Edgar Wallace
Die gelbe Schlange
Edgar Wallace

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18

Joan konnte nur sprachlos auf ihn starren. Joe Bray! Wenn sie einen Geist gesehen hätte, wäre sie nicht entsetzter gewesen.

Joe sah Clifford hilflos an.

»Hab' doch ein Herz, Cliff!« bat er schwach.

»Das habe ich – aber außerdem habe ich auch noch einen Verstand, und deshalb habe ich den Vorteil, du alter Verschwörer!«

Joe blinzelte von Clifford zu Joan.

»Ich muß dir erklären –« begann er laut.

»Nimm Platz«, sagte Clifford und wies auf einen Stuhl. »Ich habe deine Geschichte nun schon sechsmal anhören müssen, und ich glaube nicht, daß ich es noch einmal aushalten kann. Joan,« sagte er dann, »das ist der leibhaftige Joe Bray von der Yünnan-Gesellschaft. Sollten Sie an irgendwelche Trauerfeierlichkeiten gedacht haben, so können Sie diese getrost wieder absagen.«

»Ich muß dir erklären –« begann Joe wieder.

»Du mußt gar nichts erklären«, unterbrach ihn Lynne. Dabei blitzten seine Augen auf, wie Joan es schon einmal gesehen hatte.

»Dieser Joe Bray ist romantisch.« Er zeigte anklagend auf den zusammengesunkenen Mann. »Er hat gerade Verstand genug, um zu träumen. Eine seiner verrückten Ideen war, daß ich jemand aus seiner Familie heiraten sollte. Und um mich zu diesem verzweifelten Schritt zu bringen, erfand er eine schwindelhafte Geschichte von seinem baldigen Tode. Um die Sache glaubwürdig zu machen, verschaffte er sich – wie er mir eben gestanden hat – den Beistand eines dem Trunk ergebenen Arztes in Kanton, der jemand für verrückt erklärt, wenn man ihm zwei Gläser Whisky spendiert!«

»Ich muß dir erklären –« versuchte Joe noch lauter zu sprechen.

»In dem Augenblick, wo er mich auf dem Weg wußte,« fuhr der andere fort, ohne sich im mindesten beirren zu lassen, »schlich er sich mit seinem Spießgesellen, dem Doktor, nach Kanton und folgte mir mit dem nächsten Schiff nach England. Er hatte aber Anweisung gegeben, daß das Telegramm mit der Nachricht seines Todes abgesandt werden sollte, sobald er England erreicht hätte.«

Hier verteidigte sich Joe leidenschaftlich.

»Du hättest niemals geheiratet, wenn ich es nicht so gemacht hätte!« brüllte er dazwischen. »Du hast ein Herz von Stein, Cliff! Die Wünsche eines Sterbenden bedeuten dir nicht mehr als ein Bierfleck auf dem Stiefel eines Polizisten. Ich mußte sterben! Und dann dachte ich mir – ich würde zur Hochzeit kommen und euch alle überraschen!«

»So etwas tut man nicht, Joe!« sagte Clifford ernst. »Du bist ein Mann, der sich nicht benehmen kann!«

Als er sich zu Joan wandte, mußte er sich auf die Lippen beißen, um nicht zu lachen.

»Ich schöpfte schon Verdacht, als ich keine Todesnachricht in den englischen Zeitungen las«, sagte er. »Abgesehen davon, daß Joe in der Welt große Bedeutung hat, ist sein Name in China einer der klangvollsten. Das Wenigste, was ich erwartet hatte, war ein Nachruf für ihn von unserem Spezialkorrespondenten in Kanton. Und als ich dann im Nord China Herald eine Anmerkung fand, daß Mr. Joe Bray eine Reihe von Kabinen auf der Kara Maru belegt hatte –«

»Auf den Namen Müller«, murmelte Joe.

»Das ist mir gleich, unter welchem Namen du fuhrst, aber einer der Zeitungsreporter sah, wie dein Gepäck an Bord gebracht wurde, und erkannte dich auf der Straße. Deine Verkleidung war nicht so gut, wie du dachtest.«

Joe seufzte. Von Zeit zu Zeit sah er das Mädchen verstohlen von der Seite an und schämte sich, aber plötzlich faßte er den Entschluß, ihr geradewegs in die Augen zu sehen.

»Ich muß sagen« – er zitterte vor Begeisterung – »ich muß sagen, Cliff, daß du dir das Beste vom Besten ausgesucht hast. Sie gleicht meiner Schwester Elisabeth, die jetzt seit achtundzwanzig Jahren tot ist. Außerdem hat sie die Nase meines Bruders Georg –«

»Du kannst mich durch deine Personalbeschreibungen nicht ablenken«, sagte Clifford. »Du bist ein böser alter Bursche!«

»Schlau,« murmelte Joe, »nicht böse. Ich muß dir erklären –«

Er wartete scheinbar auf eine Unterbrechung, als diese aber nicht kam, hatte er den Faden verloren.

»Ich habe eine Menge Enttäuschungen erlebt, mein Fräulein«, begann er zu orakeln. »Nehmen Sie zum Beispiel Fing-Su! Was habe ich nicht alles für diesen Jungen getan, niemand weiß das außer mir und ihm. Und als Cliff mir erzählte, was für ein Schlingel er ist, hätten Sie mich mit einer Feder umwerfen können! Ich bin gütig und großzügig zu ihm gewesen, ich gebe es zu . . .«

Als er abschweifte, arbeiteten Joans Gedanken unaufhörlich. Wenn Joe Bray am Leben war, so bedeutete dies das Ende aller Pläne, die Stephen Narth geschmiedet hatte. Sie überlegte sich, welche Konsequenzen das für sie haben würde. Die Gründe für ihre Verheiratung zerflossen dadurch in nichts. Diese Erkenntnis schmerzte sie, und sie fühlte sich unglücklich. Sie sah zu Clifford hinüber und senkte den Blick wieder. Trotzdem hatte er ihre Gedanken erraten.

». . . Als ich ihm nun erklärte, was ich getan hatte, sagte ich zu ihm: ›Cliff, ich bin traurig.‹ Habe ich das getan, Cliff, oder habe ich es nicht getan?« fragte er. »Ich sagte: ›hätte ich gewußt, was ich jetzt weiß, hätte ich niemals Gründeraktien mit ihm geteilt!‹ Habe ich das getan, Cliff, oder nicht? Zu denken, daß dieser Hund – ich würde ihn noch ganz anders nennen, wenn Sie nicht hier wären, liebes Fräulein – so verrückte und wahnsinnige Ideen in seinem Kopfe hat!«

Joan begann nun zu verstehen.

»Einen romantischen Phantasten« hatte Clifford den alten Mann genannt, und sie sah nun die ungeschickte Diplomatie, die die gegenwärtige verwickelte Lage geschaffen hatte. Joe hatte seinen eigenen Tod simuliert, um einen Mann, den er liebte, zu einer Heirat mit einer seiner Verwandten zu bringen.

»Weiß Mr. Narth, daß Sie« – sie zögerte zu sagen »am Leben sind« und fuhr deshalb fort – »wieder nach England zurückgekehrt sind?«

Joe schüttele den Kopf, und Clifford antwortete für ihn.

»Nein, Narth darf es nicht wissen. Ich halte Joe einen oder zwei Tage hier bei mir, bis die Dinge sich entwickelt haben. Und vor allem, Joan – Fing-Su darf es nicht erfahren. Dieser leichtgläubige Chinese hat sicher die Nachricht von Joes Tod erhalten. Im Augenblick konzentriert er sich mit aller Kraft darauf, die eine Gründeraktie in die Hand zu bekommen, die ihm die Kontrolle über die Gesellschaft gibt.«

»Würde er tatsächlich dadurch die Gesellschaft in die Hand bekommen?« fragte sie.

Er nickte.

»Es klingt absurd, aber es ist so«, sagte er ernst. »Wenn Fing-Su diese eine Aktie bekäme, könnte er mich als Direktor ausschalten. Er würde die Leitung der ganzen Gesellschaft an sich reißen – und obwohl er dem Gesetz nach natürlich verpflichtet wäre, den Gewinn ehrlich mit den gewöhnlichen Aktionären zu teilen, könnte er in Wirklichkeit eine Summe von zehn Millionen Pfund für seine eigenen Zwecke verwenden.«

Sie schüttelte hilflos den Kopf.

»Aber es ist ihm doch sicher unmöglich, Clifford, diese eine Aktie zu kaufen?«

Er nickte.

»Es gibt nur einen Weg für Fing-Su, die Kontrolle zu bekommen,« sagte er langsam, »und ich hoffe zuversichtlich, daß er damit keinen Erfolg hat.«

Er gab keine weiteren Erklärungen. Gleich darauf verschwand er in der Küche, um Kaffee zu kochen, und das Mädchen blieb allein mit Joe zurück, woraus leicht hätte Verwirrung entstehen können, denn der große Mann schloß sofort die Tür sorgfältig hinter seinem Teilhaber.

»Wie gefällt er Ihnen?« fragte er in aufgeregtem Flüsterton, als er ihr gegenüber wieder Platz genommen hatte.

Es war eine unangenehme Frage für sie.

»Er ist sehr nett«, sagte sie möglichst harmlos.

»Ja, das ist er.« Joe Bray kratzte sich am Kinn. »Cliff ist ein guter Kerl. Ein wenig hart zu anderen Leuten, aber wirklich ein guter Junge.« Er sah sie strahlend an. »Dann gehören Sie ja jetzt zu uns – das ist fein! Sie sind so, wie ich es mir für Cliff gewünscht habe. Wie sind denn die anderen?«

Sie wurde der peinlichen Antwort enthoben, da er sogleich weitersprach.

»Ja, Cliff ist zu hart! Ein kleiner Tropfen Gin hat noch keinem geschadet, nehmen Sie ruhig diesen Rat von mir an. Es ist gut für die Nieren, um bloß eins zu erwähnen. Aber Cliff ist enthaltsam, na ja, nicht ganz enthaltsam, aber Sie verstehen, er liebt nicht, wenn Flaschen auf dem Tisch herumstehen.«

Sie folgerte daraus mit Recht, daß Joe Bray nichts gegen volle Flaschen einzuwenden hatte.

»Ja, ich bin sehr froh, daß er Sie gewählt hat –«

»Aber um die Wahrheit zu sagen, Mr. Bray, ich habe ihn gewählt«, sagte sie lachend. Joe sperrte seine wässerigen Augen weit auf.

»Das haben Sie getan? Haben Sie das wirklich getan? Nun ja, er ist kein schlechter Kerl. Viel zu schnell mit seinem Schießeisen, aber das muß man seiner Jugend zugute halten. Immer muß er etwas totschießen. – Sie werden viele Kinder haben, daran zweifle ich nicht im mindesten.«

In diesem Augenblick kam glücklicherweise Clifford Lynne zurück. Er trug ein funkelnagelneues Silbertablett mit einer silbernen Kaffeekanne und silbernen Tassen. Er hatte eben alles auf den Tisch niedergestellt, als man ein schwaches Knacken hörte. Der Laut folgte so dicht auf das Geräusch, das Clifford durch das Aufsetzen des Tabletts verursacht hatte, daß Joan es nicht bemerkte. Sie sah nur, wie er nach den Fenstern blickte, die durch die Läden fest geschlossen waren. Er hob seinen Finger zum Zeichen, daß sie schweigen sollten.

»Was ist los, Cliff?« Der alte Mann blickte plötzlich verstört auf.

Clifford zog den Vorhang zurück, und zum erstenmal sah Joan die mit eisernen Läden dicht verschlossenen Fenster. Jedes Fenster hatte in der Mitte einen langen, ovalen Buckel als Verzierung.

»Sprecht nicht!« flüsterte er. Er streckte seine Hand aus und drehte das Licht aus.

Der Raum war jetzt vollständig finster, aber plötzlich bemerkte sie eine kleine Öffnung an der Stelle, wo die Eisenornamente an dem Fenster waren, als Clifford die Klappe von den Schießscharten hochschob.

Der Mond war aufgegangen, und durch den Schlitz konnte er den leeren Platz vor dem Hause überschauen. Es war niemand zu sehen. Er beobachtete scharf durch das Schießloch. Gleich darauf wurde seine Ausdauer belohnt. Eine dunkle Gestalt bewegte sich im Schatten der Bäume und kam in einem Bogen auf das Haus zu. Dann sah er eine andere – noch eine dritte – und plötzlich tauchte in Reichweite ein Kopf vor ihm auf. Offensichtlich war der Mann an das Fenster herangekrochen. Im Mondlicht konnte er den runden, glattrasierten Kopf eines chinesischen Kulis bemerken. In der einen Hand trug er ein kleines Paket, das mit einem Bindfaden an seinem Handgelenk befestigt war, in der anderen hielt er einen sichelförmigen Haken.

Mit diesem langte er in die Höhe, faßte damit die eiserne Dachrinne und zog sich mit außerordentlicher Kraftanstrengung, die bei anderer Gelegenheit Lynnes größte Bewunderung hervorgerufen hätte, auf das Dach. Clifford wartete, bis die hin und her pendelnden Füße nach oben verschwunden waren, ging dann geräuschlos nach der Hinterseite des Hauses und trat von dort ins Freie. Im Mondlicht, das sich breit über den Kranz der Fichten ergoß, sah er blitzenden Stahl. An dieser Seite waren die Holzfäller die ganzen Tage tätig gewesen. Man konnte in dem weißen Schein die Baumstümpfe deutlich erkennen. Aber in einer Entfernung von fünfzig Metern standen die Bäume noch sehr dicht.

Das Haus war umzingelt, trotzdem ging er weiter und erreichte, gedeckt durch den Schatten des Nebenhauses, einen Punkt, von dem aus er den First des Daches in seiner ganzen Länge sehen konnte. Kaum hatte er seinen Posten erreicht, als sich ein Kopf über dem Giebel erhob. Gleich darauf sah er deutlich, wie ein Chinese schnell nach dem viereckigen Schornstein kroch.

Er hatte wieder seinen Schalldämpfer auf der Pistole befestigt.

Plob!

Der Mann auf dem Dache hielt an, taumelte ein wenig und rollte und schlitterte dann über das dichte Schieferdach herunter. Mit einem Stöhnen fiel er dicht vor Cliffords Füßen auf den Boden. Lynne hörte die aufgeregten, unterdrückten Rufe der unsichtbaren Spione im Schatten der Bäume. Er sah, wie einer aus der Deckung hervorkam und feuerte schnell auf ihn. Sofort lief der Chinese davon, um sich in Sicherheit zu bringen. Clifford Lynnes Kaltblütigkeit und Treffsicherheit war diesen Kulis nur zu gut bekannt.

Er wartete. Wahrscheinlich würden sie jetzt zum Angriff vorgehen. Da hörte er von dem anderen Ende der Zufahrtsstraße das Anspringen eines Motors, das Knirschen eines Hebels und das Geräusch eines fortfahrenden Autos. Dann noch den Ruf eines Menschen, der auf den fahrenden Wagen sprang. Clifford war froh, daß die Angreifer sich entfernten. So konnte er seine Aufmerksamkeit der bewegungslosen Gestalt zuwenden, die vor ihm auf dem Boden lag.

Er ging ins Haus, rief Joe herbei, und die beiden Männer trugen den Verwundeten in die Küche.

»Fing-Su hat sie in einem Lastauto hierhergebracht«, sagte er. (Später konnte er sich davon überzeugen, daß dieses Fahrzeug ein Autobus war, der in der Fabrik von Peckham benützt wurde, um Arbeiter an ihre Arbeitsstellen aufs Land zu bringen.)

»Ist er tot?« fragte Joe.

Clifford verneinte.

»Nein, die Kugel ist gerade über dem Knie eingedrungen. Das ist seine einzige Verletzung«, sagte er, als er die Wunde mit einem Handtuch verband. »Der Fall vom Dach hat ihm das Bewußtsein genommen.« Der Kuli öffnete bald die Augen und starrte von einem zum andern.

»Ich bin tödlich getroffen!« keuchte er. Sein Gesicht verzog sich angstvoll, als er Lynne erkannte.

»Wer hat dich hierhergebracht?«

»Niemand – ich kam aus eigenem Antriebe«, sagte der Chinese.

Clifford grinste unheimlich.

»Schnell!« sagte er. »Ich nehme dich sonst sofort mit ins Gebüsch und wärme dir das Gesicht ein wenig mit Feuer an, dann wirst du schon das Sprechen lernen, mein Freund. Zunächst bleibst du hier bei Shi-suling.«

Das war der Name, den die Chinesen dem alten Joe Bray gaben, und die Übersetzung war gerade nicht schmeichelhaft für den Träger des Namens.

Als Clifford zu Joan zurückkam, erwartete er, sie in Aufregung zu finden, und war angenehm von ihr enttäuscht. Aber sie hatte doch begriffen, daß etwas nicht in Ordnung war und vermutete richtig, daß es in Zusammenhang mit dem heimtückischen Messerwurf stand.

»Ja, es war ein Chinese,« bejahte Cliff ihre Frage, »der mit mir abrechnen wollte. Ich glaube, es ist besser, wir trinken keinen Kaffee, und ich bringe Sie nach Hause. Die Kerle haben sich jetzt zurückgezogen«, fügte er unvorsichtig hinzu.

»Die Kerle? Wieviel waren es denn?« fragte sie.

Er sah, daß er nichts gewonnen hatte, wenn er ihr die Sache verheimlichte. Es war viel besser, ihr den vollen Umfang der Gefahr zu sagen.

»Wahrscheinlich war etwas mehr wie ein Dutzend an dem Angriff beteiligt, aber ich weiß nicht, was sie erreichen wollten.«

»Sie!« sagte sie mit Nachdruck. Er nickte.

»Ich nehme an, daß sie mich holen wollten,« sagte er. »Die Hauptsache ist aber, daß sie sich nun davon gemacht haben und jetzt nichts mehr zu fürchten ist.«

Er sah ihr aufmerksam ins Gesicht, und sie hatte das Gefühl, daß er ihre Charakterstärke prüfen wollte, bevor er weitersprach.

»Zunächst muß ich Ihnen noch etwas sagen, das Sie beunruhigen wird«, fuhr er fort. »Wenn ich auch die Bäume in der Umgebung abschlagen lasse, so komme ich damit nicht viel weiter. Soweit ich Fing-Su kenne, wird er sich durch nichts abschrecken lassen. Wenn sich einmal der Gedanke in seinem Dickkopf festgesetzt hat, daß ich Sie liebe – wie ich es ja auch tatsächlich tue – so ist es wahrscheinlich, daß er seine Aufmerksamkeit auch Ihnen zuwenden wird. Fürchten Sie sich deshalb?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wahrscheinlich habe ich nicht genug Phantasie, mir auszumalen, was geschehen könnte«, sagte sie. »Aber ich habe keine Furcht.«

Er öffnete einen Stahlschrank in einer Ecke des Wohnzimmers und nahm einen runden, schwarzen Gegenstand heraus, der die Gestalt einer großen Pflaume hatte.

»Ich bitte Sie, zu Hause zu bleiben und nicht auszugehen, wenn es dunkel geworden ist«, sagte er. »Nehmen Sie bitte auch diese Kugel mit, und verwahren Sie sie so in Ihrem Schlafzimmer, daß Sie sie leicht erreichen können. Wenn Gefahr irgendwelcher Art droht, werfen Sie sie aus dem Fenster – sie ist nicht zu schwer.«

Sie lächelte.

»Ist es eine Bombe?«

»Nein, nicht im gewöhnlichen Sinn. Sie würde Ihnen zwar einigen Schaden zufügen, wenn sie dicht bei Ihnen explodierte. Ich rate Ihnen auch nicht, sie unter Ihr Kissen zu legen. Tagsüber schließen Sie das Ding am besten in einer Schublade ein. Aber nachts legen Sie es so, daß Sie sofort mit der Hand danach greifen können. Sie sind doch erschrocken«, sagte er vorwurfsvoll.

»Nein, das bin ich nicht«, protestierte sie unwillig. »Aber Sie müssen doch zugeben, daß Sie alles tun, um mir Furcht einzujagen!«

Er klopfte ihr auf die Schulter.

»Wird in der Nacht noch etwas passieren?« fragte sie, als sie den schwarzen Ball in die Hand nahm und ihn äußerst sorgfältig in ihre Handtasche legte.

Er zögerte.

»Ich glaube nicht. Fing-Su macht weder schnelle noch gründliche Arbeit.«

Sie sah sich nach Joe Bray um, als er sie zur Türe brachte.

»Ich möchte noch Gute Nacht sagen –«

»Joe ist beschäftigt«, sagte er. »Sie werden noch genug von dem alten Esel zu sehen bekommen, noch viel zu viel. Vergessen Sie das nicht. Trotzdem: Joe kennt keine Furcht. Er ist moralisch ein Feigling, und er ist verrückt, aber ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er fünfhundert fanatisch heulende Kulis mit einem zerbrochenen Gewehr und einem Dolchmesser in Schach hielt.«

Sie gingen schnell den Fahrweg hinunter. Clifford leuchtete den Kies mit seiner Taschenlampe ab und sah sofort die tiefen Radspuren des Lastautos, die zur Hauptstraße führten und in der Richtung nach London abbogen. Als sie Sunni Lodge sahen, blieb er stehen.

»Bitte zeigen Sie mir den Raum, wo Sie schlafen. Kann man ihn von hier aus sehen?«

Sie deutete mit der Hand.

»Also im Obergeschoß?« sagte er erleichtert. »Was für ein Raum ist das anstoßende Zimmer – das mit den beiden weißen Gardinen am Fenster?«

»Das ist das Zimmer des Küchenmädchens«, erklärte sie. »Das heißt, es ist der Raum, wo das Küchenmädchen schläft, wenn wir eins haben. Augenblicklich haben wir zwei Dienstboten zu wenig.«

Er orientierte sich kurz über die Lage des Hauses und war wenig damit zufrieden. Es war leicht, das Obergeschoß zu erreichen, denn Sunni Lodge war eine der sonderbaren Villen, wie sie nach künstlerischem Effekt haschende Architekten zu bauen pflegen. Hier ragte ein schmaler Steinbalken aus der Fassade hervor, dort erhob sich ein Turm, und hier führte eine lange eiserne Regenröhre nahe an ihrem Fenster vom Dach bis auf die Erde. Dadurch erhöhte sich die Gefahr bedeutend.

Er wartete, bis sie das Tor geschlossen hatte, und ging eilig nach seinem Hause zurück. Joe saß in der Küche, rauchte seine Pfeife und schimpfte in Chinesisch mit dem verwundeten Kuli.

»Auch du wirst diesen Vogel nicht zum Singen bringen«, sagte er verärgert zu Clifford. »Aber ich weiß wenigstens, wer es ist. Er heißt Ku-t'chan. Früher war er im Fu-Weng-Store angestellt. Ich habe ihn sofort erkannt. Es ist doch sonderbar mit mir, Cliff,« sagte er selbstzufrieden, »daß ich niemals ein Gesicht vergesse. In der Beziehung habe ich ein Gedächtnis wie eine Geschäftskartothek. In dem Augenblick, als ich ihn sah, sagte ich zu ihm: ›Ich kenne dich, mein Bursche, du bist Ku-t'chan‹, und er leugnete es nicht. Man kann ihn nicht ausfragen, Cliff, er bleibt stumm wie ein Fisch.«

»Joe, du kannst zu deiner Lektüre zurückkehren«, sagte Cliff kurz und schloß die Tür hinter seinem Freund. Dann setzte er sich nieder.

»Nun, Ku-t'chan, oder wie du sonst heißen magst, berichte! Und zwar schnell! Denn in vier Stunden ist es heller Tag, und es wird nicht gut sein, wenn mich jemand dabei sieht, wie ich einen Chinesen im Walde begrabe. Und begraben wirst du ganz sicher.«

»Master,« sagte der erschrockene Kuli, »warum willst du mich töten?«

»Ich will dir sagen, warum«, antwortete Clifford, indem er jedes Wort betonte. »Wenn ich dich Chinesenhund leben ließe, und du nachher der Polizei erzähltest, daß ich dir das Gesicht ein wenig mit Feuer angesengt habe, würde das eine Schande für mich sein.«

In einer Viertelstunde hatte Cliff alles aus Ku-t'chan herausgeholt, was dieser wußte. Es war zwar nicht viel, doch genügte es vollkommen, um selbst Clifford Lynne zu beunruhigen.

Er gab dem Kuli einen Sack, auf dem er schlafen konnte, vergewisserte sich, daß er nicht entwischen konnte und ging zu Joe ins Vorderzimmer. Als er eintrat, schaute der große Mann ihn an.

»Willst du ausgehen?« fragte er betrübt. »Was hast du vor, Cliff? Ich müßte noch soviel mit dir besprechen!«

»Bewache du nur den Kuli hinten in der Küche. Ich glaube nicht, daß du irgendwelche Unannehmlichkeiten mit ihm hast«, sagte Clifford schnell. »Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme, aber wahrscheinlich vor Tagesanbruch. Du weißt, wie du diesen Armsessel in ein Bett verwandeln kannst, wenn du dich schlafen legen willst?«

»Aber die Hauptsache ist –« begann der aufgeregte Joe.

Aber bevor er erklären konnte, was er für die Hauptsache hielt, war Clifford Lynne längst gegangen.

 


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