Edgar Wallace
Die gelbe Schlange
Edgar Wallace

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10

Fing-Sus Bestürzung dauerte nur einen Augenblick. Die zusammengelegten Arme sanken wieder herunter, die geneigte Gestalt richtete sich plötzlich gerade auf und Grahame St. Clay wurde wieder zum Europäer. In seinen Augen leuchtete tödlicher Haß, der ihn plötzlich schrecklich erscheinen ließ. Aber nur für den Bruchteil einer Sekunde regte sich in ihm das Tier, das Feuer erlosch, und er war wieder der Alte.

»Diese Zudringlichkeit ist unerhört«, sagte er in einem sonderbar abgerissenen Ton, der bei jeder anderen Gelegenheit lächerlich erschienen wäre.

Clifford Lynnes Augen wanderten auf den weißgedeckten Tisch mit den Silberbestecken, Glasgarnituren und Blumen. Dann sah er langsam das Mädchen an und lächelte. Und dieser Mann lächelte so wundervoll, wie sie es noch nie gesehen hatte.

»Wenn Sie meine Gegenwart eine Mahlzeit lang ertragen können, würde ich mich sehr freuen, Sie einzuladen«, sagte er.

Joan nickte.

Sie war von dem Vorfall erschreckt und sah in ihrer Verwirrung noch schöner aus. Sie wäre kein junges Mädchen gewesen, wenn es anders gewesen wäre. Ihr Interesse war geweckt. Diese beiden Männer waren unerbittliche Feinde. Das erkannte sie in diesem Augenblick so klar, als ob man ihr die Geschichte erzählt hätte, welche Bewandtnis es mit der Schlange hatte, die sich in Sunningdale aus dem Kasten herauswand. St. Clay hatte sie geschickt. Dieser aalglatte Chinese, den Clifford Lynne soeben Fing-Su nannte! Diese Erkenntnis ließ sie erbleichen. Unwillkürlich näherte sie sich Clifford.

»Mr. Narth!«

Fing-Su konnte kaum sprechen. Das Selbstbewußtsein, das ihm sein Universitätsstudium gab, ließ ihn vor Wut kochen. Seine Stimme zitterte, fast von Tränen erstickt.

»Sie haben mich und diese junge Dame zu Tisch gebeten. Sie können unter keinen Umständen erlauben –« Er konnte nicht weiter sprechen.

Stephen Narth fühlte, daß er in diesem Moment seine Persönlichkeit geltend machen mußte.

»Joan, du bleibst hier!« kommandierte er.

Das war sehr leicht gesagt. Aber in welchem Ton sollte er nun zu dem Mann an der Türe sprechen? Das war sehr schwer. Wenn die übelaussehende Gestalt in Sunningdale schon schwer zu behandeln war, wieviel schwerer war es erst, mit diesem kühlen und höflichen Weltmann fertig zu werden!

»Hm – Mr. Lynne –« begann er freundlich. »Ich bin in großer Verlegenheit. Ich habe Joan gebeten, mit unserem Freunde zu speisen –«

»Ihr Freund«, unterbrach ihn Lynne rasch, »ist nicht der meine, Mr. Narth! Ich wünsche um Erlaubnis gefragt zu werden, bevor Sie es wagen, meine zukünftige Frau mit einem Menschen zusammen zu Tisch zu laden, der gemeinen Mord als ein erlaubtes Mittel betrachtet, Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen!«

Er winkte Joan durch eine kleine Kopfbewegung zu sich. Freundlich folgte sie seinem Wink. Mr. Narth brachte nicht den Mut auf, ärgerlich zu sein.

Lynne trat einen Augenblick zur Seite, um das Mädchen in den äußeren Raum zu lassen.

Ohne Narth eines Blickes zu würdigen, zeigte er auf den Chinesen.

»Fing-Su, ich warne Sie zum drittenmal! Der Bund der ›Freudigen Hände‹ braucht einen anderen Führer, und die schöne Fabrik in Peckham wird in Flammen aufgehen und Sie mit ihr!«

Er wandte sich kurz um, verließ den Raum und schlug die Tür hinter sich zu.

Joan wartete draußen im Gang. Sie war bestürzt und aufgeregt, und doch glaubte sie in dem Gewirr ihrer Gefühle an den fremden Mann, der so unerwartet und heftig in ihr Leben getreten war. Sie wandte sich ihm zu und lächelte ihn an, als er die Türe schloß.

»Wir wollen zu Ritz gehen«, sagte er kurz. »Ich bin sehr hungrig, schon seit heute morgen um vier Uhr bin ich auf den Beinen.«

Während sie im Fahrstuhl nach unten fuhren, war er schweigsam. Erst als sie im Auto saßen und ihren Weg durch den riesigen Verkehr nach dem Mansion House nahmen, sprach sie.

»Wer ist eigentlich Fing-Su?«

Er fuhr in die Höhe, als ob er aus einem Traum aufwachte.

»Fing-Su,« sagte er gleichgültig, »ach, das ist nur ein Chinesenbengel, der Sohn eines alten Unternehmers, der an sich kein schlechter Kerl war. Nur hatte der Alte seine Erziehung in der Missionsschule erhalten, und das hatte seinen Charakter verdorben. Denken Sie nicht, daß ich die Missionare schlecht machen will, aber die können eben auch keine Wunder tun. Es dauert mindestens neun Generationen, um Schwarze so weit zu erziehen, daß sie wie Weiße denken lernen. Aber zehntausend Jahre genügen nicht, um die Mentalität eines Chinesen zu ändern.«

»Er hat aber die Sprache eines feingebildeten Mannes«, sagte sie.

Er nickte.

»Er hat sein Examen in Oxford gemacht – der alte Joe Bray sandte ihn dorthin.« Über ihr Erstaunen mußte er lächeln. »Ja, Joe hat mit seinem guten Herzen so manche merkwürdigen und verrückten Dinge angestellt«, sagte er. »Daß er Fing-Su nach Oxford sandte, war einer seiner tollen Streiche.«

Später konnte sie sich nicht mehr genau erinnern, was sich bei dem Essen alles zugetragen hatte. Sie besaß nur eine vage Erinnerung, daß er die meiste Zeit zu ihr gesprochen hatte. Gegen das Ende ihres Zusammenseins drückte sie ihre Befürchtungen über das Verhalten von Mr. Narth aus.

»Machen Sie sich keine Sorgen über ihn – er hat mit seinen Schwierigkeiten genug zu tun, die sind sehr böse und nehmen ihn ganz in Anspruch«, sagte er finster.

Aber es drängte sie, mit ihm über einen Punkt zu sprechen. Er hatte einen Wagen bestellt, der vor dem Hotel wartete, und bestand darauf, daß er sie nach Sunningdale heimbegleitete.

»Mr. Lynne,« sagte sie zögernd, »dieses merkwürdige Heiratsproblem –«

»Ist nicht merkwürdiger als andere Eheschließungen,« sagte er kalt, »wirklich gar nicht so seltsam, wie es schiene, wenn mein Bart noch in voller Blüte stände. Wollen Sie nicht mehr mittun?«

Es war nur erklärlich, daß Joan sich über die Freude ärgerte, die aus seiner Frage klang.

»Davon kann keine Rede sein, ich bleibe dabei, ich habe es doch versprochen«, sagte sie.

»Warum?« fragte er.

Sie errötete.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Warum haben Sie so schnell Ihre Einwilligung gegeben? Das war mir damals schon ein Rätsel«, sagte er. »Sie gehören doch nicht zu den Mädchen, die sich auf den ersten besten Mann stürzen, der ihnen in den Weg kommt. Es ist ein großer Unterschied zwischen Ihnen und der hochmütigen, sentimentalen Mabel und der überspannten Letty. Welchen Vorteil hat denn Narth davon?«

Auf diese Frage gab sie keine Antwort.

»Sicherlich hat er doch einen Vorteil. Er hat zu Ihnen gesagt: ›Du mußt diesen sonderbaren Vogel heiraten oder ich werde‹ – nun was?«

Sie schüttelte abweisend den Kopf. Aber er drang weiter in sie, und seine kühnen grauen Augen suchten die ihren.

»Ich hatte mich damit abgefunden, irgendwen zu heiraten, als ich hierherkam, aber ich erwartete nicht – Sie!«

»Warum hatten Sie sich denn damit abgefunden, irgendwen zu heiraten?« griff sie ihn an. Ein listiges Lächeln zeigte sich in seinen Augen.

»Ihre Frage ist berechtigt«, gab er zu. »Nun wohl, ich will es Ihnen erzählen. Ich hatte den alten Joe wirklich gern, zweimal rettete er mir das Leben. Er war der beste Mensch, aber ein alter romantischer Phantast. Er war darauf versessen, daß ich jemand aus seiner Familie heiraten sollte. Ich habe nichts davon gewußt, bis er im Sterben lag – ich glaubte es nicht, aber dieser verrückte Doktor aus Kanton bestätigte mir, daß er sterben müsse. Joe sagte mir, daß er glücklich sterben würde, wenn ich seine Linie weiterführte, wie er es nannte, obgleich, Gott weiß, niemand in der Familie ist, mit dem es wert wäre, die Linie fortzusetzen – mit Ausnahme von Ihnen natürlich!« fügte er schnell hinzu.

»Und Sie gaben Ihr Versprechen?«

Er nickte.

»Und ich war bei vollem Verstand, als ich es versprach. Ich habe das entsetzliche Gefühl, daß ich es aus Sentimentalität getan habe. Er starb in Kanton – von daher kam das Telegramm. Wie ähnlich sieht es Joe, ausgerechnet in Kanton zu sterben!« sagte er bitter. »Konnte er denn nicht normalerweise am Siang-kiang sein Leben beschließen!«

Sie erschrak über seine Gefühllosigkeit.

»Sagen Sie mir bitte offen, was Sie von mir erwarten, nachdem Sie mir gestanden haben, daß Sie nur heiraten, um ein Versprechen einzulösen?« fragte sie.

»Sie können Ihren Vorteil wahrnehmen und sich zurückziehen«, sagte er schroff. »Erst bei meiner Ankunft in England sah ich das Testament des alten Joe, als es zu spät war, dasselbe zu ändern. Wenn Sie mich vor Ende dieses Jahres heiraten, bringt das Narth eine Million Pfund ein.«

»Eine so große Summe?« fragte sie verwirrt.

Er staunte.

»Ich dachte, Sie würden sagen: ›Ist das alles?‹ In Wirklichkeit ist es mehr als eine Million – oder wird es in einiger Zeit sein. Die Firma ist ungeheuer reich.«

Es folgte eine Pause, in der beide zu sehr mit eigenen Gedanken beschäftigt waren, um zu sprechen. Dann unterbrach sie das Schweigen.

»Sie haben die Geschäfte für ihn geführt, Mr. Lynne, nicht wahr?«

»Meine besten Freunde nennen mich Cliff«, sagte er. »Aber wenn Sie das zu intim finden, nennen Sie mich ruhig Clifford. Ja, ich führte die Geschäfte.«

Er gab keine weitere Auskunft, und das Schweigen wurde so drückend für sie, daß sie froh war, als der Wagen vor der Tür ihrer Wohnung in Sunningdale hielt. Letty, die auf dem Rasen Croquet spielte, kam mit ihrem Hammer in der Hand herbei und zog die Augenbrauen hoch.

»Ich dachte, du würdest in der Stadt speisen, Joan«, sagte sie tadelnd. »Wirklich, es ist sehr peinlich, heute nachmittag kommen die Herren Vasey, und ich weiß, daß du sie nicht leiden kannst.«

Jetzt erst sah sie den feinen fremden Herrn, senkte den Blick und wurde äußerst verlegen. Denn Lettys Bescheidenheit und Verwirrung in Gegenwart von Männern war bekannt und ließ sie in solchen Augenblicken sehr charmant erscheinen.

Joan machte gar keine Anstalten, ihren Begleiter vorzustellen. Sie sagte nur »Auf Wiedersehen« und sah dem Wagen nach, wie er die Straße herunterfuhr.

»Aber Joan,« sagte Letty ärgerlich, »du hast abscheuliche Manieren! Warum in aller Welt hast du mir den netten Herrn denn nicht vorgestellt?«

»Ich dachte, du wolltest ihm nicht vorgestellt werden, da du das letztemal so sehr aufgebracht warst, als er bei uns war«, sagte Joan ein wenig schadenfroh.

»Aber er ist doch noch nie bei uns gewesen«, widersprach Letty. »Und es ist noch unglaublicher, daß du behauptest, ich hätte irgend etwas Schlechtes über jemand gesagt. Wer ist es denn?«

»Clifford Lynne«, sagte Joan und fügte hinzu: »Mein Bräutigam!«

Sie ließ Letty mit offenem Munde und wie vom Blitz getroffen zurück und ging auf ihr Zimmer. Aber am Nachmittag war sie doch sehr besorgt, was Mr. Narth bei seiner Rückkehr sagen würde. Als er dann aber kurz vor dem Abendessen zurückkam, war er sehr liebenswürdig, ja väterlich zu ihr. Sein Wesen zeigte jedoch eine Nervosität, die sie vorher niemals bei ihm bemerkt hatte, und sie zerbrach sich den Kopf, ob die Ursache hierfür Clifford Lynne oder der böse Chinese sei, von dem sie in der folgenden Nacht noch so entsetzlich träumen sollte.

 


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