Edgar Wallace
Die gelbe Schlange
Edgar Wallace

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21

Clifford Lynne ging in der Bibliothek auf und ab, als Mr. Narth eintrat (als ob es seine eigene gewesen wäre, beklagte sich Stephen später seiner Tochter gegenüber), und wandte sich unvermittelt um, damit er dem Seniorchef von Narth Brothers ins Gesicht sehen konnte.

»Schließen Sie die Türe! Wollen Sie nicht?« Es war mehr ein Befehl als eine Bitte. Und es war erstaunlich, wie schnell Stephen gehorchte.

»Sie kamen heute morgen um vier Uhr nach Hause«, begann Clifford. »Sie haben bei Cyro zu Abend gespeist. Das Lokal schließt um ein Uhr. Was haben Sie und Ihre Töchter zwischen ein und vier Uhr getan?«

Narth wollte seinen Ohren nicht krauen.

»Darf ich fragen –« begann er.

»Fragen Sie nichts! Wenn Sie mich fragen wollen, wer mir das Recht dazu gibt, diese Frage an Sie zu stellen, können Sie sich diese Mühe sparen«, sagte Clifford kurz. »Ich will wissen, was Sie zwischen eins und vier gemacht haben.«

»Und ich lehne es strikt ab, Ihre Neugierde zu befriedigen«, sagte der andere ärgerlich. »Die Angelegenheit hat sich ja schon weit entwickelt, wenn –«

»Heute morgen um drei Uhr«, unterbrach ihn Clifford schroff, »wurde der Versuch gemacht, Joan Bray aus diesem Hause zu entführen. Das ist Ihnen doch neu?«

Narth nickte stumm.

»Sie denken wahrscheinlich, der Versuch sei nicht gemacht worden, aber Sie haben ihn erwartet. Ich stand hinter den Sträuchern, als Sie zu dem Chauffeur sprachen. Sie forderten ihn auf, in das Haus zu kommen, nachdem er den Wagen in die Garage gebracht hatte. Sie sagten ihm, daß Sie nervös seien und daß neulich in der Nachbarschaft eingebrochen wurde. Sie waren erstaunt, als Sie Joan Bray unversehrt in ihrem Zimmer fanden.«

Blaß bis in die Lippen war Stephen Narth unfähig zu antworten.

»Sie sind mir Rechenschaft schuldig – wie haben Sie die Stunden zwischen eins und vier verbracht?« Diese durchbohrenden Blicke drangen in Narths Seele. »Sie wollten nicht zu Fing-Su gehen und das mit Recht, denn Sie wünschten nicht ihre Töchter mit diesem Manne in Berührung zu bringen. Soll ich Ihnen sagen, was Sie getan haben?«

Narth antwortete nicht.

»Während des Tanzes sind Sie herausgegangen und haben den Führerstand Ihres Autos abgeschlossen. Das benützten Sie als Vorwand, um mit den Mädchen zu einem dieser sonderbaren Klubs in Fitzroy Square zu gehen, die die ganze Nacht offen sind. Und dann haben Sie vorsorglich im rechten Moment den Schlüssel in Ihrer Tasche wiedergefunden.«

Jetzt gewann Mr. Narth seine Stimme wieder.

»Sie sind fast ein Detektiv, Lynne«, antwortete er. »Und, sonderbar genug, Sie haben recht, mit Ausnahme des Umstandes, daß nicht ich den Stand abschloß, sondern mein Chauffeur es tat und den Schlüssel verlor. Glücklicherweise entdeckte ich einen zweiten in meiner Tasche.«

»Sie wollten nicht eher zurückkehren, als bis die schmutzige Arbeit getan war?« Cliffords Augen glühten wie lebendiges Feuer. »Sie Schwein! Ich will Ihnen einmal etwas sagen, Narth. Wenn Joan Bray irgend etwas zuleide getan wird, während sie in Ihrem Hause wohnt und sich unter Ihrer Obhut befindet, dann werden Sie nicht länger unter der Sonne leben, um sich an der Erbschaft zu erfreuen, die Ihnen Joe Bray hinterlassen hat, wie Sie denken! Ich werde Ihren Freund töten – er ist doch davon überzeugt, nicht wahr? Wenn er es noch nicht sein sollte, gehen Sie jetzt hin und sagen Sie es ihm. Ein altes Sprichwort sagt, daß man gehangen werden kann, gleichgültig, ob man ein Schaf oder eine Ziege ist. Ich weiß nicht, als welches von beiden man Sie ansprechen soll. Hören Sie genau zu, Narth – Todesdrohungen kommen leicht in den Mund solcher Menschen, die nicht einmal sehen können, wie man einem Hahn das Genick umdreht, ohne ohnmächtig zu werden. Aber ich habe Männer umgebracht, gelbe und weiße, und ich werde mit keiner Wimper zucken, wenn ich Sie zur Hölle schicken muß. Nehmen Sie sich das zu Herzen, und denken Sie darüber nach! Joan wird nicht mehr lange bei Ihnen bleiben, aber während der Zeit haben Sie sie zu schützen!«

Jetzt war Stephen Narth die Zunge gelöst.

»Das ist eine Lüge, eine ganz infame Lüge!« schrie er. »Warum hat mir denn Joan nichts gesagt? Ich weiß nichts davon! Glauben Sie denn wirklich, ich würde Fing-Su erlauben, sie wegzuschleppen –«

»Ich sagte ja gar nicht, daß es Fing-Su war«, unterbrach ihn Clifford schnell. »Woher wissen Sie denn das plötzlich?«

»Nun wohl, Chinesen –«

»Ich habe nicht einmal Chinesen gesagt. Sie haben sich selbst überführt, Mr. Narth. Ich habe Sie vorhin gewarnt, und ich warne Sie jetzt noch einmal. Fing-Su hat Sie um fünfzigtausend Pfund gekauft, aber Sie hätten sich wieder herausdrehen können, da Sie ja von Natur aus ein Rechtsverdreher sind. Aber er wird Sie mit noch viel festeren Ketten an sich binden als mit Geldverpflichtungen. Beinahe hätte er es schon letzte Nacht getan. Er wird es noch vor Ende dieser Woche tun, wie oder wann oder wo – das weiß ich nicht.« Er machte eine Pause. »Das ist alles, was ich Ihnen mitzuteilen habe«, sagte er und schritt an dem erstarrten Narth vorbei in die Halle.

Als er den Fahrweg entlang ging, hörte er Stephen Narths Stimme, der ihm nachrief. Er drehte sich um und sah ihn mit blutleerem Gesicht wild gestikulieren. Er tobte vor Wut und stieß wilde, unzusammenhängende Schmähungen aus.

». . . Sie werden Joan niemals heiraten . . . hören Sie das? Meinetwegen soll die ganze Erbschaft von Joe Bray Ihnen gehören! Eher soll sie sterben . . .«

Clifford ließ ihn ruhig wüten. Als Narth erschöpft von dem Gebrüll einen Augenblick anhielt, rief er ihm zu:

»Also haben Sie letzte Nacht Fing-Su doch gesehen? Was hat er Ihnen angeboten?«

Stephen starrte ihn entsetzt an. Dann rannte er ins Haus zurück wie ein Besessener, der fürchten mußte, daß seine geheimsten Gedanken von diesen unheimlich durchbohrenden Augen enträtselt werden könnten.

*     *     *

»Es wird noch viele Sorgen geben, Joe, und da du die ganze Geschichte eingerührt hast, hoffe ich, daß du auch deinen Teil davon abbekommst.«

Joe träumte halb schlafend vor einem unnötigen Feuer, denn der Tag war warm. Seine gefalteten Hände ruhten auf dem Magen. Bei den heftigen Worten Cliffords wachte er auf.

»Na . . . Ich wollte, du würdest nicht immer heraus- und hereinschlüpfen wie ein – ein – wie nennst du das doch, Cliff? Was hast du eigentlich gesagt?«

»Sorgen – habe ich gesagt!« erwiderte er kurz. »Dein aufgepäppelter Chinesenliebling und dein schandbarer Verwandter haben zusammen einen Plan ausgeheckt.«

Joe brummte, nahm eine Zigarre aus seiner Tasche, die auf dem Tisch lag, und biß das Ende gemächlich ab.

»Ich wünschte, ich wäre nie in dieses blumige Land gekommen«, sagte er vorwurfsvoll, »und wäre niemals aus Siangtan herausgegangen. Du bist ein lieber Kerl, Cliff, aber viel zu heftig, viel zu heftig. Ich wollte, Fing-Su wäre ein vernünftiger Junge mit guter Erziehung und sonst noch allem gewesen – Cliff, ist das nicht ein Elend?« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Das Leben ist doch komisch«, sagte er unklar.

Clifford wechselte seine Schuhe und grollte:

»Wenn du der einzige Mann wärest, den ich je auf dieser Welt getroffen hätte, dann würde ich sagen, das Leben war komisch. Aber so wie es ist, ist es verflucht ernst. Hast du die Zeitungen gelesen?«

Joe nickte und langte lässig nach einem Stoß Zeitungen, die auf dem Tisch lagen.

»Ja, ich habe von der Ermordung der Missionare in Honan gelesen, aber da gibt es immer Scherereien. Zu viele hungernde Soldaten vagabundieren herum. Wenn keine Soldaten da wären, würde es auch keine Räuber geben.«

»Das ist der neunte Missionar, der in diesem Monat ermordet wurde,« sagte Clifford kurz, »und diese Soldaten sind die bestdisziplinierten in China. Ich gebe zwar zu, daß das nicht viel bedeutet. Aber die Soldaten waren daran beteiligt und hatten Fahnen mit der Inschrift: ›Wir grüßen den Sohn des Himmels.‹ Das heißt, daß in China ein neuer Prätendent für den Kaiserthron aufgetreten ist.«

Joe schüttelte den Kopf.

»Ich habe es niemals mit Chinesen gehalten, die mit Gewehren schießen konnten«, sagte er. »Das demoralisiert sie, Cliff. Glaubst du, daß wir Unruhen in Siangtan haben werden?« fragte er ängstlich. »Wenn es so wäre, müßte ich zurückreisen.«

»Du wirst hier bleiben«, sagte Clifford anzüglich. »Ich glaube nicht, daß wir in diesem Teil Chinas Unruhen bekommen. Wir zahlen dem Gouverneur zu viel, es würde ein schlechtes Geschäft für ihn sein. Aber an siebzehn verschiedenen Stellen in China herrscht offene Revolution.« Er öffnete eine Schublade, suchte eine Karte heraus und entfaltete sie auf dem Tisch. Joe sah, daß an manchen Stellen rote Kreuze eingezeichnet waren. »In den Zeitungen nennen sie es ›Unruhen‹«, sagte Clifford ruhig. »Als Gründe geben sie den schlechten Ausfall der Reisernte und ein Erdbeben an, das allerdings Hunderte von Meilen vom Herd der Unruhen entfernt war.«

Der alte Joe erhob sich mühsam.

»Was hat das alles zu bedeuten?« fragte er, indem er Lynne mit zusammengekniffenen Augen ansah. »Zum erstenmal sehe ich, daß du Interesse an chinesischen Dingen hast. Worum handelt es sich denn dabei? Uns können sie doch nichts anhaben?«

Lynne faltete die Karte zusammen.

»Eine durchgreifende Änderung in der Regierung würde natürlich alle Verhältnisse berühren«, sagte er. »Honan kümmert mich wenig, es ist von jeher eine Räuberprovinz gewesen. Aber in Yünnan waren Unruhen, und wenn Yünnan anfängt, dann muß alles schon sehr weit fortgeschritten sein. Von irgendeiner Seite aus wird stark für eine neue Dynastie gearbeitet – und die Flaggen der Aufrührer tragen alle das Symbol der ›Freudigen Hände‹!«

Der alte Joe saß mit offenem Munde da.

»Aber das ist doch bloß eine kleine verrückte Gesellschaft«

»Acht Provinzen stehen geschlossen hinter dem Bund der ›Freudigen Hände‹«, unterbrach ihn Clifford. »Und Fing-Su hat ein Hauptquartier in jeder Provinz. Er hat uns schamlos hinters Licht geführt. Das Geld, das er aus unserer Gesellschaft zog, hat er dazu benutzt, eine Handelsfirma zu finanzieren, die offene Konkurrenz für uns bedeutet.«

»Das hat er nie getan!« sagte Joe verwirrt mit dumpfer Stimme.

»Geh doch nur zum Tower, und sieh dir Peking House an – das ist das Londoner Bureau dieser Handelsgesellschaft – und das Hauptquartier des Kaisers Fing-Su!«

Der alte Joe Bray konnte nur den Kopf schütteln.

»Kaiser – hm! Dasselbe wie Napoleon – bei Gott!«

»In drei Monaten wird er Geld brauchen – viel Geld. Augenblicklich finanziert er mehrere Generäle, aber unmöglich kann das auf lange Zeit so weitergehen. Sein Plan ist, eine große Nationalarmee unter Spedwell zu bilden, der ja China zur Genüge kennt. Wenn er so weit ist, will er sich selbst auf den Thron setzen. Mit den drei Generälen, die jetzt in seinem Dienst stehen, kann er leicht verhandeln. Wie er aber zu diesen Kaiserplänen gekommen ist, mag der Himmel wissen!«

Mr. Bray stand peinlich berührt auf. Irgend etwas in seiner Haltung zog die Aufmerksamkeit seines Teilhabers auf sich.

»Jetzt weiß ich es – du warst es, du alter, böser Kerl!« schnaubte Clifford los.

»Allerdings habe ich ihm Pläne entwickelt«, gab Joe zu, der sich durchaus nicht wohl fühlte. »Ich habe gewissermaßen Geschichten erfunden, um seinen Ehrgeiz anzuspornen. Ich besitze eine wunderbare Phantasie, Cliff. Sicherlich hätte ich schon Novellen geschrieben, wenn ich orthographisch richtig schreiben könnte!«

»Und ich vermute,« sagte Clifford, »du hast ihm ein Bild entworfen, was China sein könnte, wenn es einen Führer hätte?«

»Ja, so etwas Ähnliches.« Joe Bray traute sich aber nicht, seinem Teilhaber in die Augen zu sehen. »Aber es war doch nur, um seinen Ehrgeiz anzuregen – wenn du doch nur verstehen wolltest, Cliff. Gerade um ihn anzuspornen.«

Clifford lachte ruhig, und er lachte selten.

»Meiner Meinung nach brauchte er keinen Ansporn mehr«, sagte er. »Fing-Su ist ein Charakter, wie er unter Millionen Menschen einmal vorkommt, und wie er in gewissen Zeitabschnitten in der Geschichte der Menschheit auftaucht. Napoleon war so einer, Rhodes war einer, auch Lincoln – aber es gibt nicht viele.«

»Und was ist mit George Washington?« fragte Mr. Bray, der ängstlich bemüht war, die Unterhaltung in historische Bahnen abzulenken.

»Wer auch dafür verantwortlich sein mag, das Unglück ist nun einmal geschehen.« Clifford sah auf seine Uhr. »Hast du jemals Nester ausgehoben, Joe?«

»Als Junge ja«, sagte Joe selbstzufrieden. »Es waren mir damals wenige darin über.«

»Nun gut, wir werden heute nacht ein schwimmendes Nest des zahmen Gelbvogels ausheben«, sagte Clifford.

 


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