Edgar Wallace
Die gelbe Schlange
Edgar Wallace

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14

Mr. Stephen Narth war in der Regel kein gemütlicher Gast am Frühstückstisch. Gewöhnlich fürchtete sich Joan eher vor ihm, weil der Schinken immer zu salzig und der Kaffee zu stark war, und Mr. Narth über die außergewöhnlichen Unkosten seines Haushalts räsonnierte.

Seit jenem Zwischenfall bei der Einladung zum Essen hatte sich sein Verhalten bedeutend geändert. Niemals war er liebenswürdiger zu Joan als am siebenten Morgen nach der Ankunft des sonderbaren Mannes aus China.

»Man hat mir erzählt, daß das Haus deines Freundes fertig und möbliert ist«, sagte er beinahe heiter. »Ich denke, wir werden jetzt das Aufgebot für dich bestellen, Joan? Wo willst du getraut werden?«

Sie sah ihn bestürzt an.

Sie hatte die Renovation von Slaters Cottage nicht mit ihrer eigenen Verheiratung in Verbindung gebracht. Auch sie hatte Clifford Lynne seit jenem Nachmittag nicht wieder gesehen, an dem er sie von London nach Hause brachte. Sie hatte ein unbehagliches und ungewisses Gefühl und litt unter dem veränderten Verhalten ihres Verlobten. Die Ruhe, die auf sein plötzliches Eingreifen in ihr Leben folgte, wirkte deprimierend auf sie. Sie erinnerte sich an den Empfang eines großen Staatsmannes, der zu ihrer Vaterstadt gekommen war. Mit großen Aufzügen, Fahnen und Musik wurde er bewillkommnet. Aber gerade als er im Begriff war, seine Dankrede für den Empfang zu beginnen, brach Feuer in einer naheliegenden Straße aus. Seine Zuhörerschaft schmolz hinweg, allein und verlassen stand er da. Seine Ankunft war unwichtig geworden durch den Brand, der plötzlich das größere Interesse seiner Bewunderer gepackt hatte. Jetzt konnte sie seine Gefühle nachempfinden.

»Ich habe Mr. Lynne nicht gesehen«, sagte sie. »Und wegen unserer Verheiratung bin ich nicht mehr so sicher, daß er es ernst meint.«

Mr. Narths Benehmen änderte sich.

»Nicht ernst? Unsinn!« brach er los. »Bestimmt nimmt er es ernst! Alles ist abgemacht. Ich müßte mit ihm sprechen und einen Tag festsetzen. Du wirst in der Kirche von Sunningdale getraut, und Letty und Mabel sollen deine Brautjungfern sein. Ich denke, es wäre nun an der Zeit, daß ihr zur Stadt fahrt und euch nach eurer Garderobe umseht. Es ist besser, wir veranstalten eine ruhige Hochzeitsfeier mit so wenig Gästen als möglich. Man weiß nicht, was er noch alles anstellen wird. Er ist ein solcher Herumtreiber, daß er womöglich noch mit einem Gefolge von Niggern zur Trauung kommt! Du hast dich doch mit ihm unterhalten, als du zurückkamst vom – hm – Bureau?«

Es war das erstemal, daß er die Einladung zum Essen erwähnte.

»Hat er dir nicht gesagt, wie hoch sein Monatsgehalt ist?«

»Nein«, sagte Joan.

»Hängt nicht eigentlich die Höhe des Gehaltes von dir ab, Vater?« fragte Mabel, indem sie sich Butter auf das Brot strich. »Natürlich müssen wir ihn in seiner Stellung lassen, es würde zu hinterhältig sein, ihn erst Joan heiraten zu lassen und ihm dann zu kündigen. Aber ich glaube, es ist notwendig, daß man einmal mit ihm spricht. Sein Auftreten dir gegenüber ist recht ungebührlich.«

»Und seine Sprache ist schauderhaft«, sagte Letty. »Erinnerst du dich, Vater, was für Ausdrücke er gebrauchte?«

»›Verdammte Höllenbande!‹« sagte Mr. Narth schmunzelnd. »Solche Ausdrücke sind mir in der Unterhaltung neu. Ich sollte annehmen, daß er einen Anstellungsvertrag mit dem alten Joe Bray hatte. Deshalb wird wahrscheinlich die Frage nach der Höhe seines Gehaltes nicht aufgeworfen werden. Joe war ein sehr großzügiger Mann, und sicherlich hat er diesem Menschen genügend Gehalt ausgesetzt, daß er davon leben kann. Über diesen Punkt brauchst du dir also keine Sorge zu machen.«

»Die mache ich mir auch gar nicht«, sagte Joan.

»Ich weiß nicht, warum er Slaters Cottage mit so großem Aufwand wieder aufbaute«, fuhr Stephen fort. »Er bildet sich doch sicherlich nicht ein, daß ich ihm erlauben werde, hier zu wohnen. Ein Manager hat an dem Platz zu sein, wo er seine Geschäfte wahrnehmen muß. Natürlich macht es mir nichts aus, ihm einige Monate Urlaub zu geben. Das ist so Brauch, denke ich. Aber es wird ihm große Schwierigkeiten machen, das Landhaus für eine Summe zu verkaufen, die ungefähr der Höhe seiner jetzigen Auslagen gleichkommt.«

Er sah nach seiner Uhr, wischte seinen Mund heftig mit der Serviette ab und stand vom Tisch auf. Nach seinem Aufbruch zur Stadt sah es so aus, als ob sich die Ereignisse in Sunni Lodge wie gewöhnlich entwickeln würden. Aber er war kaum zwei Stunden fort, da kam sein Wagen wieder die Anfahrt herauf, und der Chauffeur brachte eine Nachricht für Joan, die tief in ihren Haushaltsrechnungen steckte. Erstaunt öffnete sie den Brief.

»Liebe Joan, kannst du gleich kommen, ich muß mit dir sprechen. Ich erwarte dich in Peking House.«

»Wo liegt Peking House, Jones?« fragte das Mädchen.

Der Mann sah sie sonderbar an.

»Es liegt in der Nähe des Towers, keine fünf Minuten von Mr. Narths Haus entfernt«, sagte er.

Letty und ihre Schwester waren in den Ort gegangen. Schnell entschlossen setzte sie ihren Hut auf und stieg in den Wagen. In Eastcheap, gegenüber dem alten trutzigen Turm, den Wilhelm der Eroberer auf sächsischen Grundmauern erbaut hatte, erhob sich ein neues, schmuckes Steingebäude, das sechs Stockwerke höher war als alle übrigen Häuser der Nachbarschaft. Eine breite Flucht von Marmorstufen führte zu dem schönen Säulenvorbau und der mit Marmor verkleideten Halle. Aber am meisten unterschied sich dieses Geschäftshaus von den anderen durch die Nationalität seiner Bewohner. Ein kräftiger chinesischer Portier in gutsitzender Uniform führte sie zum Fahrstuhl, der ebenfalls von einem Chinesen bedient wurde. Als sie hinauffuhr, sah sie Leute von kleiner Gestalt und gelber Gesichtsfarbe in den marmornen Korridoren von Zimmer zu Zimmer eilen. Sie trat aus dem Fahrstuhl heraus und konnte durch eine Glastür in einen großen Bureauraum sehen. Hinter dicht gestellten Pulten hantierten lange Reihen von jungen Chinesen eifrig mit Tinte, Pinsel und Papier. Alle trugen merkwürdige, große, schwarze Brillen.

»Ist das nicht sonderbar?« Der junge Londoner Clerk, der mit ihr zusammen im Fahrstuhl gefahren war, grinste, als sie ausstiegen. »Es ist der einzige Platz in der City, wo nur Chinesen herumlaufen. Peking-Handelsgesellschaft – haben Sie das schon einmal gehört?«

»Noch nie«, gestand Joan lächelnd.

»Es gibt keinen weißen Schreiber in diesem Gebäude«, sagte der junge Mann ärgerlich, »und die Stenotypistinnen – mein Gott! Sie sollten mal ein paar von den Gesichtern sehen!«

Der Liftführer wartete ungeduldig.

»Kommen Sie, meine Dame«, sagte er. Sein Ton erschien ihr sehr bestimmt. Sie folgte ihm bis zum Ende des Korridors, wo er eine Tür öffnete, über der das Wort ›Privatbureau‹ stand. Eine chinesische Stenotypistin erhob sich von ihrem Stuhl.

»Sind Sie Miß Bray?« fragte sie mit einem merkwürdig fremden Akzent in der Aussprache.

Als Joan nickte, öffnete sie eine zweite Tür.

»Treten Sie ein«, sagte sie in demselben anmaßenden Ton, den Joan auch schon bei dem Liftführer bemerkt hatte.

Als sie eintrat, dachte sie, daß sie aus Versehen in ein Operettentheater geraten sei. Der Luxus von Marmor und Atlasseide, von geschliffenem Glas und weichen Teppichen, von reichvergoldeten Möbeln und seidenen Tapeten verblüffte sie. Die hohe Decke wurde von brennendroten Balken getragen, die mit goldenen, chinesischen Buchstaben in Relief verziert waren. Die Fülle der Farben blendete sie fast. Das einzige Geschmackvolle in dem Raum war ein großes farbiges Glasfenster ihr gegenüber. Darunter saß an einem Tisch, der ganz aus Ebenholz geschnitzt zu sein schien, Fing-Su. Er erhob sich, als sie eintrat und kam mit gezierten Schritten quer durch das Zimmer, um sie zu begrüßen.

»Ihr Onkel wird in wenigen Minuten hier sein, liebe Miß Bray«, sagte er. »Bitte nehmen Sie Platz.«

Er schob ihr einen reichgeschnitzten chinesischen Sessel von ungewöhnlich großen Formen hin.

»Ich fühle mich wie die Königin von Saba, die bei Salomo zu Besuch ist«, sagte sie. Die Freude an dieser Pracht betäubte im Augenblick ihre Unruhe.

Er verneigte sich tief. Scheinbar faßte er ihre Worte als Kompliment auf.

»Sie sind noch viel schöner als die Königin von Saba und wahrhaftig würdig, Salomo, dem Sohne Davids, zu begegnen. Besäße ich die Reichtümer Sanheribs, des Königs von Askalon, so würde ich Ihnen die Schätze von Azur und Bethdacon zu Füßen legen.«

Sie war bestürzt durch seine überspannte Anrede.

»Wann kommt Mr. Narth?« fragte sie.

»Nein, er kommt nicht«, sagte er. »Tatsächlich hielt Ihr Onkel es für ratsam, Miß Bray, daß ich Sie wegen unseres Freundes Lynne spräche. Als wir uns das letztemal begegneten, gab es eine peinliche Szene, wie Sie sich erinnern, obgleich ich keinen Anlaß dazu gegeben habe. Mr. Lynne hegt unfreundliche Gefühle gegen mich, was hauptsächlich meiner Nationalität zuzuschreiben ist. Ich halte die Chinesen nicht für tieferstehend als die Europäer. Wir sind ebensogut Menschen, jahrtausendelang standen wir auf einer höheren intellektuellen Stufe. Mr. Lynne hat keinen Grund, uns zu verachten. Mein hochverehrter Vater« – er beugte fast unmerklich die Knie – »tat viel für die Yünnan-Gesellschaft; ohne seine Hilfe wären die Konzessionen bestimmt niemals erteilt worden, und man hätte sie niemals ausnützen können.«

Sie war nicht aufgelegt, die Geschichte der Yünnan-Gesellschaft und ihrer Entstehung zu hören. Sie begann ängstlich zu werden und erhob sich von ihrem Thron.

»Ich kenne Mr. Lynne nicht gut genug, um über ihn zu sprechen«, begann sie.

»Und doch wollen Sie ihn heiraten?«

Sie errötete mehr aus Ärger als aus Verwirrung.

»Das ist eine Sache, die nur mich angeht, Mr. Fing«, sagte sie.

Er lächelte. »Fing-Su? Gut, diesen Namen ziehe ich vor. St. Clay ist schwerfällig und klingt schlecht.«

Er betrachtete sie, seine Gedanken waren nicht bei der Sache.

»Sie sind eine geschickte junge Dame – Sie haben ein intelligentes Gesicht und sind sehr anpassungsfähig. Sie haben wirklich alle Eigenschaften, die ich bei einem Assistenten wünsche – und ich habe viele Assistenten – sowohl Europäer als auch Chinesen.«

»Ich verstehe Sie nicht ganz«, sagte sie.

»Ich will es Ihnen erklären. Ich habe Grund, die Freundschaft – zum mindesten die Neutralität – Clifford Lynnes zu wünschen. Sie können mir dabei ganz erheblich helfen. Wissen Sie etwas von der Börse, Miß Bray?«

»Von der Börse?« fragte sie erstaunt. »Nein, davon verstehe ich wenig.«

»Aber es ist Ihnen doch sicherlich bekannt, daß es ein großes Handelsunternehmen gibt, das den Namen ›Yünnan-Gesellschaft‹ führt?« fragte er.

Sie nickte.

»Ja, Mr. Narth erzählte mir gestern morgen, daß die Aktien mit 2,75 notiert werden.«

»Die gewöhnlichen Aktien«, verbesserte er sie höflich. »Die Gründeraktien sind niemals an der Börse gehandelt worden.«

Sie lächelte.

»Ich glaube nicht, daß ich sie unterscheiden könnte, wenn ich sie sähe«, sagte sie offen. »Die ganze Börse ist mir ein Rätsel.«

»Es gibt im ganzen neunundvierzig Gründeraktien.« Er sprach mit großer Überlegung und betonte jedes Wort. »Und eine davon möchte ich kaufen.«

Sie sah ihn ganz erstaunt an.

»Eine?« wiederholte sie fragend.

Er nickte.

»Nur eine. Sie werden nicht notiert. Ursprünglich waren sie ein Pfund wert. Heute bin ich bereit, für eine solche Aktie eine Million Pfund zu zahlen.«

Sie schüttelte hilflos den Kopf.

»Ich glaube nicht, daß ich Ihnen helfen kann, es sei denn –« Es kam ihr ein guter Gedanke. »Sie würden eine von Mr. Narth kaufen.«

Er lächelte belustigt.

»Liebe Miß Bray, Ihr Verwandter hat Mr. Narth keine Gründeraktien hinterlassen. In seinem Besitz waren zum Schluß nur noch gewöhnliche Anteile. Der einzige, von dem man Gründeraktien kaufen könnte, ist Ihr Verlobter, Mr. Clifford Lynne. Verschaffen Sie mir dieses eine Papier, und ich will Ihnen eine Million Pfund dafür geben! Sie würden dann keinen Grund mehr haben, einen Mann zu heiraten, der Ihnen von Ihrem wenig intelligenten Onkel aufgezwungen wurde. Eine Million Pfund! Denken Sie einmal, Miß Bray, das ist eine ungeheure Summe, die Sie so frei macht wie einen Vogel in der Luft. Auch würden Sie dadurch unabhängig von Narth und Lynne werden! Überlegen Sie sich die Sache! Ich möchte nicht, daß Sie Ihre Entscheidung in diesem Augenblick treffen. Denken Sie bitte daran, daß Sie im Sinne meines besten Freundes Joe Bray handeln würden, der zu mir wie ein Vater war. Nun leben Sie wohl.«

Er ging zur Türe und öffnete sie mit eleganter Bewegung. Offenbar war die Unterredung zu Ende.

»Also bitte überlegen Sie sich die Sache, und haben Sie die Liebenswürdigkeit, alles, was ich in diesem Zimmer gesagt habe, als vertraulich anzusehen. Vergessen Sie nicht, daß ich Ihnen an dem Tage, an dem Sie mir die gewünschte Aktie übergeben, einen Scheck auf die Bank von England über eine Million Pfund aushändige. Ich möchte keine weiteren Fragen stellen –«.

Joan sah ihn mit ruhigen Augen an.

»Es ist auch unnötig, daß Sie sich weiter bemühen«, sagte sie gelassen. »Denn ich werde Ihnen diese Aktie niemals bringen. Wenn sie Ihnen eine Million wert ist, dann ist sie Clifford Lynne sicher nicht weniger wert.«

Ein undurchsichtiges Lächeln umspielte seine Lippen.

»Der Scheck liegt für Sie bereit – das bedeutet sehr viel für Sie, Miß Bray«, sagte er.

Joan eilte, so schnell sie konnte, zu dem Bureau ihres Onkels, und mit jeder Umdrehung der Räder des Autos wuchs ihr Ärger.

 


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