheit nicht mehr rechnen dürfen; die militärische Behörde habe sich seiner Person bemächtigen wollen; vorgestern sei er außer Landes geflüchtet; bis vor einigen Stunden sei sie in größter Sorge gewesen, ob er die schweizerische Grenze habe passieren können; um Mitternacht habe sie durch einen ins Vertrauen gezogenen Freund endlich die beruhigende Nachricht erhalten. Ich schwieg und grübelte vor mich hin. Wirklich, meine Lage war sonderbar genug. Im Haus der Mutter eines Mannes, für den ich eben alles hingeworfen hatte, was einem jungen Mädchen Existenz und Zukunft sichert, Familienbande, Verwandtschaftsgefühl, sogar das, was man im bürgerlichen Sinn Ehre nennt; eines Mannes, von dem ich nicht einmal wußte, ob er das Opfer anzunehmen gesonnen war, das ich ihm in leidenschaftlicher Aufwallung gebracht; ohne Geldmittel, ohne Erfahrung, ohne jeden Plan zu irgendeiner Tat, ja der Freiheit zu handeln gänzlich beraubt, was sollte aus mir werden? Ich durfte nicht einmal in der Wohnung der Frau Kapruner bleiben; mich dort aufzufinden, hätte meinen Leuten keine Schwierigkeiten bereitet; bis Kapruner von meinem abenteuerlichen Schritt unterrichtet war und seine Antwort kam, konnten Wochen vergehen, da man im schriftlichen Verkehr mit ihm die äußerste Vorsicht anzuwenden hatte; wohin derweil mit mir? Ich war seiner auch nicht sicher; das heißt, die innere Stimme gab mir recht, und auch die Stimme von ihm war in mir, die guthieß, was ich getan; aber vor dieser Frau, der ich mich im ersten Sturm meiner Empfindungen vielleicht zu naiv und rückhaltlos eröffnet hatte, schämte ich mich. Freilich merkte ich, daß er ihr von mir erzählt hatte, und so erzählt, daß ich mich nicht einer Zudringlichkeit zu zeihen brauchte; denn ihr Blick prüfte mich bis in den Grund; jedes Wort und jede Bewegung von mir haschte sie auf und suchte sich danach ein Bild von mir zu machen. Heimlich war sie mir nicht; ein Herz konnte ich mir nicht zu ihr fassen. Sie mochte Mitte der Fünfzig sein und war wohl einst schön gewesen; noch jetzt zeigte das Gesicht Spuren davon; aber sie hatte tiefliegende Augen, was mich an Menschen immer erschreckt, und eine Art von Schweigsamkeit, die mir die Brust einengte. Um bei alledem nicht zu lang zu verweilen, denn sonst würde ich bis zum Morgengrauen nicht fertig, will ich nur sagen, daß ich die nächsten Tage in einer Fremdenpension logierte; ich depeschierte von dort an einen Vetter meines Vaters, der mir immer viel Wohlwollen bezeigt hatte, um Geld, eine ziemlich große Summe, die ich ein Jahr später aus meinem mütterlichen Erbteil zurückerstattete; ich reiste dann in die Grenzstadt, wohin auch Frau Kapruner kam und wo ich die erste Nachricht von Heinrich empfing. Sie war so, wie ich sie, trotz aller Bangigkeit, unbewußt erwartet hatte; und konnte ja auch nicht anders sein, wenn das, was ich getan, wahr getan war. Er teilte mir mit, daß er vor seiner Abreise an mich geschrieben hätte; daß er mir angeboten, was ich vorweggenommen; daß er mich als seine Freundin, seine Schwester, sein Weib betrachte und wohl wisse, was er damit auf sich nähme, höhere Pflicht noch gegen die Welt, unabzahlbare Schuld, denn daß ihm aus dem harten Amboß seines Schicksals auch nur ein Funken Glück aufspritzen würde, damit habe er nie gerechnet, und jetzt sei es auf einmal eine ganze Garbe. Aber auch ich dürfe mir nicht verhehlen, was zu tragen ich mich unterfinge; der Weg, den er gehe, verspreche der Gefährtin nichts von Freude und Behagen, kaum irgendwelche Rast, und ob die Blöcke, die er vor sich wälze, ihn nicht eines Tages rückgleitend zermalmen würden, stehe dahin. Fast täglich schrieb er mir nun; jeder Brief ließ mich ihn mehr bewundern, seine tapfere Seele, sein unsägliches Ringen, und wie er freundlich war gegen die Menschen und an das Gute in ihnen mit kindlicher Unerschütterlichkeit glaubte. Drei Monate vergingen, da konnt ich zu ihm reisen, und wieder drei Monate, da heirateten wir. Seine Mutter zog zu uns. Sie allein zu lassen und ohne sie zu leben, wäre ihm nie in den Sinn gekommen, so wenig wie eine solche Möglichkeit für sie bestand.

»Um diese Zeit arbeitete Kapruner an einem großen Werk, das den Titel hatte: ›Fron und Hörigkeit in Staat und Gesellschaft‹. Es sollte seine Weltanschauung und die Summe dessen geben, was an Erkenntnis in ihm gereift war. Er verwandte die Stunden des Abends und meist auch die der Nacht darauf; Schlaf brauchte er nur wenig; der Tag war gefordert von persönlicher Wirksamkeit. Er gewann mehr und mehr an Ruf; seine Ideen breiteten sich aus und fanden Anhänger in allen Ländern. Die Menschen kamen zu ihm; sie wollten ihn sehen und hören; sie brachten Botschaften, Briefe, Beschlüsse, geheime Aufträge. Es gab Versammlungen, Diskussionen, Beratungen, eine weitverzweigte Korrespondenz, Nachrichtendienst, Abfassung von Manifesten und Fädenknüpfen nach allen Enden der Welt. Wir bewohnten etwas außerhalb der Stadt drei mäßig große Zimmer; die Mutter überm Flur ein kleineres Quartier für sich. Oft hatten wir nicht Raum genug für die Menge der Gäste, und Späterkommende mußten warten, bis wieder einige gegangen waren. Es kamen Journalisten, Schriftsteller, Abgeordnete, Philanthropen, Pazifisten, Flüchtlinge, Deserteure und Unterhändler von allen Nationen. Da waren aber Leute von recht zweifelhafter Gattung dabei; Menschen, denen der Verrat auf die Stirn geschrieben stand und deren bloßer Gruß schon doppelzüngig war; und Neugierige, und Schwätzer, und Wichtigtuer; und solche, die nur warteten, auf welche Seite sich die Wagschale neigen würde, damit sie sich in Sicherheit und ihr Schäfchen ins trockene bringen könnten; und dann die finsteren Fanatiker, die Aug-um-Aug- und Zahn-um-Zahn-Leute, denen es noch immer nicht blutig genug herging und die keinen Stein auf dem andern lassen wollten; und dann jene, die aus der Weltverbesserung ein Geschäft machten und am großen Brand ihre Suppe kochen wollten: was für Gesichter, was für eine Luft von Trug und List und Wahn; die paar edlen Männer und Frauen wurden in der unreinen Masse fast erdrückt. Auch unter ihnen war keiner und keine, was Kapruner war, so bescheiden und geduldig und so erglüht in der Sendung. Mir wurde manchmal angst und bang, und ich sprach von meiner Furcht, denn es gab ja immer einmal eine Stunde, wo wir für uns sein durften. Aber er redete mir zu, freier zu denken und das Ganze im Blick zu halten; die Menschen zu ändern, dazu seien wir nicht da, und das könne man auch nicht; nur lenken könne man sie und den Willen in ihnen stählen. Von Vorsicht und Auswahl wolle er nichts wissen, obschon er sich keiner Täuschung darüber hingab, wie das trübe Element um ihn immer gieriger wucherte. Jede große Idee hat ihren Troß, sagte er, und je mehr Morgendunst, je schöner bricht die Sonne durch. Wie nun sein Ansehen wuchs und der Widerhall seines Wortes kräftiger wurde, drangen seine Jünger und Gesinnungsgenossen in ihn, er solle als Führer unter sie treten, sobald die Zeit reif sei, und das verhießen und erwarteten sie bald; er müsse handelnd verwirklichen, was er im Geiste geschaffen. Dazu aber wollte er sich nicht verstehen; er erwiderte ihnen, daß es verhängnisvoll sei, wenn ein Mensch wie er seine ihm von der Natur gesetzten Grenzen überschreite; da kehre sich das Gute ins Üble. Es sei nicht seine Gabe, es sei nicht seine Bestimmung; eines sei der Gedanke, ein anderes die Tat; als Märtyrer bin ich euch ohnehin nicht verloren, rief er einmal lachend aus, und ich weiß noch, wie michs kalt überlief bei diesem Wort. Er zeigte bei solchen Anlässen eine bezaubernde Güte und Überlegenheit, und sein Charakter erschien mir wie ein Stück Edelmetall, dessen Schimmer durch das Zugreifen schmutziger Hände um nichts vermindert wurde. Eine solche Menschensubstanz übt eine Macht aus, einen beständigen magnetischen Bann, wenn man es so nennen will, und das Vorhandensein davon genügt allein schon, die Last des Lebens zu erleichtern und seine Aufgaben mutiger zu übernehmen. Aber das begriffen die wenigsten. Mir war ein Alp von der Brust, seit ich um seine offene Erklärung und Abwehr wußte, um so mehr, als mir da kein Einspruch erlaubt war; hätte es doch ausgesehen, als wollt ich ihn für mich bewahren und in meinen Ketten halten. So war unser Bund nicht; wir waren unter einem höhern Gesetz vereinigt. Aber es waren andere Ketten da. Wie er wider seine Überzeugung und sein tieferes Wissen und Gefühl doch hineingezogen, hineingerissen wurde in den Feuerschlund, drin er verbrannte, das will ich jetzt erzählen, obschon es schwer für mich ist. Schwer, davon zu sprechen und den Zusammenhang aufzudecken; da ist viel Geheimnisvolles dabei und Dinge, die vielleicht besser nicht ans Licht gezogen werden. Aber vielleicht soll es sein und ich mache es mir auf die Art selber einmal ganz klar.

»Es gibt Ehen, glaube ich, in der Mann und Weib zu einer Einheit werden, ohne daß sie einander mehr geben als eben die Person und die Existenz, mit der sie in der Welt stehen, ich meine ohne das gewisse Suchen von Verständnis und Verständigung und ohne das Bedürfnis und die Forderung immerwährender Nähe; bloß durch die Pflichten und Aufgaben des alltäglichen Tages. Ich sprach bereits davon, daß die besondere Art von Leben, die wir führten, uns selten in Ruhe zueinander kommen ließ. Kapruner teilte seine Zeit an die Arbeit und an die Menschen aus; von Sparen wußte er darin überhaupt nichts. Ich half ihm, soviel ich vermochte, und die Monate flogen wie im Sturmwind hin. Nur daß wir uns einig wußten, das gab Sicherheit. Der einzige Mensch, für den er an jedem Tag vorbestimmte Stunden erübrigte, war seine Mutter. Sie erwartete und verlangte es. Von jeher war es die Regel gewesen, und abgesehen davon, daß es Gewohnheit und Wunsch auch bei ihm war, wagte er gar nicht, sich dem zu entziehen. Sie hatte den größten Einfluß auf ihn; aber die eigentliche Beschaffenheit von diesem Einfluß habe ich nie ganz durchschauen und ergründen können. Er behandelte sie mit einer Rücksicht und Ehrerbietung, als ob sie ein höheres Wesen wäre. In allen schwierigen Angelegenheiten fragte er sie um ihren Rat und unternahm nichts ohne ihre Zustimmung. Niemals widersprach er ihr, aber sie war klug genug, daß sie ernste Meinungsverschiedenheiten und Konflikte nicht entstehen ließ, und oft kam ich auf den sonderbaren Gedanken, sie habe ihm dadurch, daß sie ihn in seiner entscheidenden Lebensrichtung nicht nur nicht behinderte, sondern bestärkte und antrieb, in einer tiefen Erkenntnis seiner Natur eine Gehorsams- und Dankbarkeitspflicht aufgezwungen, die er in allem übrigen, was sein Leben betraf, glaubte abtragen zu müssen. Es war jedenfalls ein seltsames Verhältnis, das mich immer in der Schwebe zwischen Verwunderung und unbestimmter Furcht hielt. Gegen mich betrug sie sich von Anfang an eigentümlich passiv. Es war, als nehme sie mich mit in den Kauf; als sie sich von meiner Fügsamkeit überzeugt hatte, sagte sie sich wahrscheinlich, daß ich für ihn die wünschenswerteste Kameradin, für sie die ungefährlichste Schwiegertochter sei. Da geschah es, daß ich im zweiten Jahr unserer Ehe in die Hoffnung kam, und von dem Zeitpunkt ab veränderte sich das Benehmen der Frau gegen mich. Sie zeigte eine Feindseligkeit, die mich erschreckte. Erst verhüllt und stumm, in ihrer verschlossenen Art, dann rückhaltlos und aufschürend. Ich war ihr nicht mehr recht. Ich war ihr plötzlich im Wege. Sie tadelte meine Führung, meine Haltung, meine Hoffräuleinsmanieren, wie sie es nannte; was ich machte, war in ihren Augen falsch; was ich sagte, mißbilligte sie. Oft bemerkte ich, daß ihr Blick mich mit dumpfem Haß verfolgte, dann wurde mir ganz unheimlich zumut. Ich flüchtete förmlich zu Kapruner; er suchte mich zu beruhigen und wollte mir das Betragen der Mutter als vorübergehende Laune und Verdüsterung darstellen, aber seine Erklärungen und Tröstungen hatten etwas Verzagtes, das mich noch mehr beängstigte. Er bewies mir die zarteste Sorgfalt in dieser Zeit, gab acht, daß ich mich schonte, las mir jeden Wunsch von den Augen ab, doch auch dies begann mich zu quälen, denn ich sagte mir, daß ich vielleicht dadurch eine eifersüchtige Erbitterung bei der Frau hervorrief. Ich raubte ihr Stunden, die Heinrich sonst ihr geschenkt hatte; ich nahm ihn mehr als früher für mich in Anspruch, wenn auch unvorsätzlich; das trug sie mir sicherlich nach. Ich teilte Heinrich meine Gedanken mit; er schaute mich ernst an und schüttelte den Kopf. Was aber war es? Vielleicht fürchtete sie bei unserer ziemlich beengten materiellen Lage den Zuwachs an Familie. Vielleicht hatte sie damit nicht gerechnet und machte mich für die Erschwerung der Lebenslast verantwortlich. Auch das war es nicht; wenigstens gab alles das nicht den Ausschlag. Da wurde ich zu Anfang des Winters recht schwer krank. Es war die Krankheit, die ich drei Jahre später noch nicht verwunden hatte, und die mich zu der Zeit, als mich die Fürstin hierhergebracht hatte, am heftigsten niederwarf. Auch damals war der Anfall so jäh wie nachhaltig, und es wurde so schlimm, daß ich in ein Sanatorium geschafft werden mußte. Viele Tage hindurch wich Kapruner nicht von meinem Bett; er pflegte mich selbst und war für keinen Menschen zu sprechen, außer für den Arzt. Eines Nachts, ich hatte hohes Fieber und lag beinahe bewußtlos, ging die Tür auf, und die Mutter trat herein. Ich glaubte zu sehen, daß Heinrich furchtbar bleich wurde; ich hörte sie miteinander flüstern. Plötzlich kam die alte Frau an mein Bett und schaute mich an. Ich hatte die Augen geschlossen. Es war mir, als stieß mich ihr Blick in eine Grube hinunter; etwas Verderbliches ereignete sich mit mir; ein ähnliches Angstgefühl hatte ich vorher nicht gekannt. Aber mitten in der Angst und mitten im Fieber wurde mir auf einmal klar, was im Innern der Frau vorging; ich erriet es nicht, ich sah es einfach, wie man ein Bild sieht. Die Ärzte hatten sich bemüht, das Kind zu retten; bis zu dieser Nacht hatte man es glauben dürfen; eine Stunde nachdem die Frau fortgegangen war, hatte ich nichts mehr zu hoffen. Vielleicht hat sie das Geschöpf mit ihren Augen in mir getötet. Und so war es: sie wollte nicht noch ein zweites Wesen zwischen sich und dem Sohn haben; sie zitterte davor wie vor nichts sonst in der Welt. Noch weiter teilen, noch mehr hergeben von ihm, noch mehr ihn entbehren, da sie ihn doch sechsunddreißig Jahre allein besessen hatte, das ertrug sie nicht. Besessen; ein anderes Wort zu sagen, ist nicht möglich; sie hatte ihn besessen; er war ihr Um und Auf gewesen, der Mittelpunkt ihres Denkens, ihr Licht, ihr Leben, ihr Außen und Innen; sie wußte nichts als ihn, sie kannte nichts als ihn, sie fühlte nur für ihn; alle anderen Menschen waren ihr wie Steine, wie Schatten. Das schlummerte zuerst nur als Ahnung in mir; dann, als ich mit Kapruner darüber sprach und er mir in seiner Erschütterung Punkt für Punkt zugeben und bestätigen mußte, erkannte ich auch den ganzen Umfang des Unglücks, das noch drohend über mir hing. Aus seinen zögernden Erzählungen ging hervor, daß sie ihn, den Sohn, aus einer Ehe mit einem schändlichen Mann nach qualvollen Kämpfen und jahrelangen Verfolgungen endlich für sich erobert hatte; daß sie sich mit der Willenskraft einer Riesin aus der tiefsten Armut herausgearbeitet hatte; für ihn; daß sie ihn durch seine Kindheit und Jugend förmlich getragen hatte, mit einer Zärtlichkeit und steten stummen aufreibenden Furcht vor Not, vor Krankheit, vor Menschen, vor dem ganzen Leben, die ihn hätten gefügig machen, in ergriffenem Staunen hätte erhalten müssen, auch wenn er ein herzloser Idiot gewesen wäre. So sagte er, so machte er es mir verständlich, und ich glaubte es, ich wußte es. Aber was sollte aus mir werden? Wie konnte da ein Zusammenleben gedeihen? Die Wirklichkeit übertraf meine ärgsten Vorahnungen. Die Frau auferlegte sich keine Scheu mehr. Sie hatte sich vielleicht mit der Erwartung betrogen, daß die Beziehungen zwischen mir und Heinrich mit der Zeit von selbst erkalten und daß er dann zu ihr, weil belehrt und seiner Illusionen beraubt, um so williger zurückkehren würde; als dies nicht der Fall war, und sie sah, daß sich Heinrich im Gegenteil noch herzlicher an mich schloß und mich die Enttäuschung mit dem Kind, die ich erlitten, auf alle Weise vergessen zu machen suchte, entwickelten sich geradezu teuflische Instinkte in ihr, und kein Mittel war ihr zu schlecht, um meine Stellung zu untergraben und Zwietracht zu säen. Ich will mich nicht zurückverlieren in dies Kleine und Gemeine, die häßlichen Anspielungen, die Verdächtigungen, die böswilligen Verdrehungen von Worten, den Unglimpf, den sie auf meine Herkunft warf, und von der Aristokratin sprach wie man von einem Auswurf spricht; die Art, wie sie meine Flucht aus dem Hause der Verwandten verächtlich machte; wie jede Handreichung einer hämischen Kritik unterzogen wurde; wie sie meine Schritte, mein Lächeln, mein Weinen, meine Ratlosigkeit, meine Verzweiflung sogar beargwöhnte; wie sie mich vor anderen herabsetzte, meine Ungeschicklichkeit in der Wirtschaft verspottete, mich zur Verschwenderin stempelte, jeden Fehler und Fehltritt aufbauschte, und wie Heinrich es hinnahm und dann wieder sich dagegen bäumte; wie er mich zu beschwichtigen, sie zu versöhnen trachtete; wie er in die Enge getrieben nach keiner Seite sich handelnd wenden mochte oder konnte: wozu es im einzelnen aus der Erinnerung locken, die es gern zugedeckt hält? Nur so viel will ich sagen, daß ich mir wie in die Hölle verdammt vorkam und daß ich ein Ende zu machen entschlossen war. Ein unbedeutender Anlaß führte die Entscheidung herbei; ich hatte eines Tages vergessen, einen wichtigen Brief abzuschreiben, den mir Heinrich diktiert hatte; es waren eine Menge Leute dagewesen, und im Trubel hatte ich das Konzept verlegt. Als Heinrich mich im Beisein der Mutter fragte, gestand ich es beschämt; die Frau fuhr mich an wie einen Dienstboten, der beim Diebstahl ertappt wird; Heinrich wies sie sanft zur Ruhe, beschwor sie, sich zu mäßigen; sie verließ grollend das Zimmer. Empörung schloß mir den Mund; ich antwortete nicht auf Heinrichs Bemühungen, mich zu versöhnen; Gerechtigkeit war mir hier zu wenig und Verständigung auch. Ich ging in die Schlafkammer, packte in Eile meine Sachen, kehrte zu ihm zurück und sagte, daß ich das Haus verlassen wolle. Er sah mich wortlos an. Wie steht es nun in unserem Fall mit Gewalt und Vergewaltigung, Heinrich? fragte ich ihn; darf ein Mensch seinen Liebesanspruch so weit treiben, daß er den andern zum Sklaven erniedrigt? erwirbt man durch die Liebe einen Freibrief auf Leibeigenschaft? und wenn der Sohn für ewige Zeiten seiner Mutter verfallen ist, als Leibeigener, ist dann seine Gefährtin schutzlos ausgeliefert? wie verträgt sich das mit deinen Anschauungen und deinem Leben? Ich war ganz ruhig, als ich ihn so fragte, und ich sah den schweren Seelenkampf in seinem Gesicht. Er schaute mich traurig an und erwiderte nach einer Weile, er sehe wohl ein, daß wir zu dreien unter einem Dach nicht länger hausen könnten, deshalb wolle er auch keinen Versuch machen, mich dazu zu bewegen; er schlage mir vor, mich für einige Zeit bei Freunden einzulogieren und nannte Namen und Wohnung dieser Freunde; inzwischen würde er mit sich selber ins klare zu kommen suchen und die Mutter auf die Trennung von ihm vorbereiten; denn daß er sich als zu mir gehörig betrachte, daran sei kein Zweifel möglich, für ihn nicht und hoffentlich auch für mich nicht. Er begleitete mich dann zu seinen Freunden, die ich nur oberflächlich kannte, und wir sprachen noch von der Zukunft und wie wir uns von nun an einrichten wollten. Es wurde aber alles ganz anders, als er es gesagt und geplant hatte. Er kam am dritten Tag; ich war bei den Leuten, einem zigeunerhaft lebenden Ehepaare, schlecht und recht untergebracht; ich kam mir vor wie verstoßen; er aber redete von seinen Versprechungen nicht mehr; in seinem Wesen war etwas Verstörtes, zugleich Schüchternes und Schuldbewußtes; nachdem er eine Stunde bei mir gewesen, entfernte er sich hastig. Dann schrieb er mir, am selben Tag noch; der Brief war voller Beteuerungen; daß ich ihm fehlte; daß kein äußerer Umstand, keine Macht der Erde uns voneinanderreißen könne; daß ich der einzige Mensch sei, der ihm geistig und seelisch unentbehrlich sei; daß aber der Entschluß, vor den ich ihn, vor den er sich selbst gestellt, den völligen Bruch mit der Mutter bedeute, und damit habe er sie nicht nur verloren, sondern auch, wie er wohl wisse, zur Verzweiflung und zum Untergang verurteilt. Es sei also natürlich und verzeihlich, wenn er mich noch um Frist bitte; überstürzen dürfe er nichts, falls er vor seinem Gewissen rein dastehen wolle. Ich fragte mich: warum schreibt er mir das? gebrichts ihm an Mut, mir sein Zaudern und Zurückweichen Aug in Aug zu bekennen? Er kam wieder; er kam täglich, aber es war quälend für mich, quälend für ihn und mit jedem Mal mehr. Jedesmal war er erregter, leidenschaftlicher, zerfahrener und aufgewühlter. Es trieb ihn von der Mutter weg zu mir und von mir weg zu der Mutter. Ich täte sehr unrecht, ihn der Charakterschwäche zu zeihen; Kraft ist relativ, und die Kraft jener Frau war ungeheuer und für gewöhnliche Menschen kaum zu ermessen. Ich hatte dem nichts Ähnliches entgegenzusetzen, keine solche dunkle Telepathie, und da ich gewahrte, daß es den Mann zerrieb und vergiftete, der mir über alles teuer war, daß er, hin und her irrend zwischen zwei Wesen, denen er sich in gleicher Weise verbunden fühlte, sich gänzlich verlieren mußte, so beschloß ich, zu verzichten und vom Schauplatz zu verschwinden. Ich brachte meine Papiere in Ordnung und fuhr, ohne ihn, ohne irgend jemand benachrichtigt zu haben, nach Deutschland. Die Stadt brauch ich nicht zu nennen; ich kann ihren Namen nicht mehr über die Lippen bringen, fast nicht denken, sie ist mir noch immer wie ein Ort, wo Feuer und Schwefel vom Himmel fällt und Menschen zu Teufeln werden. Ich lebte zwei, drei Monate aufs äußerste eingeschränkt, denn ich hatte nur sehr wenig Geld. Es war mir gelungen, ein Atelier zu mieten, dessen früherer Bewohner auf ein Jahr verreist war. Ich merkte nichts von dem, was um mich vorging und kümmerte mich um die Weltereignisse nicht. Ich war wie in mich selbst vergraben. Der Krieg war längst zu Ende; daß überall Aufruhr loderte, spürte ich wie im Schlaf; oft wenn ich ausging, hörte ich Getümmel, fernes Schießen, sah erhitzte oder ängstliche Gesichter, nachts rannten Menschen über das dröhnende Pflaster, aber ich redete mit niemand und las keine Zeitung. So einsam kann man nur in einer großen Stadt sein.

»Eines Abends pochts an der Vorzimmertür; ich erschrecke, frage, öffne: Heinrich steht vor mir. Er zieht mich ins Zimmer, umschlingt mich, stürzt vor mir nieder, preßt den Kopf in meinen Schoß und schluchzt. Um Gott, was ist geschehen? Wie verändert er aussieht; müde, die Züge verloschen, die Augen krankhaft flammend. Was ist geschehen? Er hat mich auf der Straße erblickt; gestern; von weitem bloß, wie einen Schatten, ist mir gefolgt, hat nicht gleich gewagt, zu mir zu kommen. Es ist gefährlich, wenn ich zu einem Menschen komme, höchst gefährlich für ihn, stöhnt er. Wieso bist du hier? frag ich. Er ist seit vielen Wochen hier. Er hat sich mit den Empörern vereinigt, er ist eines ihrer Häupter geworden; jetzt sind sie eingeschlossen, zum Teil gefangen, zum Teil geächtet, der Traum von Aposteltum und Menschheitswandlung ist ausgeträumt und das Erwachen grauenhaft. Warum hast du das getan, du, Heinrich, du? deinen Weg verlassen, deine beste Überzeugung verleugnet? Er sei nicht mehr er selbst gewesen nach meiner Flucht; er habe sich nicht mehr finden können; da erst habe er gespürt und erfahren, was ich ihm geworden war und er sei, wie um sich gegen eine übergreifende Macht zu rechtfertigen, in den Kampf gegangen, wie um sich durch die Tat zu erweisen, sich in ihr zu stählen und zu reinigen; oder in ihr zu enden und zu sühnen. Auch sei ihm mein Weggehen von ihm wie eine Aufforderung erschienen, seinen Fall bei einer höheren Instanz anhängig zu machen und sich gleichsam einem Gottesurteil zu unterwerfen. So sei er unter die Räder gekommen. Aber was nun, frage ich, was nun? Eh er noch antworten kann, hör ich Tritte von Menschen auf der Stiege, und es wird mit aller Gewalt gegen die Tür geschlagen. Da sind sie, sagt Kapruner; mach auf, es bleibt nichts anderes übrig, sie waren mir auf der Spur. Als ich gehn will, packt er mich am Arm und sagt, es gäbe nur einen Menschen, der ihn vielleicht retten könne; er nennt den Namen der Fürstin. Ich hatte ihm einmal erzählt, daß sie eine leibliche Verwandte von mir wäre. Sie befinde sich in der Stadt, sagte er, wohne im Ursulinerinnenkloster und habe sich durch eine weitverzweigte persönliche Hilfstätigkeit in Ansehen gesetzt, seit vielen Jahren, so daß ihr Wort bei allen Parteien Gewicht habe. Der Lärm verschlang seine letzten Worte fast; als ich mich zur Zimmertür wende und sie öffne, haben sie die Tür draußen in Trümmer geschlagen. Fünf oder sechs Soldaten in Stahlhelmen und Gewehr dringen finster ungestüm herein, hinter ihnen ein Leutnant, ein blutjunger Bursch, und kurz hernach noch ein Mann, der ein höherer Offizier zu sein scheint, aber im Sportanzug ist und eine Reitpeitsche im Stiefelschaft stecken hat. Handfesseln! schreit der Leutnant. Der Mann im Sportanzug geht auf Kapruner zu und fragt ihn, wer er sei. Er nennt seinen Namen, da reißt der Mensch die Reitpeitsche heraus und schlägt ihn ins Gesicht. Ich schreie auf; der Mensch kehrt den Blick zu mir; er scheint überrascht, scheint mich zu kennen, zu erkennen; auch mir ist, als hätte ich ihn schon früher gesehen, doch erinnere ich mich seiner nicht. Je länger er mich ansieht, je sicherer scheint er seiner Sache zu sein; schließlich war ja meine Heirat zum Skandal und unauslöschlichen Schimpf für meine Familie geworden. Als ich bittend die Arme ausstrecke, für Heinrich in meiner Ahnungslosigkeit bittend, gibt der Leutnant einem der Soldaten einen Befehl; der kommt auf mich zu, offenbar um mich festzunehmen; der andere Offizier winkt ihm ab, nähert sich mir und sagt mit dem Ausdruck kalter Verachtung, schnarrend scharf, ich solle schleunig gehen und dafür sorgen, daß man mir nicht mehr begegne; es sei um meines Vaters willen, dessen Namen ich getragen, daß er mich schone. Heinrich schaut mich starr an; was er mir aufgetragen, bringt mich in Bewegung; ich zwänge mich durch die Leute, fliege die Treppen hinunter, an einem Posten vorüber, der mir verdutzt nachschaut und eine Gebärde macht, als wolle er das Gewehr anlegen, hinaus auf die Straße, in die Nacht hinaus. Ich laufe sinnlos in irgendeine Richtung; ein Auto kommt mir in den Weg; ich rufe, springe hinein, nenne das Kloster, eine Viertelstunde darauf lieg ich vor der Fürstin auf den Knien. Ich kann nicht mehr sagen, wie ich zu ihr gelangt bin, wer mich zu ihr geführt hat, was ich zu den Frauen geredet habe, ob sie schon zu Bett war. Sie sieht mich, hört mich und es ist als wären wir gestern beisammen gewesen. Sie weiß von mir, sie weiß von Kapruner, sie kennt mein Schicksal; Worte zu verlieren, ist nicht nötig; ihr ganzes Wesen drückt aus, daß jede Sekunde kostbar ist. Wir sitzen wieder im Wagen. Wir fahren in eine Kaserne. Niemand kann Auskunft geben. Es ist Mitternacht vorüber; Nachrichten zu erhalten ist schwer. Wir fahren in eine andere Kaserne; in eine dritte; zum Polizeigebäude; zum Justizpalast; ins Kriegsministerium; nichts, nichts. Überall aufgeregte Menschen, sonst nichts. Während wir weiter und weiter fahren, straßauf, straßab, hat die Fürstin meinen Kopf auf ihren Arm genommen; sie spricht nicht, aber ihr Atem, ihr Blick, ihre Berührung ist wie Arznei, wie was Überirdisches, als ob man von oben her in den eigenen Schmerz, in die eigene Angst schauen könnte und Leben und Tod nicht mehr das Wichtige wären. Gegen drei Uhr begegnen wir einer Kolonne mit einem Obersten an der Spitze; eine Gefangeneneskorte. Die Fürstin läßt halten; sie kennt den Oberst; er begrüßt sie ehrerbietig; er nennt einen Ort etwas außerhalb der Stadt, wo viele Aufrührer hingebracht worden sind. Zwanzig Minuten später sind wir dort. Ein großer düsterer Hof, von ein paar Laternen erleuchtet. Vor uns eine glatte Mauer, wo dreißig bis vierzig Leichname liegen. An einer andern Mauer lehnen Gewehre; Soldaten gehen auf und ab. Vor der Fürstin treten alle zur Seite; einige salutieren. Sie wendet sich an einen Unteroffizier. Der schüttelt den Kopf. Ein anderer tritt heran. Kapruner? der werde wohl unter den Erschossenen sein. Ein dritter weiß besser Bescheid; zu einem so ehrenvollen Tod habe es der Kapruner nicht gebracht; er deutete in einen finsteren Winkel, wo ein zerfetzter menschlicher Körper liegt, ein formloser, blutiger Haufen Fleisch. Nur die rechte Hand ist heil. Als ich auf den Boden hingesunken war, ist die Fürstin neben mich hingekniet, hat sich über mich gebeugt und mir die Augen geküßt. Das war das letzte, was ich sah und spürte, dann lange Zeit nichts mehr. Gut, daß das Wissen aufhörte; der nächste Atemzug war schon im Wahnsinn geschehen.«

Fides schwieg. Ihre Stimme hatte am Schluß etwas Gläsernes bekommen. Jetzt senkte sich der Kopf tief herab; die Lippen waren zusammengepreßt, die gefalteten Hände wie ohne Leben. Plötzlich zuckte sie förmlich auf und sagte mit geistesabwesendem Lächeln: »Es ist spät. Man muß schlafen gehn. Gute Nacht.« Rasch erhob sie sich und ging.

Faber jedoch blieb noch länger als eine Stunde am Tisch sitzen.


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