Edgar Wallace
Feuer im Schloß
Edgar Wallace

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9

Menschen, die man eigentlich gern hat, können einem doch manchmal auf die Nerven gehen, wenn sie in ihrer Hilfsbereitschaft zu aufdringlich sind.

Anna mochte John Lorney wirklich gern, aber noch lieber wäre er ihr gewesen, wenn er seine Pflicht, als ihr Beschützer aufzutreten, nicht gar so ernst genommen hätte. Sie lebte schließlich ihr eigenes Leben, hatte viel Bekannte und war schon weit herumgekommen. Aber ihm war natürlich die Welt, in der sie lebte, ziemlich fremd, und während der Zeit, die sie bei ihm verbrachte, lernte er auch nicht viel von ihrem eigentlichen Leben kennen. Allein die vielen Briefe und Karten, die sie täglich erhielt, erregten sein lebhaftes Interesse. Er fragte sich oft, wer ›Alice‹ und ›Boy‹ sein mochten und ob ›Ray‹ ein Herr oder eine Dame war.

Es gefiel ihr, daß Mr. Lorney sich um sie kümmerte, aber deswegen brauchte er sie nicht ständig wie ein kleines Kind zu behandeln.

»Miss Anna, Sie gehen doch nicht weit fort?«

Lorney sah von seinem Fremdenbuch auf, in das er gerade eine Eintragung machte, als sie durch die Diele ging.

»Bloß durch den Wald zum Steinbruch.«

Er warf einen Blick zur Treppe, als erwarte er dort jemanden zu sehen.

»Mr. Mayford fragte nach Ihnen. An Ihrer Stelle würde ich mich ihm anschließen, wenn Sie im Wald spazierengehen wollen.«

Sie sah ihn mißtrauisch an. Es war nicht das erstemal, daß er ihr Dick als Begleitung empfahl. Sie fand den jungen Mann ja ganz nett, aber sie konnte es auch einmal eine Stunde ohne ihn aushalten.

»Ich möchte lieber allein sein«, erwiderte sie heftiger, als nötig gewesen wäre.

»Nun gut.«

Es tat ihr schon leid, daß sie so scharf geantwortet hatte, aber sie haßte es, irgend jemandem Rechenschaft über ihre Pläne geben zu müssen. John Lorney war ja nicht ihr Vormund.

Schnell ging sie durch den Garten; erst als sie im Wald war, verlangsamte sie ihr Tempo. Hier herrschte friedliche Stille. Dieser Teil des Gehölzes gehörte schon zum Schloß Arranways, aber die jeweiligen Besitzer des Gasthauses hatten das Recht, Bänke aufzustellen, und jeder durfte hier spazierengehen.

Anna brauchte Ruhe, um nachzudenken. Es war vor allem Dicks Verhalten, das sie sich nicht erklären konnte. Sie fand, er kümmerte sich in letzter Zeit auffallend wenig um sie. Sie hatte gehofft, er würde sie hier irgendwo erwarten, denn er wußte genau, daß und um welche Zeit sie fortgehen wollte, und das genügte ihrer Meinung nach für einen jungen Mann, der sich für sie interessierte.

Der Weg zog sich in langen Windungen hin, und als sie um eine Biegung kam, sah sie plötzlich Mr. Keller. Er ging ihr schnell entgegen. Sie sagte sich, daß es sinnlos war, an ihm vorbeizugehen, und blieb deshalb wartend stehen.

»Hallo!« rief er ihr in bester Laune zu, »ich bin schon durch den ganzen Wald gelaufen, um Sie zu suchen. Gut, daß Sie endlich kommen.«

»Haben Sie nicht Mr. Mayford gesehen?« fragte sie kühl. Sie fand, ein kleiner Dämpfer konnte ihm nichts schaden.

»Nein«, entgegnete er lächelnd, »aber ich glaube, er ist bei Eddie – ich meine, bei Lord Arranways. – Wohin wollen Sie jetzt gehen?«

»Zurück ins Gasthaus.«

Aber dann hatte sie das Gefühl, es sei besser, wenn sie nicht zu abweisend wäre, und setzte hinzu: »Im Wald ist es heute so langweilig, finden Sie nicht auch?«

»Nun, ich bin doch aber nicht langweilig – oder? Und gefährlich bin ich auch nicht. – Warum fürchten Sie sich eigentlich so vor mir?«

»Aber das ist doch lächerlich! Warum sollte ich mich denn vor Ihnen fürchten?«

Statt einer Antwort nahm er ihren Arm, obwohl nicht einzusehen war, warum sie nicht auf diesem glatten Waldweg hätte allein gehen können. Er tat es mit so absolut weltmännischer Gewandtheit, daß sie eigentlich anstandshalber nicht protestieren konnte. Auch ließ er sie sofort los, als sie nach ein paar Schritten versuchte, sich freizumachen. Er begann von Australien zu sprechen und schilderte das Leben im Busch in den lebhaftesten Farben.

Mr. Keller konnte wirklich ein glänzender Gesellschafter sein, wenn er es darauf anlegte. Ein Gespräch mit ihm war immer interessant.

Auf einer Waldwiese setzten sie sich schließlich auf eine Bank und beobachteten Eichhörnchen. Aber Mr. Keller beobachtete mehr Anna als die Eichhörnchen. Er überlegte, ob sie sich im Falle eines Annäherungsversuchs von seiner Seite wehren könnte oder wollte. Seine strategischen Fähigkeiten auf diesem Gebiet waren unübertroffen, aber in diesem Augenblick erkannte er, daß er durch rücksichtsvolles Vorgehen nichts erreichen würde. Er hatte wohl gemerkt, daß er eben einen günstigen Eindruck auf sie machte und nicht warten durfte, bis diese Stimmung verflogen war oder bis Dick Mayford ihn wieder in den Schatten stellte.

»Wissen Sie eigentlich, wie schön Sie sind?« fragte er unvermittelt.

In diesem Augenblick hätte sie aufstehen und gehen müssen. Aber Kellers offenkundiges Interesse, das, wie sie sicher war, schon Damen der großen Welt gegolten hatte, schmeichelte ihr, und außerdem war sie felsenfest davon überzeugt, jeder Situation gewachsen zu sein, was immer eine gefährliche Illusion ist . . .

 

Mary Arranways sah, wie Anna verstört den Weg entlanglief, und war nicht erstaunt, denn sie hatte teilweise beobachtet, was geschehen war. Zufällig war sie am anderen Ende der Waldwiese spazierengegangen, und Keller hätte sie sehen können, wenn er überhaupt für irgend etwas anderes Interesse gehabt hätte außer für seinen neuesten Plan.

Anna lief, bis sie in die Nähe des Gartenhauses kam. Dort blieb sie stehen und brachte ihre Frisur in Ordnung. Sie zitterte und versuchte vergeblich, sich zu fassen.

John Lorney, der vor dem Gasthaus stand, beobachtete sie, und als sie eine Weile später die Treppe zum Balkon hinaufgehen wollte, sprach er sie an. Er konnte an ihrem Blick erkennen, was passiert sein mußte.

»Sind Sie gelaufen?« fragte er harmlos.

»Ja«, keuchte sie, noch immer außer Atem.

»Hat Sie jemand erschreckt?«

Sie schüttelte den Kopf und blickte sich um.

»Sie haben Ihren Hut verloren, nicht wahr?«

»Oh – ich habe ihn abgenommen. Wahrscheinlich habe ich ihm auf einer Bank liegengelassen.«

Sie ging schnell an ihm vorbei die Treppe hinauf und verschwand in ihrem Zimmer.

Mr. Lorney schaute ihr nachdenklich und besorgt nach. Dann kehrte er ins Haus zurück und klingelte Charles.

»Gehen Sie in das Zimmer von Mr. Keller und sehen Sie nach, ob er da ist.«

»Er ist nicht im Haus. Ich war gerade oben«, brummte der Kellner. »Vor einer Stunde ist er in den Wald gegangen.«

Lorney warf seine Zigarre in den Aschenbecher und nahm eine neue. Gleich darauf sah er, wie Keller durch den Garten schlenderte, und trat vor die Tür.

Keller trug einen Strohhut in der Hand.

»Gehört der einem Ihrer Gäste?« fragte er ruhig.

»Wo haben Sie ihn gefunden?«

Lorney nahm den Hut, ohne den Blick von Keller zu wenden.

»Er lag auf dem Boden im Wald. Vielleicht gehört er – wie heißt doch gleich das junge Mädchen – Miss Jeans?«

»Haben Sie sie denn gesehen?«

»Ja, ich habe jemanden gesehen – vielleicht war sie es.«

Er lächelte breit.

»Haben Sie sich schon einmal ihre Augenbrauen genauer angesehen?«

»Ich verstehe nicht – ihre Augenbrauen?«

Keller äußerte sich aber nicht weiter, sondern lachte nur noch einmal laut und ging hinauf zu seinem Zimmer. Als er oben auf dem Balkon angekommen war, lehnte er sich über das Geländer.

»Ich werde Ihnen heute abend einen Scheck geben, den Sie bitte für mich einlösen wollen. – Und was ich noch sagen wollte: Schauen Sie sich einmal spaßeshalber die Augenbrauen der jungen Dame an, wenn Sie ihr das nächste Mal begegnen.«

»Was hat denn der mit seinen Augenbrauen die ganze Zeit«, sagte Charles kopfschüttelnd.

»Kümmern Sie sich um Ihre Angelegenheiten«, erwiderte Lorney kurz angebunden, sah auf den Hut, den er noch in der Hand hielt, zögerte einen Augenblick, ging dann aber hinauf und klopfte an Annas Tür.

»Wer ist da?«

»Lorney. Ich bringe Ihren Hut.«

Ein kurzes Schweigen, dann wurde die Tür aufgeschlossen, und Anna streckte einen Arm heraus.

»Bitte geben Sie ihn mir.«

Er tat es, und schon im nächsten Augenblick war die Tür wieder zu und abgeschlossen. Nachdenklich ging Lorney die Treppe hinunter. Er hatte wohl gemerkt, daß ihre Stimme zitterte. Sie mußte geweint haben.

Augenbrauen? Was mochte Keller damit meinen? Seine Worte hatten richtig höhnisch geklungen.

Lorney spielte mit dem Barscheck, den er noch in der Hand hielt. Plötzlich sah er auf. Ihm war ein Gedanke gekommen. »Ich habe verstanden, Mr. Keller«, sagte er laut vor sich hin.

Charles zupfte ihn am Ärmel.

»Mr. Collett ist am Telefon. Er fragt, ob er für heute nacht ein Zimmer haben kann.«

»Collett?« wiederholte Lorney langsam. »Ja, natürlich kann er ein Zimmer haben.«

Lorney war gespannt, warum der sympathische Beamte von Scotland Yard gerade jetzt nach Sketchley kam.


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