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Da der folgende Tag ein Sonntag war, begab sich Christoph, als er mit den Morgengeschäften fertig war, zu seinem Vater, um verschiedene schwebende Angelegenheiten mit ihm auszumachen, deren Besprechung er bis jetzt verschoben hatte. Zudem gingen in den nächsten Tagen die Ferien zu Ende, und vorher mußten reinliche Verhältnisse geschaffen werden. Zuerst wollte er die Sache mit dem neuen Hausbesitzer zur Debatte stellen: vor etwa zwei Monaten war nämlich das Haus an einen Herrn Schadenbach verkauft worden, einen Lederhändler, der die Wohnung im dritten Stock unter der Faberschen innehatte, dortselbst auch seit Jahr und Tag mit seiner Familie friedlich gewirtschaftet hatte, jedoch seit seiner neuen Würde, die wieder eine Folge neuen Reichtums war, die Parteien auf alle mögliche Weise drangsalierte und in ihrem Behagen störte. Bald verdroß ihn in einer Etage das Teppichklopfen, bald in einer andern das Klavierspiel; bald lief ihm die Wasserleitung zu lange; bald schlug einer mit den Türen; bald lag Schmutz auf der Stiege, bald warf ein dienstbarer Geist irgendwelche Objekte zum Küchenfenster hinaus; kurz, er hatte beständig Anlaß zu zetern, und manchmal schallte seine rohe Stimme halbe Stunden lang durch sämtliche Stockwerke. Darüber ärgerte sich Christoph. Er ärgerte sich beinahe täglich über Herrn Schadenbach. Er haßte Herrn Schadenbach wegen seiner Anmaßung und seines Geschreis. Er hatte schon oft mit Fides über den Fall beraten; aber Fides' Meinungen waren schwankend; die rechtliche Grundlage von Herrn Schadenbachs Übergriffen, denn Übergriffe waren es, wie man es auch betrachtete, waren ihr nicht ganz klar. So trat er also, mit unabgekühlter Empörung noch immer, vor seinen Vater.
Zu erkunden war: erstens ob Herr Schadenbach befugt sei, einen so unanständigen Krawall zu verüben, da doch der käufliche Erwerb eines Hauses niemandem, selbst fetten und bärtigen Personen nicht, das Recht gab, seine Bewohner zu mißhandeln; zweitens aber, wenn die meisten Leute schon so feig seien, sich derartiges gefallen zu lassen, wie man dann Herrn Schadenbach beikommen könne. Beikommen; so sagte er; ein kräftiger und einleuchtender Ausdruck in seinem Munde. Und er erwartete von seinem Vater auch einen kräftigen und einleuchtenden Bescheid.
Aber hierin wurde er enttäuscht. Faber vermochte nur einige allgemeine sozialkritische Bemerkungen zu formulieren, aus denen Christoph den Schluß zog, daß der Schatz seiner Erfahrungen in diesem Punkt nicht eben groß sei. Er zeigte ein konventionelles Bedauern über diese Unzulänglichkeit, überlegte eine Weile mit gefalteter Stirn, wie er sich ferner zu verhalten habe und ging dann zum nächsten der vorgesetzten Probleme über. Nämlich: ob ein Regenwurm, wenn man ihn entzweigeschnitten, auch zwei Seelen habe, da sich doch jeder Teil selbständig weiterbewege; oder vier Seelen, wenn man ihn vierteile; oder ob Regenwürmer überhaupt keine Seele hätten und sich dadurch etwa ihre Gleichgültigkeit gegen so umfassende Operationen erklären lasse? Seele; was sei überhaupt Seele? Der Vater möge ihm begreiflich machen, was eine Seele sei.
Faber bemühte sich herzlich, aber mit geringem Erfolg. Wie, Menschen besäßen eine Seele und Affen nicht? Oder wenn man sie den Affen zugestehe, warum den Hunden nicht? den Ameisen nicht? einem Baum nicht? einem Wasserfall nicht? Wo fange Seele an, zu sein? worin zeige, worin beweise sie sich? Habe vielleicht Herr Schadenbach eine Seele und das Pferd da drunten vor dem Karren nicht? In so kategorischer Manier zur Rede gestellt, konnte Faber nur mit dem Absud einer tausendjährigen Popularphilosophie antworten, Christoph hatte kein Verständnis dafür. Er seufzte, durchschritt energisch das Zimmer und kam zum dritten und letzten Gegenstand seiner Denkarbeiten: Weshalb die Mutter verreist sei? weshalb sie, da sie zu Hause einen Mann und ein Kind habe, mit einer fremden Dame weggefahren sei? Ob denn das Frauen dürften, so einfach wegfahren? ob es dagegen kein Gesetz gebe? seien denn Frauen frei? so frei wie Männer? Könnten sie tun, was ihnen beliebe, oder hätten Männer bloß nicht den Mut, ihnen ordentlich zu sagen, was sie dürften und nicht dürften? Das wolle er wissen.
Bei diesen Worten war Fides eingetreten, die das Frühstück für Faber brachte. Sie lächelte kaum merklich, strich im Vorbeigehen mit den Fingern durch Christophs Haar und ging wieder hinaus. Faber nahm den Knaben auf den Arm und drückte ihn an sich. Er war in der Lage eines Mannes, der als Autorität in einem Prozeß angerufen wird, bei dem er selber Kläger ist. Der Knabe schien den Betrug zu spüren, der durch Zärtlichkeit an ihm verübt wurde, und sträubte sich gegen die Zärtlichkeit. Er sah den Vater aufmerksam an und verzog dann das Gesicht zu einer pfiffigen Grimasse, wobei er Martina in komisch wirkender Weise ähnlich wurde. Faber setzte ihn neben sich aufs Sofa und suchte ihn durch Erzählungen abzulenken. Er erzählte von malaiischen Piraten und indischen Tempelstädten und den Urwäldern Ceylons, doch beging er aus Zerstreutheit einige Verwechslungen, und Christoph sah sich genötigt, ihn tadelnd zurechtzuweisen. Er vernahm es nicht ungern, als der Knabe ihm ankündigte, daß er bei Tante Klara zu Mittag eingeladen sei. Als später Anna Faber kam, um den Enkel mitzunehmen, sperrte sich Eugen in seiner Stube ein und ließ sich verleugnen. Gleich hernach kam Fleming, und er ließ sich auch vor dem verleugnen.
Beim Mittagessen saß er mit Fides am Tisch. Sie sprachen von gleichgültigen Dingen. Nach jeder Frage und Replik entstand eine bleierne Pause. Als er wieder in seiner Stube war, versuchte er zu lesen, konnte sich aber nicht sammeln und legte das Buch beiseite. Gegen vier Uhr ging er zu Hergesells, um Christoph abzuholen, wie er es mit Fides vereinbart hatte. Seine Mutter traf er nicht an. Sie verschwinde jetzt jeden Tag für mehrere Stunden, teilte ihm Klara mit; Klara vermutete, daß sie Valentins Aufenthalt ausfindig gemacht hatte und diese Zeit in aller Heimlichkeit bei dem angebeteten Lümpchen zubrachte, denn sie käme meist ganz wohlgelaunt und animiert zurück; manchmal freilich auch in Sorgen und Gedanken. »Ich warte jeden Tag auf die Katastrophe, die sich schließlich doch mit dem Jüngling ereignen wird,« sagte Klara mit ihrer sich selbst persiflierenden Trockenheit und einer Menge Parallelfalten auf der Stirn; »es ist bereits langweilig, und man möchte, daß einem der verdammte Ziegelstein endlich schon auf den Schädel fällt. Und was treibt der Herr Bruder?« fuhr sie fort; »er macht sich selten, wie ich merke. Martina ist nach England gereist, geht das Gerücht. Die kleine Martina wird sehr betriebsam, scheint es.« Sie betrachtete Eugen von der Seite, wie ein Huhn, während sie ihrem ältesten Töchterchen das Haar kämmte. Sie hatte beide Kinder tags zuvor vom Land heimgebracht.
Zu Hause fand Eugen ein Telegramm von Martina, in welchem sie ihre Ankunft in London meldete. Er saß müßig und unfroh am Fenster und sah zu, wie es dämmerte, wie es finster wurde. Er lauschte den in ein dumpfes Gedröhn zusammenfließenden Geräuschen der Stadt: Glockengetön, Räderrollen, Stimmen und Schritten. Christoph kam und sagte ihm gute Nacht. Er blickte den Vater prüfend an, enthielt sich aber diesmal des Fragens. Erst als ihn Fides zum Essen rief, erhob sich Faber. Sie ließ ihn allein bei der Mahlzeit. Später räumte sie schweigend den Tisch ab, und gegen neun Uhr fragte sie ihn, in der Tür stehenbleibend, ob er noch etwas wünsche. Er verneinte; stockte; dann entfuhr es ihm, halb wider Willen, ob sie sich nicht zu ihm setzen wolle; der ganze Tag sei ihm so öde gewesen.
Sie erwiderte nichts; nach ein paar Minuten kam sie und brachte ihre Näharbeit mit, Wäsche von Christoph, die auszubessern war. Sie nahm an der breiten Seite des Tisches Platz, dicht unter der Lampe und legte Zwirn, Schere und Leinwandstücke vor sich hin. Sie trug dasselbe schwarze Kleid wie gestern, eine frische weiße Schürze und um den Hals, an einem schwarzen Band, ein schwarzes Medaillon mit einer winzigen Perle.
Faber schaute der beim Nähen maschinenhaft auf- und niedergleitenden Hand zu. Wie gestern schon, erregte diese Hand seine Neugier, als sei sie ein Wesen für sich, das genauer zu kennen reizvoll wäre.
Er sprach von Christoph; von seiner putzig-frechen Manier, die Leute zur Rede zu stellen und überall den Punkt aufs I zu nageln. Mit solcher Kohlhaserei werde er sich bald den Kopf wund stoßen an der Welt.
Fides pflichtete bei. Ein einziges Kind sei immer in Gefahr, sich in allem was es tue, zu übertreiben. Er sollte ein Geschwister haben, das wäre gut für ihn, meinte sie.
Ja, das wäre freilich gut, gab Faber zu. Ob der Bub die Fragen wegen seiner Mutter und deren Abreise auch schon an Fides gerichtet hätte? erkundigte er sich dann. Und als Fides nickte: was sie ihm geantwortet hätte? was man überhaupt darauf antworten solle? Er müsse gestehen, daß es ihn stumm und dumm mache. Er eigne sich darum schlecht zum Erzieher; es fehle ihm an Geistesgegenwart, und die müsse ein Erzieher doch vor allem haben.
Er habe natürlich auch sie ins Verhör genommen, entgegnete Fides; vorhin vor dem Einschlafen wieder; die Sache scheine ihn sehr zu beschäftigen. Sie habe ihm gesagt, er dürfe über seine Mutter erst urteilen, wenn er fähig sei, ihre Handlungen zu verstehen; dazu müsse er Erfahrungen sammeln und sein Gemüt bilden. Dann habe sie ihm allerdings begreiflich machen müssen, was das heiße: das Gemüt bilden; es sei ziemlich schwer gewesen. Aber sie habe doch erreicht, daß er nachdenklich geworden sei.
Um Fabers ausdrucksvollen Mund legte sich ein Zug, der alles mögliche bedeuten konnte: Beifall, Langweile, Überdruß, sogar Ironie. Er erhob sich, ging zum Fenster, setzte sich wieder, erhob sich wieder, ging zum Ofen, setzte sich dann in einen Sessel, der etwas abseits vom Tisch stand, legte ein Bein übers andere und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Fides nähte ruhig weiter und schien nichts von seiner Nervosität zu bemerken. Sie nahm den Zwirn in den Mund, biß ihn ab, wobei die schönen, etwas zu großen Zähne sichtbar wurden und fragte, ob er Kopfschmerzen habe.
Nicht gerade Kopfschmerzen, erwiderte er, aber der Kopf sei ihm benommen. Den ganzen Tag habe Föhn geherrscht; das vertrage er nicht. Auch jetzt noch sei die Luft draußen wie ein Backofen.
Wieder stand er auf, trat zum Fenster, öffnete es und schaute hinaus. Während er ihr den Rücken kehrte, hatte Fides' Gesicht einen Ausdruck bohrenden Besinnens. Als er sich umdrehte, schien es wieder ganz gleichgültig.
»Dahinten, wo das Mondlicht durchsickert, steht eine dicke, faserige Föhnwolke, noch immer«, sagte er und schloß das Fenster.
»Sind Sie denn so empfindlich gegen atmosphärische Einflüsse?« erkundigte sich Fides; »wenn man dagegen nicht abgehärtet ist, hat man viel zu leiden.«
»Es ist verschieden,« gab Faber zur Antwort, während er hinter Fides Stuhl auf und ab ging; »die Jahreszeiten geben den Ausschlag. Im Frühling acht ich weniger darauf als im Herbst. Immerhin, ein Tag wie der heutige ist von Anfang bis zu Ende ein Greuel. Man sollte sich an solchem Tag ins Bett legen und ihn nicht ins Bewußtsein lassen.«
Da er merkte, daß es ihr unbehaglich war, ihn im Rücken zu haben, ging er auf die andere Seite des Tisches und setzte dort seinen Marsch fort. Endlich nahm er wieder auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz, schaute wieder der emsigen Hand zu und fragte nach einer Weile: »Was flicken Sie da? Ein Leibchen? Es ist schon recht ordentlich zerstopft.«
»Freilich, was soll man machen, er zerreißt viel, der Bub«, seufzte Fides.
»Hat er die Fürstin schon einmal gesehen?« fragte Faber plötzlich, etwas scheu, mit dem Kopf gleichsam in die Richtung deutend, wo Christoph war. Er räusperte sich umständlich, als sei es ihm peinlich, die Frage gestellt zu haben.
»Gewiß; ein paarmal schon«, versetzte Fides. Als sie nach der Schere griff, entfiel ihr diese. Faber sprang herzu und hob sie vom Teppich auf. Auch Fides hatte sich gebückt, und ihre Haare berührten seine Wangen. »Danke schön«, sagte sie freundlich.
Faber lauschte gegen den Flur. »Hat das Telephon nicht geklingelt?« fragte er.
Fides erhob den Kopf und lauschte ebenfalls. »Nein«, sagte sie. Ihr Blick streifte seine Stirn, die gerade im vollen Licht war. Sie sah, daß er eine sehr schöne Stirn hatte, kräftig, eckig, mit nach innen gewölbten, weiblich feinen Schläfen. Sie wandte den Blick gleich wieder ab.
»Ich habe manchmal Gehörshalluzinationen, besonders was das Telephon betrifft«, sagte Faber unzufrieden. Dann, nach einer Weile: »Am ersten Abend hat es zweimal geläutet. Mitternacht war schon vorbei, und man hatte immer noch was mit Martina auszumachen.« Er lachte kurz und verlegen. Es war auch nicht recht klar, weshalb er gerade davon sprach.
Plötzlich fragte Fides, in beiläufigem Tone fast, aber doch so als wolle sie einer unnatürlichen Gespanntheit ein Ende machen: »Hat Ihnen eigentlich Martina damals geschrieben, wo und auf welche Weise sie der Fürstin zum erstenmal begegnet ist?«
Sie sandte einen blitzschnellen Blick zu ihm hinüber, um den Eindruck zu erforschen, den die Frage auf ihn machte, ob er sich näher darauf einlassen würde oder nicht, ob sie ihn angenehm berührte oder nicht. Ihr Gesicht hatte etwas Listig-Erwartungsvolles, aber sie wußte dies gut zu verbergen.
Er schien überrascht, wollte es jedoch nicht merken lassen. In gekünstelt lässigem Ton erwiderte er, er entsinne sich des Briefes, doch habe sich Martina auf eine flüchtige Schilderung beschränkt, wie ihn dünke. Er habe die einzelnen Umstände nicht im Gedächtnis behalten; nur daß sie der Zufall auf einem Bahnhof zueinandergeführt, sei ihm erinnerlich.
So hingeworfen dies klang, verriet doch seine Stimme, daß er das Thema nur höchst ungern wieder fallen lassen würde. Trotzdem stellte er sich, als errege ein kleiner gelber Nachtfalter sein Interesse, der um die Glühbirnen flatterte, und er haschte sogar nach ihm.
»Soll ich Ihnen erzählen, wie es war?« fragte Fides; »vielleicht sagt es Ihnen etwas.«
»Bitte; wenn es Ihnen nicht beschwerlich fällt«, entgegnete er, stützte den Ellbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hand, wie jemand, der sich bereitet, eine anregende, aber nicht besonders wichtige Mitteilung anzuhören.
Bisweilen im Nähen innehaltend, erzählte Fides das Folgende.
Martina hatte mit Christoph einen Ausflug gemacht. In die Waldgegend; den Ort wußte Fides nicht zu nennen; man hatte einige Stationen mit der Bahn zu fahren. Es war ein Feiertag. Bei der Rückkehr am Abend herrschte in der Bahnhofshalle ein beängstigendes Gedränge, da die halbe Stadt an jenem Tag im Freien gewesen war. Außerdem brach gerade ein Gewitter los, als sie mit dem Kind aus dem Zug stieg; die Leute stauten sich vor ihr, niemand wollte die schützende Halle verlassen. Während sie den Buben fest an der Hand hielt und sich schrittweise weiterschob, lockerte sich plötzlich die dichte Menge; es stehen Menschen im Kreis, und in der Mitte des Kreises gewahrt sie eine würdevolle, schöne alte Dame, von deren Haltung und Gesicht sie gleich aufs äußerste frappiert ist. Um sie herum Kinder, zehn bis zwölf kleine Mädchen, von denen sie sich verabschiedet, wobei sie mit jedem in ruhiger, mütterlicher Art, ungemein sanft und liebevoll spricht. Es scheint, daß sie sie tröstet oder ermutigt oder ihnen Ratschläge erteilt. Benommen von dem Anblick und Wesen der Frau, bemerkt Martina auf einmal, daß Christoph nicht mehr bei ihr ist. Sie hat ihn im Gedränge verloren. Sie will zurück; die Menschenmauer versperrt ihr den Weg; sie fleht, daß man ihr Platz mache; Angst überwältigt sie; es wird ihr schwindlig; sie taumelt; da tritt die Dame zu ihr hin, fragt, beschwichtigt sie, bemüht sich um sie, und bei jedem Schritt, den sie, Martina am Arm, vorwärts tut, weichen die bis dahin so stumpfen und widerwilligen Massen ehrfurchtsvoll zur Seite, als ob sie allesamt von einem unsichtbaren Arm mit Geistergewalt Raum zu geben gezwungen würden. Es bildet sich eine Gasse; sie gehen hindurch; da gewahren sie auch schon Christoph, der auf einem Zementfaß hockt und sehr aufmerksam in die Glaswölbung der Halle emporstarrt, auf die der Regen schmettert und die Blitze flammen. Die Fürstin brachte dann Martina in ihrem Wagen nach Hause. Sie saß bei ihr bis in die späte Nacht.
»Als sie wegging,« endete Fides ihre Erzählung, »hatte sie mehr von Martinas festverschlossenem Innern erfahren als irgendeine ihr noch so vertraute Person in vielen Jahren.«
»Hm«, sagte Faber.
»Und es war ein kritischer Augenblick für Martina«, fügte Fides hinzu; »ein Wendepunkt sozusagen.«
»So?« machte Faber lakonisch. Dann, etwas gespannter, mit einem Stirnrunzeln: »Wieso? wieso ein Wendepunkt? Sie meinen die Bekanntschaft mit der Fürstin? Natürlich war das ein Wendepunkt. Das weiß ich, leider.«
»Nicht gerade das meine ich,« erwiderte Fides leise; »Sie mißverstehen mich. Die Fürstin hat damit nichts zu tun.«
Er stutzte, wollte aber offenbar nicht neugierig erscheinen und schwieg. Vielleicht konnte er es mit seinem Stolz nicht vereinigen; vielleicht wurmte es ihn, daß er Fides gegenüber, die doch eine Fremde in seinen Augen war, zugeben sollte, sie wisse mehr als er selbst, der doch von Martina alles hatte wissen müssen; kurz, er verstummte und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem unermüdlichen kleinen Falter zu. Nach einer Weile sagte er, indem er seiner Stimme einen möglichst harmlosen Klang zu verleihen suchte: »Es wäre doch gut, wir ließen das Fenster ein wenig offen; glauben Sie nicht?«
»Ich habe nichts dagegen«, versetzte Fides.
Er machte das Fenster auf und ging nun zur Abwechslung einige Male rings um den Tisch herum, die rechte Hand in der Hosentasche und mit Schlüsseln klappernd. Eine beinahe zornige Gereiztheit trat mit jeder Bewegung stärker hervor.
»Setzen Sie sich doch,« redete ihm Fides zu; »Sie haben wirklich gar keine Ruhe in sich.«
Er gehorchte, sah sie eine Weile starr an und sagte: »Das ist hübsch, das Medaillon, das Sie am Hals tragen; woher ist es?«
Er hatte wohl etwas ganz anderes sagen wollen und hörte nicht einmal hin, als Fides erwiderte, es sei von ihrer Mutter.
»Sie müssen bedenken,« fing er plötzlich an, indem er sich lebhaft über den Tisch beugte und den Zeigefinger ausstreckte, »daß Martina von jeher ein völlig unsoziales Wesen war. Der andre Mensch, der da draußen herumrennt und seine Geschäfte treibt, war ihr so fern, daß sie ihn eigentlich bloß verzerrt sah, mit lauter närrischen und komischen Schnörkeln. Anonymes Leiden hat ihrer Phantasie nichts anzuhaben vermocht. Nicht der Schatten einer Neigung, sich dem hinzugeben, war in ihr. Dergleichen ihr zuzumuten, wäre ihr als das Absurdeste von der Welt erschienen. Und mir auch. Als wenn man von dem Falter da oben verlangte, er solle einen Schubkarren ziehn.«
Er warf einen prüfenden und mißtrauischen Blick auf Fides. Da sie zustimmend nickte, fuhr er fort: »Der einzelne Fall, ein Unglück, das sie zufällig miterlebte, bewegte sie; natürlicherweise. Aber immer sehr heftig, so daß gleich ihr Organismus in Unordnung dabei geriet. Instinktiv suchte sie sich dann dagegen zu schützen. Wenn sie einmal einen unangenehmen oder nur unfreundlichen Traum hatte, war sie lange nachher in einem Zustand von Empfindlichkeit und Verzagtheit, und ich mußte sie trösten, gerade so, als ob sie durch den Traum beleidigt worden wäre. Ja, ja, so war es; sie war beleidigt, wenn sie schlecht träumte. Oft hab ich mich über diese Eigenschaft an ihr lustig gemacht. Sie war eben so beschaffen, daß sie nur schöne Dinge aufnehmen konnte, und wenn sie Tränen vergoß, war es meistens nur, wenn sie etwas unerwartet Schönes erlebte.«
Abermals nickte Fides, ermunternd und beinahe froh. Diese Zergliederung von Martinas Charakter schien ihr großes Vergnügen zu bereiten. Sie hatte überdies eine Art zuzuhören, die das Selbstgefühl des Andern hob und ihn in seinen eigenen Augen klug und anregend erscheinen ließ.
»Ich erinnere mich zum Beispiel,« sprach Faber weiter, »daß wir einmal im Herbst eine Gebirgswanderung unternahmen. In Südtirol war es. Wir kamen, gegen Abend, vom Valsugana herunter; das weite Tal mit seinen Weinhügeln und der Strom, die Brenta, glaub ich, lagen in karmesinroter Sonnenuntergangsglut; in unserem Entzücken irrten wir vom Weg ab und kamen unversehens in einen Park, wo die Rosen so dicht wie Erdbeeren im Schlag standen. Ein alter italienischer Gärtner trat auf uns zu, begrüßte uns in der herzlich-gravitätischen Art dieser Leute und führte uns durch herrliche Laubgänge; schließlich zu einem Boskett, das wie ein Strauß von hundertfarbigen Flammen war. Etwas Ähnliches hatten wir nie erblickt. Da fiel mir Martina um den Hals und weinte vor Jubel und Glückseligkeit.«
Er hielt einige Sekunden inne, als könne er dieses Bild aus der Vergangenheit noch nicht loslassen. Sodann fuhr er fort: »Da sehen Sie also. Da haben Sie den Beweis. So konnte sie auch ein Musikstück aufwühlen, ein Gemälde; bei menschlichem Jammer hingegen, da weinte sie nie. Vor allem wurde ihr kalt, bis zu physischem Frieren; und manchmal wurde sie sogar von einer unbezwinglichen Lachlust befallen. Als Kind mußte sie stets lachen, wenn der Totenwagen mit den schwarzverhangenen Pferden an ihr vorüberfuhr. Sonderbar, nicht? Sie hat mir erzählt, daß ihr Vater einen Gehilfen oder Schüler hatte, der an der Fallsucht litt; der stürzte eines Tages, als Martina im Atelier war, vom Gerüst und wand sich in Krämpfen; obgleich ihr vor Entsetzen der Atem stockte, brach sie in ein Gelächter aus. Nachher schämte sie sich und konnte keinem Menschen in die Augen sehen. Monatelang graute ihr vor dem Atelier, und sie betrat es nicht, aber wenn jemand von dem Epileptiker sprach, mußte sie lachen.«
»Das kann ich mir gut vorstellen; ich sehe sie förmlich«, sagte Fides.
»Ich habe mir das immer so zurechtgelegt,« erklärte Faber mit etwas naivem Tiefsinn, »daß das Traurige und Unvollkommene des Lebens zu ihrer Wesensveranlagung den diametralen Gegensatz bildet. Entschuldigen Sie, wenn ich mich so gelehrt und umständlich ausdrücke, aber ich möchte es genau definieren. Deswegen wehrt sich ihre Natur unbewußt gegen die häßlichen Eindrücke, und zwar wehrt sie sich mit dem allerertremsten Mittel. Darüber könnte ich noch manches sagen; noch viele Beweise könnte ich für die Richtigkeit meiner Anschauung anführen, aber das ist ja bei Ihnen nicht nötig. Nach alledem können Sie sich ungefähr vorstellen, wie mir zumute war, als sie mir zum erstenmal von ihrer Tätigkeit bei der Fürstin schrieb. Ich war wie aus den Wolken gefallen. Martina, die bei der Kinderhilfe ihr Seelenglück und Seelenheil sucht und sogar findet, das wollte mir nicht in den Kopf. Es will mir noch heute nicht in den Kopf. Und ich werde es auch niemals begreifen. Das müssen Sie mir schon zugute halten.«
»Wer sagt Ihnen denn das?« fragte Fides, hob rasch den Blick zu ihm und sah ihn verwundert an. »Wie kommen Sie denn auf die Vermutung, daß sie bei dem Werk der Fürstin ihr Seelenglück und Seelenheil sucht? Das ist ja vollständig falsch.«
»Inwiefern ist das falsch?« murmelte Faber erstaunt; »was ist denn dann das Richtige? was sucht sie denn sonst dabei? Welche andere Befriedigung kann sie dabei gewinnen?«
»Sie waren also bisher ernstlich der Ansicht, daß sich Martina aus Mitleid oder allgemeiner Menschenliebe bei der Mission hat anwerben lassen? oder um der Idee willen? Ich muß gestehen, das zu hören konsterniert mich. Da sind Sie freilich in einem seltsamen Irrtum befangen. Keine Spur davon; Martina wollte einen Beruf haben. Das erschien ihr als unumgänglich notwendig für ihr Leben.«
»Einen Beruf?« stotterte Faber, aufs höchste betroffen; »wieso einen Beruf? warum denn?«
»Unabhängig? von wem unabhängig? von mir?«
»Vielleicht. Um in materieller und in jeder anderen Beziehung über ihre eigene Person frei verfügen zu können, falls es darauf ankam. Das ist doch furchtbar einfach.«
Faber starrte ihr ins Gesicht mit einem Ausdruck zwischen Lachen und Lächeln, mit offenem Mund, einem Ausdruck von Unglauben, Spott und Ärger.
Fides schien es nicht zu gewahren. »Was sie dazu brauchte, war freilich eine Frau wie die Fürstin,« fuhr sie fort, »Aufgaben, wie sie ihr die Fürstin stellen konnte. Sie mußte mit ihrem ganzen Herzen dabei sein, mußte vertrauensvoll zugreifen können und zur Überzeugung gelangen, daß sie nützlich war, daß sie etwas leistete, was niemand sonst zu leisten vermochte, daß es sich auch innerlich lohnte.«
»Halt, halt, entschuldigen Sie,« fiel ihr Faber ungeduldig ins Wort; »eben zu der Zeit, wo sie die Bekanntschaft der Fürstin machte, war Martina mit Geldmitteln reichlich versehen. Vorher waren die Umstände ziemlich knapp, das weiß ich, das leugne ich nicht. Aber gerade zu der Zeit hatte sie die Skulptur ihres Vaters verkauft; der Käufer zahlte sogar in amerikanischer Valuta. Sechstausend Dollar hat er bezahlt. Sie werden also zugeben, daß von einer Notlage nicht die Rede sein kann.«
Fides lächelte mit leiser Bitterkeit. »Ich habe auch nicht von Notlage gesprochen,« versetzte sie. »Es ist merkwürdig, mit welcher Hartnäckigkeit Sie mißverstehen. Es handelte sich nicht darum, eine momentane Schwierigkeit zu beseitigen. Es handelte sich darum, eine selbständige Existenz zu führen.«
»Eine selbständige Existenz? Ja, wie denn? Hören Sie, das ist toll.« Faber lachte laut heraus, doch es klang ein wenig gekünstelt. »Martina und eine selbständige Existenz! Was für ein verrückter Einfall! Warum denn? Warum hätte sie danach trachten sollen? So etwas läuft ja ihrem Charakter und ihrer Denkungsart ganz zuwider. Was für einen Sinn hätte denn das haben sollen? Aber, aber!« Er verschränkte die Arme und schüttelte mit überlegener Sicherheit den Kopf.
Fides entgegnete nichts. Sie runzelte die Brauen und begann wieder zu nähen. Da sagte Faber frostig: »Ich habe übrigens nicht gewußt, daß die Tätigkeit in der Kinderstadt mit einem fixen Einkommen verbunden ist. Bei den meisten ist es doch freiwilliger Dienst. Daß Martina als Sekretärin der Fürstin-Oberin eine Art Beamtenstellung innehat und demgemäß auch besoldet wird, war mir allerdings bekannt. Wieviel sie erhält, weiß ich noch heute nicht. Üppig wirds nicht sein. Die Zukunft eines Menschen wird sich darauf nicht bauen lassen. Oder meinen Sie doch? Martina ist keine schlechte Rechnerin und wird in dieser Hinsicht keine übertriebenen Erwartungen gehegt haben.«
»Mag sein,« entgegnete Fides achselzuckend; »doch ist bei ihr eine Ausnahme gemacht worden. Es besteht der Grundsatz, daß freiwillige und belohnte Dienste nur von denen angenommen werden, die auf Entgelt leichterdings verzichten können. Die Mission arbeitet mit den größten Mitteln und will Menschenkraft nicht mißbrauchen.«
Vergeblich bemühte sich Faber, nicht zu zeigen, wie bestürzt er von Fides' Eröffnung war. Grübelnd saß er da, mit starrem Blick und finsterem Gesicht. Fides sah ihm an, daß er sich nicht überwinden konnte, weitere Fragen an sie zu richten; er hatte die innere Freiheit nicht dazu. Eine nachdenkliche Falte zwischen ihren Brauen verriet, daß sie unschlüssig war, wie sie es anstellen konnte, ihn aus seiner trüben Ratlosigkeit zu reißen, ohne ihn zu verletzen und ohne vordringlich zu erscheinen. Die Bewegungen bei ihrer Handarbeit wurden mechanisch, da vielerlei Gedanken auf sie einstürmten; minutenlang ließ sie die Nadel ruhen und schaute verstohlen zu ihm hinüber; er hatte sich im Sessel zurückgelehnt; seine Lippen waren fest aufeinandergepreßt; mit den Fingern der rechten Hand trommelte er unablässig auf der Tischplatte.
Kein Zweifel, er wollte nicht sprechen, wollte nicht fragen. Es lag ihm alles daran, solange wie möglich den Schein aufrecht zu erhalten, daß man ihm Neues über Martina nicht sagen konnte. Vielleicht war es ihm nur peinlich, daß eine andere Frau sich hiezu berufen dünkte; vielleicht war es gerade diese Frau, von der er es nicht annehmen mochte, unerklärlich warum. Dabei stand die Qual, nicht zu wissen und, was er soeben vernommen, nicht gewußt zu haben, so deutlich auf seinem Gesicht geschrieben, daß Fides' Blick immer wieder zu ihm hingezogen wurde und sich dann für eine Weile in trauriges Besinnen verlor.
»Ich denke, wir machen jetzt das Fenster zu«, sagte sie, erhob sich, ging zum Fenster und schloß es. Hierauf wandte sie sich zur Tür.
»Wohin?« fuhr Faber empor. Es war ein solcher Ton des Unwillens, ja des Schreckens fast, in der kurz hervorgestoßenen Frage, daß sich Fides verwundert umdrehte.
»Ich will Kaffee kochen,« antwortete sie; »es wird Ihnen gut tun; es ist gut für den Kopfschmerz.«
»Heut will ich keinen Kaffee,« sagte er hastig; »bitte bleiben Sie.«
Als sie wieder Platz genommen hatte, sagte er: »Lassen Sie sich meine dumme schlechte Laune nicht nahgehen. Weiß der Teufel, was mit mir ist. Ich kann und kann nicht in die Balance kommen. Mein eigener Körper verdrießt mich manchmal. Mein Stehn und Gehn ist mir zur Last. Kann sein, daß ich mich so schwer akklimatisiere. In jeder Beziehung schwer. Die Luft, die Menschen, die Sachen, ich komme nicht zurecht damit. Oft ist mir, als hätte ich künstliche Organe im Leib, oder als wär ich eine Maschine, die man zu ölen und zu feuern vergessen hat. Was soll man da tun? Ich war doch einmal ein munterer Bursche, ein bißchen leichtsinnig sogar, ganz und gar kein Kopfhänger und Misanthrop. Asien hat mich verdorben. Das ist es; Asien hat mich dumpf und trüb gemacht. Aber lassen Sie sichs nicht anfechten. Nehmen Sie mich, wie ich bin. Ihnen gegenüber gilt das von der Misanthropie nicht. Ihre Gesellschaft ist mir angenehm, wirklich angenehm, ohne Schmeichelei. Wenn Sie erzählen, könnt ich Ihnen stundenlang zuhören. Erzählen Sie mir etwas. Irgend etwas, gleichviel, was.«
So sagte sein Mund; die Augen aber, leidenschaftlich funkelnd in den etwas zu tiefen Höhlungen, riefen Fides zu: nur von dem Einen sprich; spanne mich nicht länger auf die Folter und zieh aus meinen Worten den richtigen Sinn.
Fides verstand den Appell, und es schien, daß er sie bewegte. Es wurde ihr aber offenbar nicht leicht, dem stummen Verlangen zu willfahren, denn da er seinerseits die Maske nicht ablegen wollte, mit der er ihr zu begegnen für gut hielt, so mußte auch sie auf eine Art Versteckenspiel bedacht sein. Vorsicht lag in ihrem Wesen, und das Leben hatte sie gelehrt, daß man den Kürzeren zieht, wenn man den Menschen das Herz entgegenträgt. Zudem war auf einmal zwischen ihr und diesem Manne ein Element, das vorher nicht dagewesen war, ein unaussprechliches und rätselhaftes Etwas, das beide störend zu empfinden schienen. Schweigen gab diesem Etwas Nahrung; Fides sagte also, daß sie sein Lob gern quittiere, aber eine Erzählerin sei sie nicht; jemanden zu unterhalten, darauf verstehe sie sich nicht. Bei ihr zu Hause habe es überhaupt für nicht ganz fein gegolten, wenn man über die übliche Wortkargheit hinausgegangen sei. Außerdem habe ihr in dieser Hinsicht der fördernde Umgang gefehlt, namentlich mit Frauen.
Es war ungemein geschickt von ihr, ihn glauben zu machen, daß sie nur von sich selber sprechen wolle. Und ganz allmählich, so daß er die Überleitung kaum recht merkte, kam sie auf Martina zurück. Sie klagte darüber, daß es für eine einigermaßen kultivierte Frau schwierig sei, in ein Freundschaftsverhältnis zu einer andern Frau zu treten; in ein wirkliches nämlich, nicht in ein gesellschaftliches bloß. Schon als junges Mädchen habe sie unter dem Mangel einer Freundin gelitten; das banale Zusammenkommen, um zu schwatzen und törichte Heimlichkeiten auszutauschen, sei ihr immer höchst langweilig gewesen; späterhin sei sie eben dadurch in eine schiefe Stellung zur Welt geraten, indem es ihr selten möglich geworden sei, zu einer Frau Vertrauen zu fassen und sie jede Intimität von vornherein abgelehnt habe. Ganz im Widerspruch mit der herrschenden Meinung müsse sie bekennen, daß eine neutrale Beziehung zu einem Mann, die dann zu allen möglichen angenehmen Verständigungen führe, ihr stets viel wünschenswerter gewesen sei als selbst der innigste Verkehr mit einer Frau. Das sei aber völlig anders geworden, seit sie Martina kenne und mit Martina zusammenhause.
Sie nahm wahr, daß Faber aufatmete, als sie Martinas Namen nannte und daß seine Züge sofort einen gesammelten Ausdruck erhielten. Unwillkürlich mußte sie lächeln, und mit ihrer verhaltenen Stimme, die, auch wenn sie laut war, wie ein etwas rauheres Flüstern klang, fuhr sie fort: »Da ich an Frauenfreundschaft überhaupt nicht glaubte, wußte ich auch nicht, was für eine Welt in dem Begriff verborgen ist, eine für sich bestehende, ganz und gar unentdeckte Welt. Erst Martina hat mich gelehrt, was eine Frau für eine Frau bedeuten kann; seitdem lebe ich anders und denke anders.«
Sie drückte die Schultern ein wenig zusammen, und die dunklen, von auffallend schönen Lidern halbbedeckten Augen suchten auf der Tischplatte einen Punkt, auf dem sie dann haften blieben. »Sie ist mir eigentlich immer gegenwärtig. Wenn ich über sie nachdenke, steht sie leibhaftig vor mir da. So wars gleich von Anfang an. Ich konnte fast alle ihre Gedanken erraten, und sie ist manchmal sogar ärgerlich darüber gewesen. Ich wußte, wenn sie ein unangenehmes Erlebnis gehabt hatte, oder wenn ihr etwas fehlte. Wenn sie verstimmt war, sagte ich ihr den Grund. Oft mußte sie dann lachen und küßte mich und hieß mich ihr Schatten-Ich, ihr besseres Ich. Aber es war jedenfalls kein Verdienst von meiner Seite. Wenn man das Bild von einem Menschen in sich trägt, kann man viel von ihm wissen. Daß es immer das Richtige ist, will ich nicht behaupten. Aber manchmal doch. Eine Frau weiß eben mehr von Frauen als ein Mann, von vornherein. Wenns darauf ankäme, ich könnte Martinas Leben in den letzten Jahren so schildern, daß vielleicht sogar Sie, die ihr doch näher steht als irgendwer sonst, einiges Merkwürdige erfahren würden. Ich sage: vielleicht; ich möchte nicht anmaßend erscheinen. Es geht mir nur manchmal so durch den Kopf.«
Sie schwieg eine Weile und getraute sich nicht aufzuschauen, um nicht den glühend auf sie gehefteten Blick Fabers treffen zu müssen. »Nun, so probieren Sies doch,« hörte sie seine heisere Stimme; »stellen Sie sich vor, es kommt wirklich darauf an, und probieren Sies. Ich wäre neugierig.« Dies sollte liebenswürdig und scherzhaft klingen, aber es klang gepreßt und erregt.
Jetzt sah ihn Fides an; mit zusammengezogenen Brauen, ungewiß, so, als säße er ihr nicht schräg gegenüber, sondern weit weg. Sie lächelte. »Schön, ich wills versuchen«, sagte sie.