Edgar Wallace
Die gelbe Schlange
Edgar Wallace

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33

Für Mr. Stephen Narth war es ein Unglückstag gewesen. Wenn sein Egoismus auch sein Gewissen in weitestem Maß beruhigt hatte, so fühlte er doch das größte Unbehagen, daß er einem unschuldigen Mädchen solches Leid angetan hatte. Immer wieder ließ er sich von Fing-Su wiederholen, daß ihr nichts Böses geschehen sollte. Aber seine Vernunft wies diese Entschuldigungen als grobe Selbsttäuschung zurück. Aber um das Maß voll zu machen, hatte er erfahren, daß Joe Bray am Leben war. Diese Nachricht traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel, und die goldenen Schätze, die schon greifbar vor ihm lagen, hatten sich in Schaumgold verwandelt.

Joe Bray lebte!

Er hatte sich einen fein ausgedachten Scherz mit seinem Erben erlaubt. Der Ausweg, der sich ihm aus seinen geschäftlichen Schwierigkeiten gezeigt hatte, war nun wieder verschlossen. Seine einzige Hoffnung gründete sich nun auf sein Verhältnis zu Fing-Su.

Stephen Narth war zu intelligent, um zu glauben, daß dieser Chinese alle Versprechungen halten würde, die er ihm gemacht hatte. Und doch standen fünfzigtausend Pfund auf dem Spiel. War es die Absicht des Chinesen, mit seinen phantastischen Plänen dieses Geld zu verlieren, wie es doch zweifellos der Fall sein würde, wenn Stephen Narth die Beziehungen zu ihm abbräche? – Bankerott? Was war denn Bankerott anders als ein unglückseliger Zufall, der jedem begegnen konnte und manchen Besseren und Höhergestellten getroffen hatte als Stephen Narth. Und wenn er nun seinen Bankerott erklärte, dann konnte der Chinese ja sehen, wie er zu seinem Gelde kam.

Das war der einzige tröstliche Gedanke, den er an diesem Nachmittag hatte. Die Aussicht seiner Aufnahme in die Gesellschaft der »Freudigen Hände« machte ihn jetzt schon halb seekrank. Er war wütend, daß er sich so weit herablassen sollte, sich mit diesen spitzbübischen Gelben auf eine Stufe zu stellen.

Er war Mitglied zweier Geheimgesellschaften, und seine Kenntnis in diesen Dingen war eingehend genug, so daß er mit den meisten Aufnahmeformalitäten vertraut war. Für ihn war der kommende Abend ermüdend und mit einem unangenehmen Zeitverlust verbunden. Ein Ausflug nach Südlondon wäre schon zu einer anderen Tageszeit ein übles Unternehmen gewesen, aber die Gewißheit, daß er dort um Mitternacht seinen Besuch machen sollte, empörte ihn. Die Vorstellung, daß er sich dort zwei Stunden in der Gesellschaft von Chinesenkulis aufhalten sollte, machte ihn rasend.

Spedwell speiste mit ihm in seinem Hotel und bemühte sich, ihm die kommende Feier zu erläutern. Dieser Mann mit dem mageren Gesicht und den unbeständigen, stechenden, dunklen Augen konnte glänzend sprechen. Aber es gelang ihm nicht, Stephen Narth zu besänftigen. Narth war keineswegs wählerisch, aber die große Tradition seiner Vorfahren wirkte in ihm nach, und je mehr er über seine Lage nachdachte, desto mehr haßte er die Ereignisse dieses Tages und die kommende Nacht.

»Es ist nichts Ekelhaftes dabei«, sagte Spedwell schließlich und zündete sich eine große schwere Zigarre an. »Wenn sich jemand beklagen müßte, dann könnte ich es sein. Sie scheinen zu vergessen, Narth, daß ich eingeborene indische Infanterie befehligt habe. Das sind doch vornehme Leute mit europäischer Gesinnung. Bilden Sie sich etwa ein, daß es mir große Freude macht, mich mit diesen asiatischen Kulis auf eine Stufe zu stellen?«

»Bei Ihnen ist das etwas anderes«, fuhr ihn Stephen an. »Sie sind als Soldat ein Glücksritter und können sich allen Umständen anpassen. – Sagen Sie mir aber eins, was ist mit Joan geschehen?« fragte er gereizt.

»Es geht ihr gut, sie ist wohl aufgehoben. Ihretwegen brauchen Sie sich keine Sorge zu machen!« sagte Spedwell ruhig. »Ich würde nicht zugeben, daß dem Mädchen etwas geschieht, darauf können Sie sich verlassen!«

Für Stephen gingen die Stunden viel zu schnell vorüber. Es war nahe an Mitternacht, als sie zusammen nach Piccadilly gingen. Spedwells Wagen wartete dort, und widerwillig stieg Stephen ein. Den ganzen Weg über quälte er ihn mit Fragen über Fing-Sus Pläne. Warum war man so eifrig bemüht, Stephen Narth in den Geheimbund aufzunehmen? Welche Rolle war ihm zugedacht? . . .

Spedwell antwortete ihm geduldig, aber er war sichtlich erleichtert, als der Wagen durch eine Seitenstraße nahe der Kanalbrücke in die Old Kent Road einbog.

»Hier sind wir«, sagte er, und sie stiegen aus.

Fünf Minuten hatten sie zu gehen, bevor sie zu einer engen Gasse kamen, die an einer hohen Ziegelmauer entlang lief. Das einzige Licht, das ihnen schien, kam von einer Straßenlaterne, die genau am Eingang der Gasse stand. Sie diente scheinbar einem doppelten Zweck: einmal sollte sie den Wagenverkehr verhindern, und außerdem gab sie der langen, schmutzigen Straße eine höchst minderwertige Beleuchtung. Der Regen prasselte herunter, und Stephen Narth zog den Kragen seines Mantels stöhnend in die Höhe.

»Was ist das für ein Platz?« fragte er mürrisch.

»Unsere Fabrik – oder unser Warenhaus«, erwiderte Spedwell.

Er hielt vor einer Türe an, bückte sich, schloß auf und öffnete.

Narth hatte wieder alle möglichen Beschwerden vorzubringen.

»War es denn durchaus notwendig, daß ich im Frack kommen mußte?« fragte er.

»Selbstverständlich«, sagte Spedwell gelangweilt. »Ich werde Sie führen.«

Soweit er bei dem Licht sehen konnte, das die Taschenlampe seines Führers verbreitete, wurde er zu einem kleinen Schuppen gebracht, der an die Wand angebaut war. Der Raum war ganz leer, nur zwei starke Holzstühle standen darin.

»Auf jeden Fall ist es hier trocken«, bemerkte Spedwell, als er ringsherum leuchtete. »Sie bleiben solange hier. Ich muß Fing-Su erst Ihre Ankunft melden.«

Als Narth allein war, ging er in dem kleinen Raum auf und ab. Er war gespannt, ob Leggat anwesend sein würde, und ob ihm die Aufnahmefeier nicht zu grotesk sein würde, um sie bis zu Ende mitzumachen. Plötzlich wurde aufgeschlossen, und Spedwell kam wieder herein.

»Sie können Ihren Mantel hier lassen, wir haben nur ein kleines Stück zu gehen«, sagte er.

Mr. Narth hatte sich nach den Instruktionen, die ihm Spedwell früher erteilte, in Frack und weiße Binde gekleidet. Jetzt nahm er auf Aufforderung seines Führers ein Paar Glacéhandschuhe aus der Tasche und zog sie an.

»Jetzt werden wir gehen«, sagte Spedwell, drehte das Licht aus und führte ihn fort.

Sie gingen auf einem mit Kies bedeckten Weg, der an einer Treppe endete. Diese schien tief in die Erde hinabzuführen. Oben am Eingang zu den Stufen standen zwei statuengleiche, unheimliche Gestalten. Als die beiden näherkamen, rief die eine sie an. Narth verstand die Sprache nicht.

Spedwell senkte seine Stimme und zischte etwas. Dann faßte er Narth am Oberarm und stieg mit ihm die Treppe hinunter. Als sie an eine zweite Tür kamen, wurden sie wieder in derselben Sprache angerufen, und wieder antwortete Spedwell. Jemand klopfte an eine Tür. Vorsichtig wurde sie von innen geöffnet. Mit leiser Stimme wurde mehrmals Frage und Antwort gewechselt, dann faßte Spedwell den Arm des andern mit festem Griff und führte ihn in eine lange, phantastisch geschmückte Halle. Bildete Narth es sich nur ein, oder fühlte er tatsächlich, daß Spedwells Hand zitterte?

Er konnte einen langen Gang entlangsehen. Zuerst hätte er beinahe laut loslachen mögen. Auf jeder Seite des länglichen Raumes saßen viele Reihen Chinesen hintereinander, jeder in einen billigen, schlechtsitzenden Frack gekleidet. Statt der Hemden trugen sie nur Einsatzstücke. Bei einem sah er, wie das Ende des Chemisettes herausguckte und an der Seite den bloßen braunen Körper des Mannes freiließ. Jeder hatte zwei blitzende Steine als Hemdknöpfe. Man brauchte aber nichts von Theatergarderobe zu verstehen, um sie als Glasimitationen zu erkennen. Feierlich und ehrfurchtsvoll starrten ihn alle diese sonderbaren Erscheinungen in ihren schwarzen Fräcken an.

Er schaute mit halboffenem Munde von einer Seite zur anderen. Alle trugen weiße Halsbinden, die auf die sonderbarste Weise zusammengeschlungen waren. Jeder hatte weiße Baumwollhandschuhe an den Händen, die sie auf ihre Knie gelegt hatten. Sein erster Eindruck war, daß er schon früher etwas Ähnliches gesehen haben mußte . . . und mit einemmal erinnerte sich Narth . . . richtig, eine schwarze Sängertruppe, die feierlich in derselben Haltung dasaß . . . ebenfalls mit weißbehandschuhten Händen auf den Knien. Der einzige Unterschied war nur, daß diese Leute der gelben Rasse angehörten.

In vier großen blauen Vasen brannten chinesische Räucherstäbe. Der süßliche Rauch füllte den ganzen Raum.

Nun blickte er geradeaus durch das große Schiff zu dem weißen Altar. Hinter diesem saß auf einem Thron Fing-Su selbst. Über seinem Frack – zweifellos waren seine Diamanten echt – trug er ein rotseidenes Gewand. Auf seinem Haupte erhob sich eine große goldene Krone, die mit kostbaren, funkelnden Steinen besetzt war. Seine Rechte hielt einen goldenen Stab, die Linke eine glitzernde Kugel, die in dem Licht der mit opalfarbenen Glasglocken bedeckten Kandelaber aufleuchtete. Plötzlich hörte er, wie Fing-Sus Stimme das Schweigen brach.

»Wer ist es, der kam, um mit den ›Freudigen Händen‹ zu sprechen?«

Narth erblickte das vergoldete Bild der beiden Hände, die über Fing-Sus Haupt aufgehängt waren.

Aber bevor er dieses Bild noch ganz in sich aufnehmen konnte, antwortete Spedwell:

»O Sohn des Himmels, mögest du ewig leben! Dies ist einer deiner niedrigsten Sklaven, der kommt, um deinen Thron anzubeten.«

Nach diesen Worten begannen die Chinesen im Chor zu singen, als ob sie von einem unsichtbaren Kapellmeister dirigiert würden.

Ihr Gesang brach ebenso unvermittelt ab, wie er begonnen hatte.

»Laß ihn näherkommen«, sagte Fing-Su.

Spedwell war nicht mehr an seiner Seite. Narth vermutete, daß er hinter ihm stand. Er wagte nicht, sich umzusehen. Zwei dieser Leute in den merkwürdigen schwarzen Frackanzügen führten ihn langsam durch die Halle. Dunkel kam ihm zum Bewußtsein, daß der Mann zu seiner Rechten ein Paar Beinkleider trug, die ihm eine Handbreit zu kurz waren. Aber für Narth war die Sache nicht mehr komisch. Ein starkes Angstgefühl bedrückte ihn; die Vorahnung eines schrecklichen Ereignisses, das seine Phantasie sich noch nicht ausmalen konnte, quälte ihn so, daß die Lust zu lachen, die ihn zuerst befallen hatte, längst erstorben war, obwohl seine Augen die sonderlichsten Merkwürdigkeiten zu beiden Seiten wahrnehmen konnten.

Dann wurden seine Blicke durch den Altar mit dem von Diamanten funkelnden Rand angezogen. Die verhüllte Gestalt eines Mannes lag dort, mit einem großen weißen Tuch bedeckt. Wie betäubt schaute er hin und sah, daß ein großes rotes Herz an dem weißen Tuch befestigt war . . . Er gab sich die größte Mühe, seine Gedanken zu sammeln, als er mit weitaufgerissenen Augen das weiße Laken und das rote Herz anstarrte . . . An dem Rand der Decke war ein chinesischer Buchstabe in leuchtendroter Farbe aufgemalt.

»Es ist nur ein Symbol – nur eine Wachsfigur«, flüsterte ihm eine Stimme ins Ohr.

Also Spedwell stand doch hinter ihm. Diese Gewißheit gab ihm den Mut zurück.

»Sprich mir Wort für Wort nach«, hörte er Fing-Sus tiefe feierliche Stimme. Sie füllte den Raum. »Ich will den ›Freudigen Händen‹ treu dienen . . .«

Wie im Traum wiederholte Narth die Worte.

»Ich will das Herz aller ihrer Feinde durchbohren.«

Auch diese Worte sprach er nach. Plötzlich kam ihm der Gedanke: wo mochte Leggat sein? Er dachte ihn hier zu finden. Seine Blicke schweiften umher, aber er konnte den starken Mann mit dem jovialen Gesicht nicht entdecken.

»Durch dieses Zeichen«, Fing-Su sprach weiter, »gebe ich einen Beweis meiner Treue, meiner Wahrhaftigkeit und meiner Zugehörigkeit zu dem Bunde . . .«

Jemand schob ihm unvermutet einen harten Gegenstand in die Hand. Es war ein langer, gerader Dolch, scharf wie ein Rasiermesser.

»Halten Sie ihn über die Figur – direkt auf das Herz«, sagte ihm eine Stimme ins Ohr. Mechanisch gehorchte Stephen Narth. Er wiederholte, ohne daß ihm der Sinn der Worte klar wurde, den Eid, den der Mann auf dem Thron ihm vorsagte.

»So lasse alle Feinde des Kaisers sterben!« sprach Fing-Su.

»Stechen Sie ins Herz!« flüsterte Spedwells Stimme. Stephen stieß mit aller Kraft zu.

Unter dem Messer gab etwas nach, er fühlte ein Zittern. Dann färbte sich das weiße Tuch plötzlich rot. Mit einem Schrei packte er das Tuch am Kopfende und schlug es zurück . . .

»O mein Gott!« schrie er.

Er sah in das Gesicht eines Toten. Es war Ferdinand Leggat!

 


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