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Mr. Stephen Narth war durch die Umstände gezwungen worden, die ganze Nacht in der Stadt zuzubringen, und in diesem einen Falle schwang sich seine Tochter zu einer Selbstlosigkeit auf.
»Es hat gar keinen Zweck, Vater zu beunruhigen«, sagte sie zu ihrer nervösen Schwester. »Außerdem hat Mr. Joseph gesagt, daß gegen mich nichts Böses beabsichtigt war – diese Kerle haben mich mit Joan verwechselt.«
»Joseph – ist er ein Jude?« fragte Letty. Die Neugierde überwand im Augenblick ihre Bestürzung.
»Er steht nicht so aus«, war die vorsichtige Antwort.
Clifford sah seine Braut weder an diesem ereignisreichen Abend noch am folgenden Morgen. Er wußte nur zu gut, daß Mabel mit ihrer entfernten Cousine verwechselt worden war. Eine immer größere Sorge bemächtigte sich seiner. Nach seiner Ankunft in der Stadt galt sein erster Besuch Scotland Yard. Hier erhielt er die befriedigende Nachricht, daß eine Anzahl von Beamten entsandt war, um Sunni Lodge zu bewachen.
»Sie brauchen nun aber auch jemand, der sich um Sie bekümmert«, sagte der Offizier lächelnd, als Clifford Lynne ihm von dem Ammoniakattentat erzählte. »Beiläufig bemerkt – diese Ammoniakspritze im Hut ist ein alter Trick!«
Clifford nickte.
»Ich bin mit mir selbst nicht sehr zufrieden, daß ich mich so übertölpeln ließ«, sagte er.
»Was nun Miß Bray angeht, so habe ich bereits einen Mann nach Sunningdale geschickt mit dem Auftrag, ihr auf Schritt und Tritt zu folgen«, bemerkte der Inspektor. »Gerade im Augenblick hat er die telephonische Meldung durchgegeben, daß das Auto von Mr. Narth nicht in Ordnung ist, so daß es ihm nicht allzu schwer sein wird, sie stets im Auge zu behalten.«
»Gott sei Dank«, sagte Clifford erleichtert.
Dann ging er zu seiner Wohnung zurück, um alle Einzelheiten für die Streife vorzubereiten, die er in der nächsten Nacht unternehmen wollte.
Um fünf Uhr nachmittags telephonierte er nach Slaters Cottage. Joe antwortete.
»Ich hatte gerade eine Unterredung mit Joan«, sagte Joe. »Denke dir, das Mädchen hat einen hellen Verstand! Ich fragte sie, für wie alt sie mich hielte, und was glaubst du, was sie gesagt hat –«
»Das will ich nicht wissen!« sagte Clifford. »Es wäre mir unerträglich, zu denken, daß sie aus Höflichkeit die Unwahrheit gesagt hätte. Nun höre aber zu: du mußt um elf Uhr hier bei mir sein. Ungefähr um neun Uhr kommen zwei oder drei Herren, sie sind Detektive von Scotland Yard und haben die Aufgabe, Sunni Lodge zu beobachten. Sobald sie angekommen sind, fährst du ab – hast du mich verstanden?«
»Also sie sagte mir,« fuhr Joe unbeirrt fort, und man hörte deutlich, wie seine Stimme vor Rührung zitterte, »Mabel scheint Sie gerne zu haben. Das waren genau ihre Worte: sie scheint Sie gerne zu haben.«
»Dabei wird sie keine Rivalin finden«, sagte Clifford rauh und unhöflich. »Hast du nun gehört, was ich dir gesagt habe, du verrücktes altes Huhn?«
»Ich habe es wohl gehört«, sagte Joe ganz ruhig. »Nun hör' mal zu, Cliff, sie sagte – ich meine Joan – ›ich habe noch niemals gesehen, daß Mabel sich so für jemand interessiert hat‹ –«
»Also um elf Uhr«, sagte Clifford hartnäckig.
»Zu jeder Zeit – sagte Joan –«
»Und rufe Joan nicht wieder an. Einer von den Dienstboten oder Narth oder, was das Schlimmste wäre, eine der beiden Töchter könnte entdecken, wer du bist«, sagte Clifford. »Das würde dann bedeuten, daß du Mabel nicht wieder zu sehen bekommst!«
»Ich kann sie ja gar nicht mehr anrufen: sie ist zur Stadt gegangen. Und höre zu, Clifford, sie sagte –«
Von dieser Nachricht war er sehr betroffen, aber bevor er eine Frage an Joe stellen konnte, fuhr dieser fort:
»Sie ist in die Stadt gegangen, um sich Kleider zu kaufen. Dieser Narth kann doch nicht so schlecht sein, Cliff. Er sagte ihr, sie brauche sich dabei nicht einzuschränken. Er ist kein so schlechter Bursche, der alte Stephen!«
Clifford hing den Hörer gedankenvoll an. Freigebigkeit und Stephen Narth waren zwei so verschiedene Dinge, daß sein Argwohn in hohem Grade geweckt wurde.
* * *
Als Joan Bray in das Privatbureau ihres Verwandten eintrat, war sie neugierig, unter welchen Bedingungen Stephen Narth so großzügig sein würde. Natürlich hatte sie den Wunsch, eine Ausstattung in die Ehe mitzubringen. Selbst das Bettelmädchen kam ja nicht mit leeren Händen zu Cophetua, sondern hatte ihre Tage dazu benützt, um sich ein paar einfache Kleidungsstücke zu erarbeiten, die sie gegen ihre Lumpen austauschte. Und Joan fehlte es ganz besonders an Kleidern. Mr. Narth war gerade nicht freigebig, und so hatte sie in den letzten drei Jahren zwei Abendkleider bekommen.
Mr. Stephen Narth saß an seinem Pult und stützte den Kopf in die Hände. Er fuhr auf und starrte sie an, als sie den Raum betrat. In dieser Woche war eine außerordentliche Wandlung mit ihm vorgegangen. Er sah verstört aus, war nervös und schrak bei dem geringsten Laut zusammen. Er war selbst in seiner besten Zeit leicht gereizt, aber als jetzt das Geräusch der Türklinke ihre Ankunft anzeigte, schien es Joan, als hätte er Mühe, einen Angstschrei zu unterdrücken.
»Ach du bist es, Joan«, sagte er atemlos. »Nimm bitte Platz.«
Er versuchte zweimal, ein Fach seines Pultes aufzuziehen – seine Hände zitterten aber so, daß er das Schlüsselloch nicht finden konnte. Endlich gelang es ihm, und er brachte einen schwarzen Geldkasten zum Vorschein.
»Wir müssen alles in der richtigen Weise ordnen, Joan.« Seine Stimme klang schrill. Sie sah, daß er an der Grenze seiner Kraft war. »Wenn du dich verheiratest, muß es in einer Weise geschehen, wie der alte Joe es gern haben würde. Du hast doch den Mädchen nicht gesagt, weshalb du in die Stadt gefahren bist?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Das ist recht so. Sonst wären sie mitgekommen und wollten auch Kleider kaufen. Und das kann ich jetzt im Moment nicht bezahlen.«
Er zog ein Paket Banknoten aus dem Kasten und legte sie vor sie hin, ohne sie zu zählen.«
»Kaufe dir alles, was du nötig hast, meine Liebe, aber nur das Beste. Ich möchte dich nur um eins bitten.« Er sah krampfhaft zum Fenster hinaus und konnte ihr nicht in die Augen blicken. »Du weißt, Joan, ich habe mich in verschiedene sonderbare Spekulationen eingelassen. Ich finanziere dieses und jenes und habe meine Hände in mehr Dingen, als die Leute ahnen.« Er fuhr nervös mit der Hand über sein Gesicht. Sein Blick war noch immer zum Fenster gerichtet, und sie war gespannt, was jetzt kommen würde. »Ich habe eine ziemlich große Summe in einem Modesalon angelegt – bei Madame Ferroni, 704 Fitzroy Square.« Seine Stimme wurde plötzlich heiser. »Es ist gerade kein vornehmer Platz, mehrere Räume im dritten Stock. Aber es wäre mir sehr angenehm, wenn du einige deiner Kleider von Madame Ferroni kaufen würdest.«
»Gerne, Mr. Narth«, sagte sie verwundert und belustigt.
»Am besten wäre es, wenn du zuerst dahin gingest«, sagte er, indem er noch immer an ihr vorbeischaute. »Wenn sie nicht das hat, was du haben willst, brauchst du nicht bei ihr zu kaufen. Ich habe es ihr halb versprochen, daß ich dich zu ihr schicke, und es würde auch für mich gut sein, obgleich das Geschäft flott geht.«
Er schrieb die Adresse auf eine Karte und reichte sie ihr über den Tisch.
»Denke nicht, weil der Platz einfach aussieht, daß sie nicht die Kleider hat, die du brauchst«, fuhr er fort. »Und noch eins, Joan – ich habe meine Eigenheiten in kleinen Dingen – ich möchte dir noch sagen, laß die Wagen nicht warten. Sie kosten eine Menge Geld, und in den Modesalons wirst du lange aufgehalten. Zahle den Chauffeur jedesmal, wenn du in ein Geschäft gehst, Joan. Du kannst immer leicht einen anderen Wagen bekommen. – Nein, zähle das Geld nicht, das macht nichts. Wenn du mehr brauchst, mußt du mich darum fragen. Ich will dir gerne mehr geben. Also auf Wiedersehen!«
Sein Gesicht war totenbleich, in seinen Augen sah sie einen Ausdruck von Furcht, so daß sie beinahe erschrak. Sie nahm seine kalte, feuchte Hand und drückte sie. Aber er lehnte den Dank schroff ab.
»Gehe zuerst zu Madame Ferroni. Ich versprach ihr, daß du kommst.«
Die Tür schloß sich hinter ihr. Er wartete, bis sie das Haus verlassen hatte, dann ging er zur Tür und schloß sie ab. Kaum war er zu seinem Sitz zurückgekehrt, da öffnete sich die zweite Tür, die in den Sitzungssaal führte, langsam, und Fing-Su trat ein. Stephen Narth drehte sich um und sah ihn haßerfüllt an.
»Ich habe es getan!« stieß er hervor. »Wenn aber dem Mädchen irgend etwas passiert, Fing-Su –«
Der Chinese lächelte und tat, als ob er etwas von seinem gutsitzenden Anzug abwischte.
»Es wird ihr nichts geschehen, mein Lieber«, sagte er in seiner sanften, begütigenden Art. »Es ist nur ein Schachzug in dem großen Spiel. Vom taktischen Gesichtspunkt aus mußte das geschehen, damit der ganze strategische Plan zu dem beabsichtigten Erfolg führt.«
Narth machte sich am Telephon zu tun.
»Ich hätte fast Lust, sie anzuhalten«, sagte er heiser. »Ich könnte Lynne anrufen, und er würde vor ihr dort sein –«
Fing-Su lächelte wieder, aber er ließ das Telephon und die nervösen Hände, die mit dem Hörer spielten, nicht außer acht.
»Das dürfte eine Katastrophe für Sie werden, Mr. Narth«, sagte er. »Sie schulden uns fünfzigtausend Pfund, die Sie uns nie zurückzahlen können –«
»Nie zurückzahlen können?« brummte der andere. »Sie scheinen zu vergessen, daß ich der Erbe von Joe Bray bin!«
Der Chinese zeigte seine weißen Zähne, als er vergnügt grinste.
»Eine Erbschaft hat erst Wert, wenn der Erblasser gestorben ist«, sagte er.
»Aber Joe Bray ist tot!« keuchte Narth.
»Joe Bray«, sagte Fing-Su kalt, als er eine Zigarette auf einer goldenen Dose ausklopfte, die er aus seiner Westentasche gezogen hatte, »ist sehr lebendig. Gestern abend habe ich mit meinen eigenen Ohren seine Stimme gehört!«