Edgar Wallace
Die gelbe Schlange
Edgar Wallace

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4

Joan Bray war einundzwanzig, aber sie sah viel jünger aus. Sie war schlank – Letty sagte von ihr, daß sie schrecklich mager wäre, doch das war übertrieben. Die Narth waren Leute mit vollen Gesichtern, sie hatten alle ein rundes Kinn und schöne Köpfe, waren aber ein wenig phlegmatisch. Dagegen war Joan geschmeidig an Körper und lebhaft an Geist, jede ihrer Bewegungen war bestimmt und bewußt. Wenn sie ruhig dasaß, hatte sie die Haltung einer Aristokratin (sie weiß immer, wo sie ihre Hände hintun soll, gab Letty widerwillig zu). Man merkte ihr an, daß es ihr Freude machte, sich zu bewegen. Zehn Jahre lang war sie vernachlässigt, unterdrückt und beiseitegeschoben worden, wenn man sie nicht zu sehen wünschte, und sie hatte dabei weder ihren Lebensmut noch ihr Vertrauen verloren.

Sie stand nun mit einem schelmischen Lächeln in ihren grauen Augen im Zimmer, sah von einem zum andern und merkte, daß irgend etwas Außergewöhnliches vorgefallen war. Die Zartheit ihres Teints und ihr hübsches Aussehen konnten selbst von der etwas herausfordernden Schönheit ihrer Cousinen weder in den Schatten gestellt noch hervorgehoben werden. Sie glich einem Bilde, dessen wundervolle Feinheiten nicht durch Glanzlichter oder Schlagschatten hätten unterstrichen werden müssen.

»Guten Abend, Mr. Narth.« Sie redete ihn immer formell an. »Ich habe die Vierteljahresabrechnung fertiggestellt – sie ist einfach schauderhaft!«

Zu jeder anderen Zeit hätte Stephen diese Nachricht schwer getroffen, aber die Aussicht, ein großes Vermögen zu erben, hatte die Frage, hundert Pfund mehr oder weniger zu besitzen, für ihn vollständig gleichgültig gemacht.

»Nimm doch Platz, Joan«, sagte er. Verwundert nahm sie einen Stuhl und setzte sich abseits.

»Willst du bitte diesen Brief lesen?« Er reichte das Schreiben über den Tisch zu Letty, die es ihr gab.

Schweigend las sie, und als sie fertig war, kam ein Lächeln in ihre Züge.

»Das ist wirklich eine wundervolle Nachricht. Ich bin sehr froh«, sagte sie und blickte spöttisch von einer Cousine zur andern. »Und wer wird die glückliche Braut sein?«

Ihre unzerstörbare Heiterkeit war in Mabels Augen eine Beleidigung. Diese Selbstverständlichkeit, mit der Joan annahm, daß die eine oder andere von ihnen sich in eine obskure Chinesenstadt vergraben sollte, ließ sie bis in den Nacken erröten.

»Sei doch nicht so dumm, Joan«, sagte sie scharf. »Das ist noch eine Frage, die überlegt werden muß –«

»Meine Liebe« – Stephen sah ein, daß man taktvoll vorgehen mußte – »Clifford Lynne ist ein wirklich guter Mensch, einer der besten, die es gibt«, sagte er begeistert, obgleich er Clifford Lynnes Charakter, Aussehen oder Verhältnisse nicht genauer kannte als die irgendeines Arbeiters, dem er heute nachmittag mit seinem Auto begegnet war. »Dies ist das größte Glück, das uns jemals in den Weg gekommen ist. Tatsächlich«, sagte er vorsichtig, »ist dies nicht der einzige Brief, den ich von unserem alten Freund Joseph erhalten habe. Da ist nämlich noch ein anderes Schreiben, in dem er sich viel deutlicher ausdrückt.«

Joan sah ihn an, als ob sie nun erwarte, daß er ihr diesen mysteriösen Brief zeigen würde. Aber er tat nichts dergleichen aus dem ganz einfachen Grunde, weil dieser Brief überhaupt nicht existierte, höchstens in seiner Phantasie.

»Wirklich, liebe Joan, Joseph wünscht, daß du diesen Mann heiratest.«

Langsam stand das Mädchen auf, ihre feingezogenen Augenbrauen schoben sich in die Höhe.

»Er will, daß ich ihn heirate?« wiederholte sie. »Aber ich kenne doch den Mann gar nicht.«

»Ebensowenig wie wir«, sagte Letty ganz ruhig. »Darum handelt es sich auch gar nicht, ob man jemand kennt. Überhaupt, wie willst du irgendeinen Mann genauer kennen, den du heiraten sollst? Du siehst eben einen Mann jeden Tag einige Minuten, und du hast nicht die geringste Ahnung, was sein eigentlicher Charakter ist. Erst wenn du später verheiratet bist, kommt sein wirkliches Wesen zum Vorschein.«

Aber das alles machte Mr. Narth die Sache nicht leichter. Durch ein Zeichen bedeutete er Letty zu schweigen.

»Joan,« sagte er, »ich bin immer gut zu dir gewesen. Ich habe dir ein Heim gegeben und habe noch mehr für dich getan, wie du wohl weißt.«

Er sah seine Töchter an und gab ihnen ein Zeichen, sich zu entfernen. Als sich die Tür hinter Letty geschlossen hatte, begann er:

»Joan, ich muß mich einmal ganz frei mit dir aussprechen.« Es war nicht das erstemal, daß er offen mit ihr redete, und sie wußte, was jetzt kommen würde. Sie hatte einen Bruder gehabt, einen wilden Jungen mit leichtsinnigem Charakter, der früher bei der Firma Narth Brothers angestellt war, dann aber mit der Kasse durchbrannte – es waren einige hundert Pfund Sterling – aber er hatte diese Entgleisung mit dem Leben bezahlt, als er zu einem Hafen fliehen wollte. Man fand ihn auf einer Chaussee in Kent tot unter den Trümmern seines Autos. Dann war da noch die Geschichte mit der alten kranken Mutter Joans, die in den letzten Lebensjahren von Mr. Narth unterhalten wurde (»Es ist doch unmöglich, daß wir sie ins Armenhaus gehen lassen, Vater«, hatte Mabel gesagt. »Wenn das in die Zeitungen kommt, wird es einen bösen Skandal geben« – Mabel war eben Mabel schon mit sechzehn Jahren).

»Ich möchte dich nicht an alles erinnern, was ich für deine Familie getan habe«, begann Stephen und fing nun an, ihr alles ins Gedächtnis zurückzurufen. »Ich habe dich in mein Haus aufgenommen und habe dir eine gesellschaftliche Stellung gegeben, die du sonst nicht gehabt hättest. Jetzt hast du einmal Gelegenheit, mir deine Dankbarkeit dafür zu zeigen. Ich wünsche sehr, daß du diesen Mann heiratest.«

Sie biß auf ihre Lippe, aber sie hob den Blick nicht von dem Teppich.

»Hörst du, was ich sage?«

Sie nickte und erhob sich langsam.

»Wollen Sie wirklich, daß ich ihn heirate?«

»Ich will, daß du eine reiche Frau wirst«, sagte er mit Nachdruck. »Ich fordere von dir gar nicht, daß du irgendein Opfer bringst; ich gebe dir eine Gelegenheit glücklich zu werden. Neun von zehn Mädchen würden sich nicht einen Augenblick besinnen.«

Es klopfte an der Tür. Der Diener kam herein und brachte auf einem Silbertablett ein Telegramm. Mr. Narth öffnete es, las und war starr.

»Er ist tot«, sagte er leise. »Der alte Joe Bray ist wirklich tot!«

Aber schon kalkulierte er. Jetzt war der 1. Juni. Wenn er Joan in einem Monat verheiratete, konnte er den Konkurs der Firma Narth Brothers vermeiden. Ihre Augen trafen sich, ihr Blick war ruhig, sicher, aber fragend, der seine kalt, berechnend und gefühllos.

»Willst du ihn also heiraten?« fragte er.

Sie nickte.

»Ja, ich glaube«, sagte sie ruhig.

Der Seufzer der Erleichterung, mit dem er aufatmete, gab ihr einen Stich und ließ sie zum erstenmal die Bitterkeit des Lebens fühlen.

»Du bist ein sehr kluges Mädchen, und du wirst es nicht bereuen«, sagte er eifrig, als er um den Tisch herum kam und ihre kalten Hände in die seinen nahm. »Ich kann dir versichern, Joan –«

Er drehte sich um, denn es klopfte wieder. Der Diener trat ein:

»Ein Herr wünscht Sie zu sehen.«

Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als auch schon der Besucher hinter ihm ins Zimmer trat. Er war ein großer Mann und trug einen getüpfelten, schlechtsitzenden Anzug aus rauhem Stoff. Seine Schuhe waren aus rohem Leder und schienen selbstgefertigt zu sein. Er hatte nicht einmal einen Kragen um. Ein weiches Hemd wurde am Hals sichtbar. Ein zerbeulter Hut in seiner Hand vervollständigte das Bild. Aber Joan schaute nur sein Gesicht an. Noch niemals hatte sie einen solchen Mann gesehen. Sie konnte nur staunen. Seine langen, braunen Haare waren gewellt, er trug einen langen, ungepflegten Bart, der bis aus die Brust herabreichte.

»Wer zum Teufel –« begann Mr. Narth erstaunt.

»Mein Name ist Clifford Lynne«, sagte die Erscheinung. »Soviel ich weiß, soll ich hier jemand heiraten. Wo ist sie?«

Sie starrten den wunderlichen Mann an und Letty, die ihm auf dem Fuß gefolgt war, lachte nervös auf.

»Mr. Lynne –« stotterte Stephen Narth.

Bevor der Mann antworten konnte, kam eine dramatische Unterbrechung. Draußen hörte man jemand leise mit dem Diener sprechen. Als Mr. Narth nachschaute, sah er eine Gestalt mit einem viereckigen Kasten.

»Was ist das?« fragte er scharf.

Der Diener streckte seine Hand aus der Tür und kam mit dem Kistchen ins Zimmer. Es war ganz neu und maß ungefähr eine Spanne im Quadrat. Es ließ sich durch einen Schiebedeckel öffnen.

»Mr. Lynne?« fragte der Diener verlegen wie jemand, der sich in einer Lage befindet, in der er sich nicht zu helfen weiß.

»Ja!«

Der bärtige Mann drehte sich schnell herum. Alle seine Bewegungen hatten etwas Abgerissenes, wie Joan unbewußt beobachtete.

»Für mich?«

Er stellte den Kasten auf den Tisch und runzelte bedenklich die Stirn. Auf den Deckel waren fein säuberlich die Worte gemalt:

Clifford Lynne, Esq.
(bei seiner Ankunft zu überreichen).

Als er seine Hand ausstreckte, um den Schiebedeckel zu öffnen, schauderte Joan zusammen. Es kam ihr eine unerklärliche Ahnung, daß dem Mann eine schreckliche Gefahr drohe, sie wußte aber nicht welche.

»Was zum Teufel ist das?« fragte der erstaunte Fremde.

Der Kasten stand offen, aber man konnte nichts sehen als eine Masse weicher Watte . . . aber sie bewegte sich in unheimlichen Windungen.

Plötzlich aber kam aus dem weißen Lager ein Kopf mit zwei schwarzen, perlförmigen Augen hervor, die bösartig aufglühten.

Im Bruchteil einer Sekunde schob sich hinter dem Kopf ein langer gewundener Körper hervor, schwankte hin und her, mit einmal zuckte er zurück und der häßliche Kopf schoß nach vorne.

Die Schlange hatte aber die Entfernung unterschätzt – nun lag sie lang auf dem Tisch, der Kopf hing über die Kante, der Schwanz war noch in der Watte versteckt. Nur für kurze Zeit lag sie so ausgestreckt da.

Während alle starr vor Schrecken standen, glitt sie geschmeidig auf den Fußboden. Wieder erhob sie ihr Haupt, ihr Körper wand sich hin und her, und dann holte sie aus zum Sprung . . .

Eine Explosion betäubte alle – durch einen Nebel von blauem Dunst sah Joan, wie sich die kopflose Schlange auf dem Boden in Todeskrämpfen wand.

»Verdammte Höllenbande!« sagte Clifford Lynne verwundert. »Wer warf diesen Stein?«

 


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