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Indessen wartete Eugen. Er überließ sich der Erwartung wie einer tragfähigen Woge, die den ermüdeten Schwimmer an ein Ufer wirft. Während er Haus und Heim floh, konnte er sich vielleicht einbilden, daß dort entscheidende Umstände an einer Wandlung wirkten. Doch war es nicht so sicher, daß er derlei Hoffnungen hegte. Im ganzen machte sein Wesen einen gedrückten und zerfahrenen Eindruck. Er ließ merken, daß ihn jede Art von Beobachtung belästigte und jede Art von Sorgfalt, die man etwa seinem Behagen zuwandte. So oft Fides ihn nach Bedürfnissen und Wünschen fragte, gab er mürrische und kurze Antworten. Ihr ruhig forschender Blick, er nahm keinen Anstand, es zu zeigen, war ihm ebenso unbequem wie die angstvoll fragende Miene der Mutter. Dann und wann erschien er bei Fleming, saß eine Weile, knüpfte ein belangloses Gespräch an und beeilte sich plötzlich, wieder fortzukommen. Es schien ihn sogar Überwindung zu kosten, sich mit Christoph zu beschäftigen; in den klaren Augen des Kindes lag zu viel natürliche Wißbegier und tadelnde Verwunderung. Auch war es ärgerlich, sich immer erst an die unvermeidliche Fides wenden zu müssen, wenn er den Knaben für ein paar Stunden für sich haben wollte. Als er sich darüber in dunkler Verstimmung bei Fleming beklagte und dieser nicht recht wußte, was er erwidern sollte, fügte Faber widerwillig erklärend hinzu: »Wo soll ich mit ihm hin, sag mir? Spazieren gehen? Ich kann nicht spazieren gehen. Das gehört zu den seltsamen Dingen, die einem da drüben im Osten geschehen: man kann nicht mehr spazieren gehen. Du lachst? Aber ist es nicht vielmehr lächerlich, das was man in Europa so nennt: spazieren gehen –? Ein Mensch, der die Natur als Genußmittel benutzt und sie hinter sich bringt, indem er seine Beine in hygienische Bewegung setzt.«
»Na, na, na,« sagte Fleming bedenklich. »Was hast du denn, mein Lieber, was tust du denn? Verachtest du uns gar so sehr? Mutterschoß und Vaterswerk, alles verachtest du?« Und als Faber schwieg, setzte er leise hinzu: »Du tust mir leid, Eugen. Du kommst mir vor wie jemand, in dem sich Gedanken und Worte und Wollen und Tun gestaut und gestaut haben, daß ihm beinahe die Hirnschale zerbirst. Verkrampf dich nicht, Guter. Weißt du, ein europäischer Mensch ist noch immer etwas Schönes und Edles, ... wenn er einer ist, nota bene. Haben wir nicht zweitausend Jahre Wissenschaft und Kunst im Blute und viele tausend Jahre Sehnsucht? Sehnsucht ist nichts Asiatisches.«
»Das mag wahr sein,« murmelte Faber und machte eine Bewegung mit der Hand als wolle er ein Bild von den Augen wegwischen. Er stand auf, ging durch das Zimmer, blieb vor Fleming stehen und sagte mit fernirrendem Blick: »Vielleicht täusche ich mich. Vielleicht bin ich ein anderer geworden und nur ich allein weiß es nicht. Vielleicht ist sie nicht mehr dieselbe und alle wissen es, bloß ich nicht. Das müßte man herauszubringen suchen. Wenn man sich nur einmal eine Sekunde lang mit den Augen des andern sehen könnte! Aber da das unmöglich ist, macht man alles falsch.«
»Ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst,« sagte Fleming.
»Ist auch überflüssig,« erwiderte Faber schroff und wandte sich ab. Und abgewandt sprach er: »Heute Nacht hab ich einen Traum gehabt ...«
Fleming, der emporschaute, sah, wie ein Schauder über seinen Rücken flog. »Erzähl mir den Traum,« bat er.
Aber Eugen ergriff seinen Hut und ging.
»Daraus kann nichts Gutes werden,« sagte Fleming vor sich hin und nahm die unterbrochene Arbeit an seinem Zettelkasten seufzend wieder auf.
Am selben Abend wartete Faber an der Haltestelle der Tramway auf Martina. Anderthalb Stunden ging er zwischen einer Plakatsäule und einem Laternenpfahl auf und ab und neunzehn elektrische Wagen fuhren durch die einsame Straße bis sie endlich mit der zwanzigsten kam. Sie war überrascht ihn zu sehen, aber sie zankte ihn aus. Damit erweise er ihr nichts Liebes, wenn er auf sie warte, äußerte sie; das müsse ihn ja gegen sie erbittern und sie selbst verliere die Freiheit.
»Freiheit?« fragte er leise und bot ihr den Arm; »liegt denn so viel daran?«
»Alles«, erwiderte sie ohne Besinnen.
Die nächtlichen Straßen einer Stadt seien etwas Schreckliches, sagte er; sie des nachts allein auf der Straße zu denken, sei in all den Jahren eine der peinlichsten Vorstellungen gewesen, quälender fast als die von Krankheit und wirklicher Gefahr. Sie lachte leise vor sich hin und lehnte flüchtig die Wange an seine Schulter. »Dummer Eugen, wenn du wüßtest, was für Wege ich gegangen bin,« sagte sie.
Er antwortete: »Du siehst ja, ich habs gewußt. Man weiß es unten. Das Nichtwissen oben ist nur die Trägheit der Nerven.«
Ins Zimmer tretend, erblickte Martina die schönsten Blumen, Rosen und Orchideen. Er hatte sie mit Sorgfalt und Kenntnis ihrer Vorliebe ausgewählt und mit vielem Geschmack zu Sträußen gebunden. Wieder war sie überrascht, und es schien, daß die Betrübnis über seine Unrast, sein Nichtbleiben und Nirgendsverweilen, die sie all die Tage her empfunden hatte, sie zu Worten dränge. Keinesfalls vermochte sie sich die Wandlung zu erklären, und nach welcher Seite auch sie ihre Gedanken lenkte, überall erhob sich die Furcht, das sah man ihr an.
Faber jedoch lauerte mit einer Art von Hunger auf den Ausbruch der Freude, an den er einst gewöhnt gewesen, wenn er ihr Blumen gebracht. Es war, damals, nie ohne einen herzlichen Anlaß geschehen, es war immer wie das Zeichen zu einem Fest. Und jetzt? Sie strich mit kosenden Fingern über eine Malmaisonrose und hielt den Kopf gesenkt. Sie dankte flüsternd. Hatte sie nicht ein wenig die Miene eines Schuldners, der argwöhnt, daß man ihn um Bezahlung drängen wird und nicht weiß, wie er zahlen soll? der Angst hat, um Frist zu bitten, obwohl viel davon abhängt, daß ihm Frist gewährt wird –?
Eugen grübelte und begriff nicht.
Es zeigte sich aber, daß sie an diesem Abend ganz ungewöhnlich müde war. Sie vermochte sich kaum aufrecht zu erhalten und selbst das Sprechen fiel ihr schwer. Sie ließ sich in den Fauteuil sinken, bat, daß er die Hängelampe herunterziehe, damit der Schein sie nicht blende und schloß die Augen. Er kniete nieder, um ihr die Schuhe auszuziehen; sie ließ es geschehen. Er löste die Nadeln aus ihrem Haar, öffnete die Frisur und ließ die braungoldne Last vorsichtig über die Rücklehne des Sessels fließen. Sie ließ es geschehen und reichte ihm still, mit geschlossenen Augen die magere kühle Hand, die er an die Lippen preßte. Er fragte, ob sie nicht eine Tasse Tee haben möchte. Sie nickte. Es war schon spät, elf Uhr vorüber, Fides war langst zu Bett gegangen, so ging er in die Küche, stellte Wasser auf den Gaskocher, suchte die Teebüchse und bereitete den Tee auf die Art, wie er es in China gelernt hatte. Er trug die Kanne hinein, reichte Martina die gefüllte Schale und hielt die Untertasse, während sie in kleinen Schlücken trank, lächelnd und immer mit geschlossenen Augen.
Dann setzte er sich nahe zu ihr und ergriff ihre Hand. »Sieh doch, wie du dich herunterrackerst,« begann er und streichelte fortwährend ihren Handrücken; »bald wird nichts mehr von Martina übrig sein. Die Wangen sind schon hohl; auf der Stirn sind eins, zwei, drei Leidensfalten, und mit den Lippen, die mal so rot waren, kann man auch keinen Staat mehr machen.«
»Da bin ich ja eine hübsche Vogelscheuche geworden,« sagte Martina wie im Schlaf.
»Sag mir, Martina, wie du wünschest, daß ich sein soll,« fuhr er in tiefer Schmeichelei fort, »sprich ganz offen, ich will mich nach deinen Worten richten.«
Martina wandte ihm das Gesicht zu, ohne die Augen zu öffnen. »Kann man denn anders sein als man ist?« fragte sie, und die blassen Wangen überhauchten sich mit einer rasch wieder vergehenden Röte; »wie meinst du denn, daß du warst? wie meinst du denn, daß du werden sollst? Hab ich mich denn beklagt? Wir sind doch erwachsene Leute. Jedes hat seinen Weg.«
»Nicht so, Martina, nicht so,« unterbrach er sie bittend; »ich will über das Mißverständnis hinüber, von denen keiner von uns weiß, worin es besteht. Dazu ist nötig, daß wir einen Punkt finden, wo sich die Wege schneiden. Dann kann man entweder zusammengehen, oder ...«
»Oder –?« forschte sie gespannt und tat zum erstenmal die Augen auf.
»Oder nicht zusammengehen. So wie jetzt, daß man sich ein einziges Mal am Tage am Kreuzungspunkt der Wege trifft, das eine zum Verlöschen müd, das andere von seinen Gedanken zermartert, so gehts auf keinen Fall. Und wenn ich sage, daß ich werden will, wie du mich wünschest, um jeden Preis, den du etwa fordern könntest, um jedes Opfer, so meine ich damit selbstverständlich, daß du mir die Gegengabe bringen mußt, das Gegenopfer, den Preis eben, den ich dir wert bin.«
Martina schaute ihn schweigend an. Ihre Augen hatten etwas Sternhaftes, so fern schienen sie, so zitternd in ihrer Ruhe. Plötzlich schüttelte sie heftig den Kopf und sagte fast tonlos: »Nein. Verlang es nicht. Nein. Nein. Nein.«
Faber erbleichte. Aber er behielt ihre Hand in der seinen und streichelte sie nach wie vor. »Und wenn ich dir,« fuhr er fort und beugte den Kopf zu ihr herab, »wenn ich dir diene mit aller meiner Kraft. Wenn mir der Schall deiner Tritte ist, was einem frommen Menschen das Läuten von Feiertagsglocken. Wenn ich aufmerksam und wachsam sein will, wie nie ein Mann aufmerksam und wachsam war. Wenn ich dich wie eine Prinzessin halten und an deinem Blick und Atem hangen will wie das Baumblatt am Licht. Wenn ich meinen Sinn darauf richten will, reich zu werden und zur Linderung von Menschenleiden und Mehrung des Glücks von Kindern tun will, was du bei aller Mühe und Arbeit doch nicht leisten könntest. Auch dann nicht? Halt, halt, sprich noch nicht. Laß mich dir noch sagen, daß diese Worte nicht wiederkehren können, so wenig wie die Stunde, in der sie gesprochen sind, so wenig wie der Antrieb, der sie jetzt, aber nicht mehr zum zweiten Male formt. Und noch will ich dir sagen, daß damit, mit allen diesen Worten, der Zauberkreis ja schon verletzt ist, darin wir so lang gewohnt haben, du und ich, daß wir also ohnedies schon mit einer Schuld anfangen, die nicht mehr auszugleichen ist. Was antwortest du mir?«
Martina erhob die Hände, packte seine beiden Schultern, sah ihn fest an und erwiderte: »Ich kanns nicht.«
»Warum, Martina?« kam es dumpf und tot von seinen Lippen.
»Warum? das kann ich dir nicht sagen. Wenn dus nicht spürst, wie du jetzt meine Arme und meine Brust spürst, so kann ich dirs nicht sagen. Ich weiß nur eins, Eugen: so hättest du nicht kommen dürfen.«
Er packte ihre Handgelenke, und preßte sie wie in einem Schraubstock. »Wie meinst du das: So?« murmelte er verstört.
»O Gott!« stöhnte sie. Ihr Kopf fiel auf die Seitenlehne des Sessels, und sie weinte.
Ein paar ewige Minuten vergingen. Dann sagte Faber, er hatte Martina losgelassen und das Gesicht abgekehrt: »Wenn du wüßtest, wie mich friert, wie mich fiebert.«
Sie schnellte mit dem Oberkörper empor und drückte die Faust an ihren Mund. So blickte sie ihn an.
»Ich muß dir einen Traum erzählen, den ich heut nacht gehabt,« sagte er.
Sie machte sich schmal im Sessel. »Komm her,« sagte sie eifrig, »setz dich zu mir, ganz nah zu mir, und erzähl mir den Traum. Komm, mein Liebster, ganz nah zu mir.« Sie umhalste ihn, schmiegte den Kopf an seine Brust und lauschte.
Er erzählte: »Ich saß in einer Matrosenkneipe, in einer Hafenstadt. Um mich herum lauter verkommene, verluderte Subjekte, Männer und Weiber. Niemand kümmerte sich um mich, aber ich wußte, wenn ich die geringste Bewegung mache oder nur eine Silbe rede, fallen sie alle über mich her. Weshalb war ich aber da in dieser Kneipe, in der alles so verrucht und traurig war? Weil ich heruntergesunken war wie in tiefes Wasser, und ich hatte bloß den einen Gedanken: nie mehr wirst du an die Oberfläche kommen, alles Süße hast du verloren. Komischerweise war es besonders dieses Wort: das Süße; das Süße hast du verloren, schrie es in mir; du kannst dir nicht vorstellen, mit welcher Gewalt. Nie hab ich so einen Ausdruck gedacht; außer in diesem Traum ist mir nie so etwas eingefallen. Und das Süße war etwas ganz Bestimmtes, mußt du wissen, es schwebte mir vor als eine silberweiße Eidechse. Ich war so erfüllt von dem Verlangen danach, daß ich mich platt auf den Boden warf, das Gesicht auf die schmutzigen Dielen preßte, und unter dem tobenden Gelächter des ganzen unflätigen Haufens blieb ich liegen, während ich die Fingernägel ins Holz grub und die Lippen blutig schürfte. Da näherte sich mir eines von den Frauenzimmern, das scheußlichste und lasterhafteste von allen; höhnisch entblößte sie ihren Busen, und da, zwischen den Brüsten glitzerte die silberne Eidechse, genau wie ich sie in meinem schrecklichen Verlangen gesehen hatte. Wie ich nun aufspringen will, ergreift sie das Eidechschen und hält es mit den Armen in die Höhe. Ich kniee vor ihr, da grinst sie mich hexenhaft an und schreitet mit dem erhobenen Tier noch rückwärts; und ich, in der Angst und Verzweiflung, ich könnte das silberweiße Gebild nicht erreichen und bis an die Haut bedrängt von all den Menschen in dem engen Raum, krieche ihr auf allen Vieren nach, selber wie ein Tier, und das Johlen und Gröhlen wird immer ärger und reißt mich endlich aus dem Schlaf.«
Es entstand eine Pause. Dann sagte Faber kaum vernehmlich: »Mich dünkt, so einen Traum darf man eigentlich gar nicht erzählen.«
Martina schaute versonnen vor sich hin, lange Zeit. Dann umschloß sie mit den Händen seinen Kopf, sah ihm ernst und gespannt in die Augen und sagte: »Komm in fünf Minuten zu mir.« Damit erhob sie sich und ging in ihr Schlafzimmer. Keine Fiber regte sich an ihm, nicht einmal die Lider zuckten, während er wartete. Und als er dann aufstand, um ihr zu folgen, kam ein Seufzer der Befreiung aus seiner Brust, wie wenn Ketten von ihm fielen.
Aber als sich ihre Körper miteinander vermischt hatten, als Mund von Mund sich gelöst hatte, herrschte ein Schweigen zwischen ihnen, dessen Gewicht und Dunkelheit sich von Sekunde zu Sekunde vermehrte und das sich wie eine Wolke über ihnen ausbreitete. Faber hatte das Gesicht zur Decke emporgerichtet, die Lippen standen halb offen, die Pupillen waren starr, und in seinen Zügen war förmlich lesbar geschrieben: ist es möglich? kann das denn sein? Martina lag zusammengeduckt auf der Seite, den Kopf zwischen die nackten Ellbogen geschmiegt, und in ihren Augen flimmerte Scham, die nicht den Mut besaß, sich so zu spüren, indes ihre reine Stirn der Kummer einer Frau belud, die die unwiderrufliche Bestätigung gehegter Furcht und Ahnung erfahren hat.