Jakob Wassermann
Faber oder Die verlorenen Jahre
Jakob Wassermann

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23

Sie hatten weit zu fahren. Als sie durch das nach der Chaussee hin geöffnete Doppeltor der Kinderstadt schritten, dämmerte es schon; Dämmerung eines Frühherbsttages mit blaßgrünem Himmel und glühendroten Stratuswolken. Die schnurgerade Hauptstraße dehnte sich schier endlos bis zu dem die Landschaft begrenzenden Hügelbogen hinauf; in regelmäßigen Zwischenräumen mündeten Nebengassen, von denen wieder Quergassen abzweigten. Die Anzahl der Holzhäuser auf der ungeheuren Bodenfläche ließ eine Schätzung kaum zu. Und wo die Straßenzeilen aufhörten, wurde gebaut.

Alle diese Straßen, Gassen und Gäßchen waren von Kindern bevölkert. Es waren auch große freie Plätze vorhanden; auf diesen Plätzen spielten Kinder. Es gab ferner Alleen und Gartenanlagen, und auch da drängten sich Scharen von Kindern. Sie kamen aus den vielen niedrigen Häusern, andere gingen hinein; beständige Wechselbewegung. Die mit buntem Kattun überzogenen Fenster waren meist geöffnet; Faber konnte in die Stuben und Säle schauen; überall sah er Kinder. Wohlgepflegte, gutgekleidete Kinder; Knaben und Mädchen; ganz winzige, die noch eine trippelnde Vorsicht in ihren Schritt legten; halberwachsene, die gegen jene wie Riesen wirkten. Die Aufsichtspersonen, Pfleger und Pflegerinnen, Ordner und Ordnerinnen verschwanden in dem lebendigen Gewimmel; man gewahrte nur die Tausende und Abertausende von kleinen Menschen. Vielfacher Gesang erfüllte die Luft; helle Jubelschreie von allen Seiten; lockende Zurufe; fröhliches Lachen von reigen- und ballspielenden Gruppen. In einem Raum erblickte Faber etwa zwanzig fünf- bis sechsjährige Mädchen. Sie saßen auf Stühlen im Halbkreis, und die emporgerichteten Gesichter zeigten eine so hingenommene Spannung und Aufmerksamkeit, daß er unwillkürlich stehen blieb und sich des Lächelns nicht enthalten konnte. In ihrer Mitte saß ein junger Mann und erzählte ihnen eine Geschichte. In einem andern Raum wurden auf viele gedeckte Tische die Teller hingestellt, wieder in einem andern standen zahllose weiße Betten, die gleichsam mit schweigsamer Geduld auf die Schläfer warteten. Alsbald ertönten von überall her Glocken; das Signal für die Abendmahlzeit. Nun strömten sie herzu; Tausende von hellen Stimmen, vogelhaften Stimmchen vereinigten sich zu ohrenbetäubender Eruption von Munterkeit und Heiterkeit; Tausende von Augenpaaren blitzten Eugen und Martina, die sich mit Mühe ihren Weg durch das zappelnde Gedränge bahnten, aus heiß erregten Gesichtern entgegen. Dazu schwirrendes hohes Gelächter, wirbelnde Arme, atemloser Wetteifer. Da und dort verstreut gab es Scheue und Schüchterne, Blasse und Befremdete; dies waren Neulinge, wenigstens unter den übrigen neu; wie Martina erklärte, wurden die Neuaufgenommenen zwei bis drei Monate in einem abgesonderten Teil der Ansiedlung gehalten und mit Sorgfalt auf das gemeinschaftliche Leben vorbereitet.

Plötzlich war es ruhig in den Gassen, ruhig in den Häusern. Aber mit dieser Ruhe hatte es eine eigene Bewandtnis. Sie war noch durchpulst von der vorübergefluteten Freude, einem Meer von Freude; es klopften noch die stürmischen kleinen Herzen in ihr; all das zarte, unausgeschöpfte Leben vibrierte noch, durch den Zusammenklang so vieler Einzelner gehäuft zu gewaltiger Fülle. Mochte sein, daß der goldgrüne Glanz in der Abendatmosphäre dazu beitrug, oder das Wissen um das groß Vollbrachte hier, Rettung einer Welt, es haftete überall und an allen Dingen ein Zauber von Glück und Glücksbestätigung und darüber noch, krönend, war die Gegenwärtigkeit des Geistes zu spüren, der dies geschaffen hatte und regierte.

Nachdem Eugen und Martina etwa eine Viertelstunde lang gegangen waren, kamen sie auf einen kreisrund angelegten Platz. Martina öffnete die Tür von einem der Häuser und fragte ein junges Mädchen, das ihr entgegentrat, im Ton gewohnter Vertraulichkeit nach der Fürstin. Die Fürstin, erwiderte das Mädchen, sei im Aufnahmehaus; Martina wisse ja, daß heute bis sieben Uhr Aufnahme sei. »Ach ja«, sagte Martina, besann sich und schien zu zaudern. Dann wandte sie sich an Eugen und schlug ihm vor, er möge mit ihr ins Aufnahmehaus gehen. Da er keine rechte Vorstellung damit verband, nickte er; sie bogen um eine Ecke und gelangten nach wenigen Schritten zu einem Gebäude, das sich von den anderen durch seine Schmucklosigkeit unterschied; Männer und Frauen aus dem Volke standen davor, und viele Kinder, die aber ganz anders aussahen als jene, die Faber bisher gesehen; im Torweg war ein geschäftiges Hin und Her von Angestellten und Bediensteten.

Sie kamen in einen saalartigen, länglichen, hellgetünchten Raum, welcher durch Deckenlichter erleuchtet war, und den trotz der offenen Fenster ein beizender Geruch menschlicher Ausdünstungen erfüllte. Fünfzig bis sechzig Erwachsene drängten sich in ihm und ebenso viele Kinder jeden Alters. Etwa ein Fünftel des Raums war durch ein Quergitter abgesperrt; in dem dadurch hergestellten freien Raum stand ein Tisch; an diesem saßen vier Personen, zwei Männer und zwei Frauen. Einer der Männer, ein Greis mit ehrwürdigem weißem Bart und goldner Brille, stellte Fragen an diejenigen, die durch das Türchen vorgelassen wurden; der andere, ein jüngerer Mann, schrieb die Antworten nieder; die eine Frau verglich die Antworten mit den Eintragungen in einem Aktenheft; die andere saß etwas vom Tisch entfernt und sprach weder, noch war sie irgendwie beschäftigt. In dieser erkannte Faber die Fürstin. Sie sah älter aus als er gedacht. Ihr Gesicht war noch schmäler als auf dem Porträt. Ihre Haltung war so starr, daß man hätte glauben können, sie schlafe, wären nicht die großen, weitgeöffneten grauen Augen gewesen, die mit einem seltsam ununterbrochenen Blick, fast wie ohne Wimperzucken, Vorgänge und Menschen verfolgten und betrachteten. Ihre Hände lagen still gefaltet auf den Knien. Auf ihrer Brust hing ein großes goldenes Kreuz. Das Antlitz war von einer Kapuze aus demselben dunkelblauen Stoff umrahmt, aus dem auch das weite, kuttenartige Gewand war. Und wie auf dem Bild, das Faber damals gesehen, und das ihm seitdem nicht wieder vor Augen gekommen, hatte die Kopfhülle einen schmalen Spitzensaum.

An der linken Seite des Saals, dicht an der Mauer, war noch ein Durchlaß; dorthin bahnte Martina sich und Eugen durch die Menge eine Gasse; ein paar Stühle standen längs der Wand; sie setzte sich; Faber nahm neben ihr Platz.

Es dauerte lange, bis er den Blick von der Fürstin abkehrte. Der Ausdruck seiner Züge verriet nichts von seinen Gedanken dabei. Dann wurde er von Minute zu Minute stärker von dem beansprucht, Wort und Geschehen und Bericht von Geschehen, was dicht vor ihm zum Bild wurde.

Es war eine schauerliche neue Gattung von Drama, mit Szenen ohne Zusammenhang, ohne Sinnfolge; ohne Spiel, ohne äußere Handlung, ohne Aufwand von Stimme und in bezug auf Mimik und Gebärde von lähmender Einförmigkeit. Doch lag in der bloßen Aneinanderreihung, wie sie Zufall und Ablauf hervorbrachten, eine unaussprechlich gräßliche Totalität, auch in der Häufung, und wirkte ungefähr wie das tonlose Lallen und Leiern von Geisteskranken. Aus einem engen, übelriechenden Schacht gleichsam quoll schmutzig und schleimig, was die Gesellschaft an Unrat in ihren Tiefen erzeugt hat, die von allen gemieden werden, außer von denen, die dazu verdammt sind; Vernachlässigung und Verworfenheit, Fäulnis und Siechtum. Der Raum war davon durchtränkt wie ein Schwamm von ekler Flüssigkeit; seine Wände hatten seit Jahr und Tag das Wortgift eingesaugt, und es hing an ihnen wie Stalaktiten in einer Tropfsteinhöhle. Menschenworte vergehen nicht; immer wieder bannen sie Geist zu Geist, Furchtbares zu Furchtbarem, Verhängnis zu Verhängnis und Schuld zu Schuld. Der Umstand, daß ausschließlich über die Leiden von Kindern verhandelt wurde, gab dem Schauplatz eine steinerne und irre Traurigkeit. Der fernere Umstand, daß nicht geklagt, gejammert, geweint, geschluchzt wurde, sondern lediglich konstatiert und protokolliert, vermehrte das kalte Entsetzen, das von jeder Rede ausging. Das kümmerlich zur Kenntnis Gebrachte ließ auf verborgenes Ungeheures schließen, wie schmächtiges Unkraut auf tückisch-lange Wurzeln, mit denen es sich in den Boden bohrt. Laut, Bewegung, Blick, Schweigen waren Stenogramme; keine Fragekunst und Sehergabe konnte sie in ihre volle Schrecklichkeit auflösen.

In den Gesichtern war entweder krankhafte Ruhe oder düsterer Trotz. Diese Kinder wußten nur von der Nacht des Lebens. An Wandlung glaubten sie nicht. Die Bedingungen, unter denen sie ihre Existenz fristeten, waren unverrückbare Gesetze für sie. Sie waren nicht nur von Licht und Hoffnung abgeschieden, sondern auch von jeder Form der Freundlichkeit. Ein fünfjähriges Mädchen trat vor, bedeckt mit Eiter und Grind, die Haare von Ungeziefer lebendig. Die Mutter Prostituierte; Vater gab es keinen; Pflegevater verschollen. Ein Heim hatte es nie gehabt, ein Bett nie gesehen; hatte genächtigt in Kellern, unter Brücken, auf Baugerüsten, im Winter in Wärmstuben oder auf dem Stroh in einer Frachtenhalle. Die Nahrung wurde erbettelt; alle Notdurft meist von denen gewährt, deren einziger Überfluß in gelegentlichem Mitleid mit ihresgleichen bestand.

Ein zwölfjähriger Bursche, in Fetzen gehüllt wie ein schmieriger Harlekin; Rücken und Schultern, die er gleichmütig entblößte, von blauen Striemen durchzogen. Beide Eltern Gewohnheitssäufer; er auf dem besten Weg dazu; aufgegriffen in einem Massenquartier, das wegen Einsturzgefahr des Hauses geräumt werden mußte. Eine Vierzehnjährige; Skelett; die Haut verschwärt von früher Lues; die Dachkammer, aus der man sie befreit, hatte sie mit acht Männern bewohnt, acht Unholden, deren wehrloses Opfer sie geworden. Die Zerstörung des Körpers wurde nur noch übertroffen von der der Seele, in der nichts mehr war als Finsternis und Furcht.

Ein Judenknabe, aus dem Heimatsdorf entflohen, in dem alle seines Glaubens und Blutes erschlagen worden, war sechsundzwanzig Tage lang unter größten Entbehrungen aus dem Osten hergewandert; man hatte ihn besinnungslos, die Füße zwei Wunden, im Straßengraben aufgelesen.

Eine Mutter stieß ihre drei Kinder vor sich her; der Mann hatte gedroht, alle drei umzubringen; sie wußte Zeugen zu nennen, die bestätigen konnten, daß man sich dessen von ihm zu gewärtigen habe.

Bis dahin war Faber unbeweglich dagesessen; als aber nun ein Geschwisterpaar vor die Schranken trat, Bruder und Schwester, höchstens sieben und acht Jahre alt, von denen ausgesagt wurde, daß man sie dem Hungertod nah in einem Maschinenschacht gefunden hatte; als diese zwei, erschreckt durch die Worte, die man an sie richtete, zu zittern anfingen und sich krampfhaft aneinander klammerten, erhob er sich jäh und schaute sich um wie einer, der fliehen will. Er schien Martinas Nähe vergessen zu haben, er schien alles vergessen zu haben, außer diesem Gemälde unterster Menschenqual; und dies ertrug er nicht. Martina legte ihm sanft die Hand auf den Arm; er stieß die Hand weg; es lag in seinem Auge etwas, als riefe er ihr zu: wenn dir das Gewohnheit und täglicher Anblick werden konnte, dir, dann gilt auch dir mein Grauen, auch dir. Und Martinas Gesicht überzog sich mit tiefer Blässe.

Aber was Faber nun wieder festhielt und seine Aufmerksamkeit zurücklenkte zu dem Schicksalsgericht dort, das war eine Stimme. Die Stimme der Fürstin. Sie hatte sich erhoben, war zu den beiden Wesen hingetreten und sprach zu ihnen. Niemals hatte er eine solche Stimme gehört; ein voller reiner Celloton, nicht tief, nicht hoch, nicht laut, nicht leise, doch so, daß es ringsum still wurde. Die Stimme der Güte; nein, mehr, die Stimme der Freundlichkeit. Die zwei angstbebenden Kinder lösten sich aus der Umschlingung, blickten lauschend empor und ließen sich ohne Sträuben von ihr zu einem wartenden jungen Mann führen, der sie wegbrachte.

Danach verließ die Fürstin ihren Platz und kam zu Martina herüber, die sie wohl längst bemerkt hatte. Sie reichte zuerst ihr die Hand, dann Faber. Ihre Hand war auffallend kalt, auffallend schmal. »Es hat mich heute sehr ermüdet, Martina, sagte sie; »wir wollen in mein Zimmer gehen.« Sie nickte den beiden Männern und der Frau am Tisch zu, die aufstanden und sich verbeugten; ein alter Diener eilte voraus, um eine kleine Tür zu öffnen, durch die sie unmittelbar ins Freie gelangten.

»Die Reise steckt mir noch in den Gliedern,« sagte die Fürstin; »hältst du es für möglich, Kind, daß ich solchen Anstrengungen nicht mehr gewachsen bin? Daran hab ich noch nicht gedacht. Schwäche; und Schwäche, die einen überrascht; nein. Dem wollen wir uns nicht fügen; noch nicht; das wäre zu früh.«

»Sie hätten im Schlafwagen fahren sollen, Fürstin, und nicht dritter Klasse«, erwiderte Martina vorwurfsvoll.

Das Zimmer der Fürstin war ein Raum, der etwa sieben Schritt im Geviert maß; es stand darin ein Schrank, eine Kommode, ein großer Tisch, ein Feldbett und in der Ecke das Harmonium, von dem Fides gesprochen; über der Längsseite des Bettes hing eine Etagere mit einigen Büchern; auf dem Tisch brannte eine elektrische Stehlampe mit grünem Schirm von der Art, wie sie in Bureaus und Amtsstuben verwendet werden. Den einzigen Schmuck, wenn dies Schmuck heißen durfte, bildete ein kostbares Wolfsfell, das über einen Armsessel gebreitet war.

Faber befand sich mit der Fürstin allein. Martina war nicht mit hereingekommen. Sie war in einen andern Raum des Hauses gegangen, zu ihrer Arbeit. Aber kurz darauf ging sie wieder von dort weg.

Die Fürstin ließ sich auf den Armsessel nieder; Faber setzte sich auf ihre stumme Aufforderung ihr gegenüber. Wohl eine ganze Minute lang sah sie ihn mit ernstem, ruhigem Blick an, dann sagte sie, nicht ohne Befangenheit, die den Ausdruck ihrer Züge noch gewinnender erscheinen ließ: »Ich bin froh, daß ich Sie endlich sehe, Eugen Faber. Ich glaube, ich hätte Sie erkannt, auch wenn mir niemand Ihren Namen genannt hätte. Es ist viel von Martina in Ihrem Gesicht; und in Martinas Gesicht ist viel von Ihrem. Wußten Sie es nicht? Es ist so. Es gibt nicht nur eine Blutgeschwisterschaft; es gibt auch Wahlgeschwister. Das festeste Band, das auf Erden existiert. Haben Sie sich nun ein wenig eingerichtet, ein wenig zurechtgelebt? Es war wohl schwer; ist wohl schwer. Freilich; Schwierigeres kann ich mir nicht denken. Manche quälen sich vergebens. Man hat eine Welt verloren und soll eine neue aus sich herausheben. Martina hat mir gesagt, Sie haben eine Staatsstellung angenommen. Befriedigt Sie die einigermaßen?«

Faber verneinte. Die Veränderung, die in seinem Gesicht vorging, hätte man mit dem Klarwerden einer behauchten Spiegelscheibe vergleichen können. Zuerst Abwehr; Weigerung; Vorbehalt, Verstocktheit sogar; das genährte Mißtrauen; die aufgesparte dumpfe Anschuldigung. Vor der Stimme zerstäubte alles; vor dem beseelten Auge verkroch es sich beschämt. War es der »Zauber«? Aber was konnte da für ein »Zauber« sein? Die einfache Natur, die einfache, stillverständliche Wahrheit? Der Mut und die Kraft, nichts Fremdes zu sehen, nichts Feindseliges, nichts Häßliches, nichts Unreines? Sein Blick schien noch darüber zu grübeln, während er sprach, und in seinen Worten war etwas unwillkürlich und erstaunt Zögerndes, wie wenn er ein gewisses Hinstreben und Sichgeben unterdrücken und verbergen wolle, das sie hastiger und wärmer machte, als er sie offenbar haben wollte.

Die Fürstin, die diesen Kampf durchschauen mochte, lächelte. Und wieder erstaunte Faber. Es war eben jenes Lächeln, von dem Fides gesprochen hatte, das das blasse Gesicht mit seinem Rosa überzog und Zähne durchschimmern ließ, wie sie siebzehnjährige Mädchen haben. Das wischte die Jahre, die Erfahrung, die Weisheit aus dem Gesicht der Frau, und es war da: ein Kind. Faber erstaunte nicht bloß, er errötete auch und schien Mühe zu haben, was er sagte, zu Ende zu sagen.

Er sagte, es sei ein freudloses Brot und ein freudloses Tun. Der Mann gelte nichts, die Sache gelte nichts. Jeder sei davon durchdrungen, daß er nur Scheinarbeit leiste, und kaum habe einer den Unterschlupf gefunden, nach dem er geseufzt, so erschachre er sich bereits unredlichen Vorteil daraus. Ihn könne das nicht fördern; er wolle gefördert sein; er wolle teilhaben, an einem Ganzen fruchtbar wirken. Doch was er vor sich sehe, sei ein unbestimmtes, zerfahrenes Ding, seien Menschen, die sich verkauften und andere verrieten, noch dazu um den niedrigsten Preis.

Die Fürstin nickte. »Früher hat eine strenggewohnte Ordnung die Glieder zur Leistung verpflichtet«, sagte sie sanft. »Pflicht war hart und lieblos geworden, aber sie war. Jetzt reißt eingebildete Freiheit die Verbindungen entzwei, und den Menschen wird allmählich von außen her nichts mehr gewährt, als was sie durch Gewalt oder Betrug erraffen. Aber Kritik, Klage, was nützen die? Auflehnung, was soll die? Neue Geschlechter werden erscheinen, und die müssen ein neues Herz mitbringen.«

Faber schweig einen Augenblick. »Ich habe da diesen Wisch unterschrieben«, sagte er leise; »die Geschichte ist in die Zeitung gekommen; Sie haben mich wahrscheinlich deswegen gerufen, Fürstin. Es war ein Akt der Verzweiflung; eine Dummheit zudem. Es ist meine Gesinnung nicht. Es war nicht einmal die Absicht. Ich bin innerlich fern von dergleichen. Ich verteidige mich nicht; ich habe heute gesehen, was das hier ist. Zu spät vielleicht. Worte kann ich nicht machen; in diesem Fall nicht... Sie begreifen. Ich bin in einer solchen Lage... ich bin so... wie sag ich... so nicht ich selber...«

»Ich habe Sie nicht deswegen gerufen, Eugen Faber«, entgegnete die Fürstin. »Ich weiß, daß das wahr ist, was Sie sagen. Ich habe es mir nicht anders vorgestellt. Es war nur der Anlaß, der sich mir endlich bot. Ich habe immer gewartet. Ich dachte, Sie würden eines Tages kommen. Ich dachte. Sie würden kommen, um Martina aus meiner Hand zurückzunehmen in Ihre. Als aber, nach Ihrer Heimkehr, Woche um Woche verging, da wußte ich freilich, daß Sie niemals kommen würden, wenn ich nicht rief; da wußte ich auch, daß ich mich einer falschen Hoffnung hingegeben hatte, was Sie und Martina betraf; das will ich bekennen. Ich habe sehr darunter gelitten. Und als vor ein paar Tagen Fides bei mir war, dort an meinem Bett ist sie gesessen, zur selben Stunde wie jetzt, da sah ich erst, wie schlimm es geworden war. Ich fand keinen andern Trost für sie in meiner Verworrenheit, in meinem Kummer als den, den man auch einem Stein geben kann, während er in den Abgrund stürzt. Erleb es zu Ende! Wir alle erleben es zu Ende, müssen es, auf diese oder diese Weise. Wahr oder nicht wahr, darum kümmert sich der unerforschliche Gott nicht. Auch der Fehlweg ist ein Weg zu ihm. Aber das jemandem zu sagen, ist kein Trost.«

Von all dem hatte Faber nur eins gehört und aufgefaßt. »Wie, Fürstin«, fragte er, »ist es möglich, ich sollte, sagen Sie, Martina von Ihnen zurückhaben? Inwiefern? Ich bitte, ich bitte herzlich, erklären Sie mir das.«

Die Fürstin antwortete nicht sogleich. Der schmale Kopf sank ein wenig gegen die Brust; der Blick verlor sich nach innen. »Ja, das muß ich wohl«, sagte sie wie zu sich selbst, »das muß ich. Doch wo beginnen? Womit beginnen? Sehen Sie, Eugen Faber, in gewissem Sinn bin ich vor Ihnen eine Schuldige. Denn eigentlich habe ich mich ja Martinas bemächtigt. Als wir uns begegneten, rief es in meinem Herzen: das ist sie. Sie fragen: wer? warum gerade die? Ich hoffe, ich kann das verständlich machen. Ich hatte im Laufe meines Lebens soviel mit Frauen und Mädchen zu tun. Namentlich in den letzten Jahren der Zersetzung aller Schicksale sind sie förmlich geflüchtet zu mir. Fast allesamt führerlos. Fast allesamt verirrt. Bedenken Sie doch, wie die Männer in der Welt gehaust haben; wie sie alles Gottesgut und Herzensgut zerschmettert haben. Keine Zeichen gingen mehr aus ihrer Hand hervor, nicht Bild noch Vorbild war da; die Frauen: allein, vereinsamt, ohne Glauben, ohne Aufblick. Da kommen sie dann und wollen helfen. Hilflos selber, wollen sie helfen. Haben in Ehen gelebt ohne Liebe; wollen lieben; haben Liebe gehabt, so wie sie die Liebe verstehen und fassen es nicht, daß sie so leer geblieben sind und suchen Inhalt für das leere Gefäß. Aber das dahier, wo ich wirke, wie wärs denn möglich, kann kein Ersatz sein für betrogene Sinne. Es soll aber Ersatz bieten. Da wird dann alles wirr und dunkel. Unrein wird es. Diese Geschöpfe, wie unermüdlich, wie opferbereit, wie treu am Werk; und unrein! Begreifen Sie, was ich leide? Sag ichs mit Worten, ists wie Frevel. Versündige ich mich doch an hundert und hundert sehnsüchtig Willigen. Ich darfs nicht, solls nicht. Doch es gibt Stunden, wo Wahrheit wichtiger ist als dankbares Verschonen. Ermessen Sie die Aufgabe. Was das ist, was es bedeutet, die Welt verelendeter Kinder. Sie haben einen Blick hineingetan heute; aber das ist nichts; dahinter liegen Greuel himmelhoch; die Marter ist nicht auszusagen, nicht auszuschöpfen, eh nicht einer von neuem auftritt, der die Menschheit auf die Knie zwingt. Halten Sie sich vor, wie die trüben Seelen, von denen ich geredet, die Helferinnen, die sich mißverstehen und das ungeheure allgemeine Leiden mit ihrem persönlichen verwechseln, wie sie sich darinnen ausweinen und austrauern. Ach. Solange sie im Gefüge dienen und nach Vorschrift ihren Gang gehen, ist alles gut. Wer fordert Rechenschaft über die Motive von Rettern, wo eine Generation dabei ist, zu verbluten und zu verwesen. Aber ich, soll ich nicht niederbrechen nach fünfunddreißig Jahren Mühe, brauche die Kraft einer Seele, die frische, ursprüngliche Kraft, nicht aber die in Schwingung versetzte Schwäche. Es kann sich niemand erdenken, wie selten das ist, wie selten die Unschuld und Bescheidenheit, die zusammen eine solche Kraft ausmachen.«

Die Fürstin verdeckte einen Moment die Augen mit der vor Weiße und Blässe durchscheinenden Hand, ehe sie fortfuhr: »Wir säßen nicht voreinander, wenn ich nicht sagen könnte: bei Martina war es so; bei ihr gab es keinen Vorwand. Da war kein Verzicht, kein Sichaufgeben. Kein erkranktes Gemüt. Ein praktisches Ziel. Ich bestärkte sie darin. Ich täuschte sie in dem, was ihr bevorstand. Ich traute mir nämlich zu, sie darüber hinwegzubringen. Ich sah von Anfang an, worum es ging, aber ich schloß die Augen davor. Um sie zu stählen und zu sehen, wie weit sie der Anspannung gewachsen war, schickte ich sie absichtlich auf den gefährdetsten Posten, in den schrecklichen Pionierdienst. Sie dürfen nicht vergessen, daß das verwandelte Leben überall in unseren Kinderstädten noch jungen Datums ist. Seit einem Jahr erst blüht es auf. Bis dahin war alles ein Gehenna. Was ich befürchtet hatte, geschah: Martina wurde viel tiefer gepackt und erschüttert als alle hier, die ihr Tun wie eine Sendung betrachten. Alle gewöhnen sich mit der Zeit. Martina gewöhnte sich nie, aber dabei blieb sie kühl; sie blieb gesammelt, blieb heiter. Das ist das unergründlich Merkwürdige an ihr; sie blieb heiter. Ich gewann sie lieb; gewann sie immer lieber. Warum es verhehlen ? Wie eine Tochter? Ich weiß es nicht. Ich hatte nie ein eigenes Kind. Eine Freundin, junge Freundin? Nein, nein. Das ist außer meiner Grenze. Ich weiß es nicht. Vielleicht liebt man den Genius auf solche Weise. Vielleicht die Idee seiner selbst, die nie verwirklicht wird. Wie dem sei, ich konnte mich in meinem Werk nicht mehr ohne sie denken. Es wird alles dunkel in mir, wenn ich mich ohne sie denke. Heute noch. Heute mehr als je. Doch wußte ich ja seit dem ersten Tag, daß sie gleichsam in eine Lebensschule ging, daß sie sich mit Bewußtsein vorbereitete, nicht um ihr Leben mir und meiner Sache zu widmen, sondern um es einem andern Menschen, sobald er wieder an ihrer Seite war, erfüllter hinzugeben. Dies Geständnis hatte ich ja, wie aus einem tiefen Brunnen, aus ihr herausgeschöpft, und es mußte daher als ein Unverletzlicher Vertrag zwischen uns bestehen. So wurde mir dieser Andere, der Abwesende, wurden Sie mir, Eugen Faber, so gegenwärtig, als ob Sie täglich und stündlich in meiner Nähe gewesen wären. Ich verwahrte ja das Kostbarste, was Sie besitzen, den Inbegriff Ihrer Existenz; das war mir in seinem vollen Gewicht bewußt. Ich mußte, kamen Sie zurück, das kostbare, mir ebenso kostbare, unersetzliche Gut wiedererstatten, die Hand öffnen, die es hielt, das Herz abwenden, an dem es festgewachsen ist. Darüber war kein Schwanken in mir. Und nun: Sie kamen. Ich war darauf gefaßt, daß Martina vor mich hintreten wird und sprechen, dem Sinne nach sprechen: ich habe jetzt wieder meine wahre Berufung; gib mich frei. Ich erwartete es Tag für Tag. Ich habe umsonst gewartet. Statt dessen veränderte sich ihr Wesen in einer Art, die mich immer mehr beunruhigte. Niemand als ich konnt es spüren; ich sah die Verstörung und wie sie darin fast erstickte. Da war keine Frage erlaubt, keine Frage möglich. Ich suchte, suchte. Ich habe mir die Erscheinung von dem allen abgefordert. Den Abend, bevor wir nach England fuhren, als wir allein waren, Martina und ich, da ist mir Faber erschienen. Da rief ich ihm zu: Was tust du, Faber, was tust du mit der dir anvertrauten Menschenseele? mit deinem Hab und Sein? Da wußt ich auf einmal; wußt es auch Martina, daß ich alles wußte. Und da war doch zwischen Ihnen und Fides noch nichts geschehen. Sie stürzt mir in die Arme; weint sich aus. Ich hatte sie nie weinen gehört. Unaussprechlich war es, das Weinen. Ich beschloß im Stillen, daß wir beide. Sie und ich, uns verständigen müssen. Ich will gleich bemerken, daß ich in diesem Fall vollkommen ratlos bin. Daß Sie mich nicht als den älteren, erfahreneren Menschen betrachten können, der Einfluß nehmen will und sich zurechtgelegt hat, wie man sich aus der Unseligkeit befreien könnte. An Sie will ich mich wenden, daß Sie in Ihrem eigenen Inneren den Ausweg finden. Alles hängt davon ab, nur allein davon. Doch sagen Sie mir eines zuvor. Oder nein, sagen Sie es nicht; solch ein Wort könnte nie wieder zurückgenommen werden; es schafft manchmal den unabänderlichen Zustand, ehe wir selber soweit sind. Sie lieben Fides. Es gibt wenig Frauen, die würdiger sind, geliebt zu werden. Sie lieben sie; gut; oder Sie glauben es; gut. Darin liegt das eigentliche Unglück nicht. Es ist auch nicht Martinas Kummer; mag sie es ahnen oder bereits wissen. Der Kummer und die Verstörung bestehen ja nicht erst seitdem. Was Sie an Martina bindet, kann durch nichts vernichtet werden, was den Namen Leidenschaft, sogar den Namen Liebe trägt. Daran können Sie nicht rütteln; es ist die Achse ihres Daseins, nicht wahr. Was also tun, Eugen Faber? Glauben Sie nicht, daß das scheinbar Unabänderliche zuletzt doch in unserer Macht steht? Lassen Sie mein Wort zu Ihnen dringen. Hartnäckig und blind, verraten an das selbstgewisse Ich in unserer Brust, können wir doch immer noch Einhalt tun, wenn wir nur den rechten Augenblick ergreifen. Wir können es, wir können es, wir brauchen den letzten unwiderruflichen Schritt ins Verhängnis nicht zu tun. Fragen Sie sich; fragen Sie den Richter in Ihnen; er ist da; er ist bereit; er will antworten; er muß antworten.«

Sie streckte ihm die verschlungenen Hände entgegen; das edel-schmale Gesicht war ihm wie in einer Durchflammung zugekehrt; der stumm-flehentliche Ausdruck traf ihn im innern Kern. Seine Brust hob sich im Krampf. Er bezwang sich, ruhig zu erscheinen; die Ruhe ging in eine Art von Starrheit über. Sein Blick glitt haltlos und flüchtend im Raum umher, als wolle er so lang als möglich der Begegnung mit dem der Fürstin ausweichen; doch da gab es kein Entrinnen. Und wieder bezwang er sich, seiner Äußerung den Charakter der Trockenheit zu verleihen und nicht merken zu lassen, daß er so tief getroffen war, als er sagte: »Es war weder die Absicht von mir, noch von Fides, Martina aufzuopfern. Plan und Vorstellung, soweit ging es überhaupt nicht. Alles war wie ein unheimlicher Traum. Jetzt eist überseh ich das Ganze einigermaßen. Soviel mir Fides ist, es zu beteuern, widert mich jedes Wort, ohne Martina kann ich nicht leben. Da haben Sie recht, Fürstin, das ist mir nun vollkommen klar.«

Er hielt inne. Sein Gesicht verfärbte sich. Die Augenbrauenbogen eckten sich scharf in die Stirn hinein. Was nun kam, klang abgehackt, kurzatmig, schwerzüngig: »Folglich muß ich mir Martina erringen oder mich selber aus der Welt schaffen. Wenn ich sie erringen soll, gibt es vielleicht nur das eine, daß ich mich von ihr löse. Daß ich den Anspruch aufgebe. Vielleicht muß man erst die Hand wegziehen, die gierige Hand« (er betrachtete mit bitterm Ausdruck seine rechte Hand und ließ sie dann fallen, gleichsam ihrer satt); »vielleicht muß man lösen, wenn man binden will. Vielleicht ist das das Mittel, Fürstin; was meinen Sie?«

Die Fürstin schwieg. In ihren Augen war ein Aufleuchten, das mehr als Freude war, ein dankbares, tiefes Entzücken. Sie war eine Frau von so bedeutender Menschenkenntnis oder Menschenanschauung, daß es ihr wahrscheinlich gefahrvoll dünkte, durch überraschte Zustimmung, stumme oder laute, den entscheidenden Kampf in der Brust dieses Mannes vordringlich zu beeinflussen. So erwiderte sie nur, sinnend und zart zurückhaltend, mit dem schönen Lächeln: »Es kann wohl sein. Es ist etwas Überzeugendes in dem, was Sie sagen. Einen andern Weg wird es wohl kaum geben. Lösen, um zu binden; ja; das mag es sein, das wird es sein.«

Sie stand auf, und ihre Gestalt erschien auf einmal rührend gebrechlich. »Ich werde dann wohl keine Martina mehr zur Helferin haben,« sagte sie, »aber das ist ja auch nicht Martinas Bestimmung.« Sie reichte ihm mit ergriffen-achtungsvoller Bewegung die Hand.

Er beugte sich nieder, sehr tief, und berührte ihre Hand mit den Lippen.

Dann ging er.


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