Edgar Wallace
Die gelbe Schlange
Edgar Wallace

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34

Er hatte Leggat getötet! Mit seinen eigenen Händen hatte er ihn umgebracht! Er, der nicht einmal einem Kaninchen das Leben nehmen konnte, hatte diesen Menschen erdolcht. Der rote Fleck auf dem weißen Tuch wurde größer und größer. Seine Hände färbten sich mit diesem schrecklichen Blut, und er wandte sich mit einem irren Schrei um und wollte mit dem Teufel kämpfen, der ihm diese Worte ins Ohr geflüstert hatte.

Auf Spedwells Zügen malte sich blasser Schrecken. Er streckte den Arm aus, um sich zu schützen, aber die blutigen Hände griffen nach seiner Kehle und warfen ihn zu Boden. Dann erhielt Narth einen Schlag, so daß er vornübersank, zuerst auf die Knie, dann fiel er auf den mit Fließen bedeckten Boden. In wildem Wahnsinn schrie er gellend auf.

Die langen Reihen der gelben Männer saßen und beobachteten diesen Vorgang, ohne sich zu rühren. Ihre falschen Diamanten glitzerten in den Vorhemden, und ihre weißbehandschuhten Hände ruhten auf den Knien.

*     *     *

Eine Stunde später kam Major Spedwell in den großen, prachtvoll eingerichteten Raum, der für Fing-Su bei seinen häufigen Besuchen in der Fabrik reserviert war. Der Chinese sah von seinem Buch auf und streifte seine Zigarettenasche in eine silberne Schale.

»Nun, was macht unser ängstlicher Freund?« fragte er.

Spedwell schüttelte den Kopf. Er sah zehn Jahre älter aus. Noch konnte man den Abdruck der blutigen Hand auf seinem weißen Frackhemd sehen.

»Wahnsinnig!« sagte er kurz. »Ich glaube bestimmt, daß er den Verstand verloren hat.«

Fing-Su lehnte sich mit einer ungeduldigen Geste in seinen gepolsterten Stuhl zurück.

»Das war nicht beabsichtigt«, sagte er mit leichtem Verdruß. »Wer konnte sich auch denken, daß ein erwachsener Mann sich so aufführen würde? Dieser Kerl ist eben ein gemeiner Feigling und paßt nicht zu solchen Dingen.« Spedwell antwortete nicht. Vielleicht dachte er darüber nach, ob bald der Tag kommen würde, an dem er aus Gründen der Zweckmäßigkeit selbst betäubt auf dem Marmoraltar läge, und ein Novize den verhängnisvollen Dolch auf sein Herz richten würde.

»Die Idee war doch sicher glänzend und hätte besser enden sollen!« sagte Fing-Su. »Leggat war doch ein Feigling und Verräter, er verdiente seinen Tod. Möglicherweise wird unser Freund Narth später anders darüber denken, wenn er wieder zu sich kommt und sich bewußt wird, daß er sich kompromittiert hat.«

Spedwell behielt den anderen stets im Auge.

»Sie sagten mir vorher, daß der Yünnan-Mann, der in Lynnes Hände fiel, geopfert werden sollte. Ich war mit dem Plan durchaus nicht einverstanden, aber schließlich habe ich unvernünftigerweise zugestimmt. Mein Gott, als ich Leggats Gesicht sah –«

Er trocknete seine schweißbedeckte Stirn, und sein Atem ging schnell.

Fing-Su sagte nichts und wartete.

»Wie haben Sie denn Leggat in Ihre Gewalt bekommen?« fragte Spedwell endlich.

»Er kam von selbst – wir gaben ihm einen Trank – er hat nichts gemerkt«, sagte Fing-Su ungewiß. »Er hat uns verraten, das wissen Sie ja. Jetzt ist er tot, und es ist mit ihm vorbei. Was nun Narth betrifft – auch sein Leben ist in unserer Hand.«

Spedwell, der in einen Klubsessel gesunken war, schaute plötzlich auf.

»Dann würde er wirklich und für immer verrückt sein, wenn er das selbst glaubte«, sagte Spedwell. »Wie ich Ihnen schon früher sagte, Fing-Su, unser Leben ist in seiner Hand – nicht umgekehrt!«

Fing-Su entfernte sorgfältig die Reste seiner Zigarette aus der Ebenholzspitze, steckte eine andere hinein und zündete sie an, bevor er antwortete.

»Wo haben Sie Narth hingebracht?«

»In den Steinschuppen. Er wird nicht mehr schreien, ich habe ihm Morphium gegeben. Wir müssen ihn so schnell wie möglich außer Landes schaffen. Die ›Umveli‹ verläßt den Hafen heute nacht, nehmen Sie ihn an Bord –«

»Zusammen mit dem Mädchen?«

Spedwell kniff die Augen zusammen.

»Was meinen Sie mit dem Mädchen?« fragte er. »Sie halten Joan Bray hier in London gefangen, bis Clifford Lynne Ihnen die Aktien gibt, die Sie brauchen.«

Der Chinese blies den Rauch gedankenvoll vor sich hin. Falten zeigten sich auf seiner niedrigen Stirn.

»Das war ursprünglich meine Absicht«, gab er zu. »Aber in den letzten paar Stunden hat sich viel ereignet . . . ich möchte meinen Plan ändern. Wir könnten sie zur chinesischen Küste und auf einem der Ströme oben ins Land bringen, ohne Aufsehen zu erregen.« Er blies die Rauchwolken zur Decke hinauf und sah zu, wie sie in Nichts zerrannen. »Sie ist wirklich schön«, sagte er.

Major Spedwell erhob sich und ging bedachtsam auf den Tisch zu. Er stand vor Fing-Su und legte seine Hände auf die Tischplatte.

»Sie wird in England bleiben, Fing-Su!« sagte er langsam und mit großem Nachdruck.

Für einen Augenblick trafen sich die Augen der beiden Männer. Der Chinese lächelte.

»Mein lieber Major Spedwell,« sagte er, »in einer solchen Organisation kann es nur einen Meister geben. Und dieser Meister, das möchte ich scharf betonen, bin ich. Wenn ich wünsche, daß sie in England bleibt, bleibt sie da. Und wenn es mein Wunsch ist, daß sie zur Küste Chinas mitkommt, kommt sie mit. Ist das klar?«

Spedwells Hand bewegte sich so schnell, daß Fing-Su nichts anderes als eine große rosa Fläche sah. Im Bruchteil einer Sekunde hatte Spedwell etwas in der Hand. Die schwarze Mündung zeigte auf Fing-Sus weiße Weste.

»Sie bleibt!« sagte Spedwell energisch. Jeder Muskel seines Gesichts war angespannt.

Einen Augenblick lang verzerrte sich das Gesicht des Chinesen. Seine Züge verrieten solche Furcht, wie es der Major früher nie gesehen hatte. Aber sofort hatte sich Fing-Su wieder in der Gewalt und zwang sich zu einem Lächeln.

»Wenn Sie wollen, mag sie auch hierbleiben! Durch Streit wird nichts gewonnen. Wo ist sie jetzt? In der Fabrik? Gehen Sie, und holen Sie sie hierher.«

Spedwell war über diesen unerwarteten Wunsch erstaunt.

»Ich dachte, Sie wollten sie nicht wissen lassen, daß Sie Ihre Hand im Spiele haben?« sagte er.

»Das macht mir jetzt nichts mehr aus«, sagte der andere. »Gehen Sie bitte, und bringen Sie das Mädchen her.«

Spedwell hatte die Tür eben erreicht, als er hörte, wie leise eine Schublade aufgezogen wurde. Mit blitzartiger Geschwindigkeit drehte er sich um. Ein Geschoß verletzte sein Gesicht und zersplitterte die Holzverkleidung der Tür. Als er seine Pistole hob, sah er, wie Fing-Su sich auf die Erde warf. Einen Augenblick zögerte er, dann drehte er sich um und floh in den großen Raum, der vor dem Privatbureau des »Kaisers« lag.

Es war ein Warenlager, das bis oben mit Stückgütern gefüllt war. Drei schmale Wege führten zu den großen Toren am Ende. Er hatte nur eine Möglichkeit zu entkommen. Am hinteren Ende des Lagers sah er das Schaltbrett, durch das die Lichtversorgung in diesem Flügel der Fabrik geregelt wurde. Der Schuß war gehört worden, das große Tor hinten wurde aufgerissen, und eine Schar Chinesen strömte in den Lagerraum. Er hob seine Pistole und feuerte zweimal rasch hintereinander nach dem Schaltbrett. Sofort ging das Licht aus, und Marmor- und Glassplitter flogen umher.

Schnell schwang er sich auf einen Ballen, eilte über die aufgestapelten Waren hinweg, indem er von Kiste zu Kiste sprang, bis er nahe an die offene Tür gekommen war. Einige unentschlossene Kulis standen in der Öffnung. Mit einem gewaltigen Satz war er mitten unter ihnen. Der Lauf seiner Pistole blitzte, und sie hatten sich von ihrem Erstaunen noch nicht erholt, als er schon über den dunklen Hof lief, das Dach des Schuppens erkletterte und so den Rand der Mauer erreichte. Es war derselbe Schuppen, den Clifford Lynne in jener Nacht sah, als er seinen unangemeldeten Besuch in Peckham machte. Bevor die Verfolger ihn einholen konnten, war er über die Mauer auf den schmutzigen Weg gesprungen und entfloh dem Kanalufer entlang.

 


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