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Für ein Künstlerauge hat der Pool von London seine ganz besonderen Schönheiten. Hier liegen die großen Ozeanriesen vor Anker, und der Handel der halben Welt geht über diesen Wasserweg. Man kann dort seine Farbenstimmungen beobachten, besonders an einem schönen Abend – ein Nocturno von grauen, blauen und rostroten Tönen. Es ist wirklich ein romantisches Wasserbecken, selbst an trüben Wintertagen, wenn die schmutzigen Schiffe mit ihren verrußten Schornsteinen langsam von der sonnigen See herkommen, um auf diesen lehmigen Wassern auszuruhen.
Der Sommerabend war düster und regnerisch. Ein ungleichmäßiger, scharfer Nordwind, der bis auf die Knochen durchging, fegte über das Wasser. So war es erklärlich, daß die Leute, die heute abend auf den Strom hinaus wollten, wenig Interesse für die Schönheit des Pools bekundeten. Clifford fand das große elektrische Motorboot, das am Fuße einer Steintreppe wartete. Schnell waren sie eingestiegen, das Boot stieß ab und schlüpfte unter dem weit überhängenden Hinterschiff eines norwegischen Holzdampfers auf die Mitte des Stromes. Ein Polizeiwachtboot löste sich aus der Finsternis, rief sie an, war mit der Antwort zufrieden und folgte ihrer Spur.
Es war günstig, daß die Flut vom Meer hereinkam, so konnten sie mit halber Kraft fahren.
Clifford hatte den Plan, an Bord des Schiffes ein Versteck zu suchen, und wenn sie dort unentdeckt blieben, mit dem Dampfer bis nach Gravesend herunterzufahren, wo der Lotse an Bord ging und die Papiere des Schiffes geprüft wurden, bevor es die Erlaubnis erhielt, seine Fahrt fortzusetzen. Wenn sie entdeckt würden, hatte Willing die notwendige Autorität, um ihre Gegenwart zu rechtfertigen und in der elften Stunde noch einmal eine Durchsuchung nach verbotenen Exportgütern durchzusetzen.
Rechts und links von ihnen lagen Schiffe, manche in Schweigen und Dunkel gehüllt, nur ihre Signallichter brannten; andere dagegen waren hellerleuchtet, betäubender Lärm, das Rattern der Winden und Krane tönte zu ihnen herüber. Große helle Lampen hingen an den Seiten der Schiffe und erleuchteten die schwarze Wasserfläche. Ein verspäteter Vergnügungsdampfer kam an ihnen vorbei, Tanzmelodien klangen herüber, er sah aus wie ein schwimmender Palast.
Die vier Männer, die an Bord des Motorbootes waren, trugen Ölkleider und Südwester. Diese Vorsichtsmaßregel war berechtigt, denn bevor sie die Mitte des Stromes erreicht hatten, verdichtete sich der Nebel zu Regen.
»Ich habe Sehnsucht nach China, wo das ganze Jahr die Sonne lacht!« murmelte Joe Bray, der zusammengekauert auf dem Boden des Bootes saß. Aber niemand antwortete ihm.
Nach einer Viertelstunde sagte Inspektor Willing mit gedämpfter Stimme:
»Rechts vor uns liegen die Schiffe an der Surrey-Side.«
Die »Umgeni« und die »Umveli« waren, wie er gesagt hatte, Schwesterschiffe. Man hätte sie eher Zwillinge, als Schwestern nennen können. Ihre schwarzen Schiffsrümpfe und Schornsteine kannte jeder, der in dieser Gegend zu tun hatte. Beide hatten dieselbe merkwürdige, überhängende Kommandobrücke, denselben langen Oberbau, der weit nach vorne lief. Auf beiden erhob sich nur je ein Mast, und beide hatten unnötigerweise vorne am Bug eine vergoldete Neptunsfigur. Man brauchte nicht lange zu fragen, welches von beiden Schiffen die »Umgeni« war, denn ihre Decks waren hell erleuchtet. Als sie in Sehweite kamen, zog ein kleiner Schleppdampfer drei leere Leichter von ihrer Seite fort. Etwas mehr wie eine Schiffslänge von ihr entfernt, lag die »Umveli« an Stahltrossen vertäut, eine dunkle leblose Masse.
»Haben Sie die ›Umveli‹ nicht durchsucht?«
»Nein, das schien kaum notwendig. Sie liegt erst seit acht bis neun Tagen im Strom und ist die ganze Zeit am Entladen.«
»Bei Nachtzeit«, bemerkte Clifford mit Nachdruck. »Das Schiff, das während der Nacht die Ladung zu löschen scheint, kann ebensogut bei Nacht Ladung nehmen.«
Die hellen Lichter der »Umgeni« beleuchteten auch die Steuerbordseite des Schwesterschiffs, und Lynne richtete den Kiel des Motorboots nach dem Ufer zu. Er nahm einen Kurs, der ihn in den Schatten des Dampfers brachte.
»Für ein leeres Schiff liegt sie doch viel zu tief im Wasser?« fragte er, und der Inspektor gab ihm recht.
»Sie geht mit Ballast nach Newcastle und wird dort repariert«, sagte er. »So bin ich wenigstens informiert.«
Man konnte die beiden Schiffe nicht gut verwechseln. Das Work »Umgeni« stand in großen, meterbreiten Buchstaben am Rumpf. Als sie auf die dunkle Seite der »Umveli« kamen, schaute Lynne in die Höhe. Sie fuhren unter dem Hinterschiff durch, und er entdeckte etwas, das ihn außerordentlich interessierte.
»Sehen Sie einmal dorthin«, sagte er leise, während er mit seinem Finger in eine bestimmte Richtung wies.
»Die Buchstaben ›vel‹ sind vom Hinterschiff entfernt worden.«
»Zu welchem Zwecke?«
»Sie tauschen ihre Namen aus – das ist alles!« sagte Clifford lakonisch. »In zwei Stunden fährt die ›Umveli‹ mit den Schiffspapieren der ›Umgeni‹ die Themse hinunter, und morgen fährt ostentativ die umgetaufte ›Umgeni‹ hinaus nach Newcastle.«
Sie fuhren in tiefem Schweigen, und das dunkel gestrichene Motorboot war für ein unbewaffnetes Auge nicht sichtbar. Trotzdem wurden sie von einer kreischenden Stimme angerufen, als sie in der Höhe einer heruntergelassenen Strickleiter vorbeifuhren.
»Was ist das für ein Boot?«
»Wir fahren vorbei«, rief Lynne barsch.
Er stellte sein Nachtfernglas ein und inspizierte damit das Schiff. Plötzlich sah er noch einen zweiten Wachtposten auf dem Vorderdeck stehen. Und was noch wichtiger war – auf der Kommandobrücke bemerkte er drei schattenhafte Gestalten. Aus dem großen Schornstein stieg Rauch auf.
»Für ein leeres Schiff etwas viel Bewachung«, sagte er. Er erwartete, daß ihn der Posten auf dem Vorderdeck anrufen würde. Aber scheinbar war dieser Mann nicht so wachsam wie sein Kamerad. Clifford sah, wie er sich wegwandte und langsam nach der Treppe ging, die zu dem Wellendeck führte. Er ließ das Motorboot so beidrehen, daß es unter das Bugspriet zu liegen kam.
Als es erreicht war, faßte er mit einem gummiüberzogenen Bootshaken die Ankerkette und brachte das Fahrzeug zum Stehen. Im nächsten Augenblick hatte er sich aus dem Boot geschwungen und klomm Hand über Hand in die Höhe, bis er den Arm um das Bugspriet legen konnte. Als er vorsichtig das Vorderdeck entlang spähte, hörte er eine entfernte Stimme einen Namen rufen. Der Wächter auf dem Vorderdeck ging fort und kam außer Sehweite. Sofort gab Clifford die Botschaft nach unten weiter. Zuerst kam Willing herauf, dann Joe Bray, der eine ganz besondere Behendigkeit an den Tag legte. Beide folgten ihm durch das verlassene Schiff. Als der Führer des Motorboots gesehen hatte, daß alle drei sicher an Bord waren, stieß das Fahrzeug wieder vom Schiff ab, wie es vorher verabredet worden war, und verschwand in der Dunkelheit.
»Wir wollen zum Wellendeck hinuntergehen«, flüsterte Lynne. Er eilte voraus und stieg die Leiter hinunter, jeden Augenblick gewärtig, daß man ihn anrufen würde.
Aber auch das Wellendeck lag ganz verlassen da. Aus einem offenen Gang hörte er den Ton einer Mundharmonika, während von oben das Klopfen eines Hammers gegen einen Eisenkeil ertönte. Man schloß noch verspätet eine Ladenluke. Ein enger Verbindungsgang führte von hier unter das Hauptdeck. Wenn die drei dieses erreichten, ohne die Aufmerksamkeit der Männer auf der Kommandobrücke zu erregen, dann war es nicht schwer, auf dem großen Dampfer ein Versteck zu finden.
Sie hielten sich im Schatten der Reling. Clifford kroch auf allen Vieren. Joe und Willing folgten ihm, und so kamen sie ohne Zwischenfall zu dem Verbindungsgang. Hier entdeckten sie einen Platz, wo sie sich verstecken konnten. Unmittelbar unter der Brücke und genau zwei Decks tiefer lag eine große Kabine. Nach den Schrammen und der Verfärbung der Wände zu schließen, hatte man früher Ladung darin verstaut. Zwei dunkel brennende Wandlichter ließen erkennen, daß dieser Raum als Passagierkabine eingerichtet war. Ein Tisch und zwei oder drei Stühle standen darin, ein großes Paket mit der Aufschrift einer bekannten Londoner Buchhandlung lag auf dem Tisch. Ein nagelneuer Teppich bedeckte den Fußboden. Er mußte erst vor kurzer Zeit dorthin gelegt worden sein, denn er zeigte noch die charakteristischen Knicke, die sich im rechten Winkel kreuzten.
Obwohl der Raum die ganze Breite des Schiffes einnahm, war er doch nicht mehr als drei Meter tief. In der Hinteren Eisenwand befanden sich zwei enge Türen. Die eine war mit einem Vorhängeschloß versehen und mit Bolzen befestigt, die andere war nur angelehnt. Clifford stieß sie auf und ging in den Raum, den er mit seiner Taschenlampe absuchte.
Es war nur eine kleine Kabine ohne Fenster. Frische Luft wurde, wie er sah, durch einen Deckenventilator zugeführt. Die Atmosphäre war rein, und es herrschte eine angenehme Zirkulation im Raum. In einer Ecke gewahrte er eine kleine Messingbettstelle, die durch Stangen an der Decke befestigt war. In der anderen Ecke weiter hinten war ein Platz zum Baden mit vertieftem Fußboden eingerichtet. An der Decke sah er eine erst kürzlich angebrachte Dusche. Darunter stand eine Badewanne aus feuerfestem Ton. Ein mit Schnitzereien überladener Kleiderschrank, der viel zu groß für einen so kleinen Raum war, vervollständigte die Einrichtung.
Als er Fußtritte draußen auf dem Deck hörte, winkte Clifford seine beiden Begleiter in den engen Raum hinein. Durch einen Spalt in der Tür sah er, wie ein chinesischer Matrose eintrat und Umschau hielt. Sogleich ging er zur Türe zurück und rief etwas. Ein anderer Matrose kam zu ihm, und sie sprachen miteinander in einer Mundart, die weder Joe Bray noch Clifford verstand. Anscheinend waren es Südchinesen. Der Inhalt ihres Gesprächs schien sie sehr zu belustigen, denn sie unterbrachen ihre Unterhaltung oft durch rauhes Gelächter.
Plötzlich streckte einer der Leute seine Hand aus, faßte die Tür der inneren Kabine und schlug sie zu Cliffords größtem Schrecken fest zu, bevor sie eigentlich recht wußten, was sich zutrug. Clifford hörte das Geräusch, wie der Riegel einschnappte, und dann vernahm er, wie auch die Tür des äußeren Raumes zugeworfen wurde. Sie waren gefangen!