Lewis Wallace
Ben Hur
Lewis Wallace

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Dreiunddreißigstes Kapitel.

Die Straßen waren mit Menschen gefüllt, die kamen und gingen oder in Gruppen die Feuer umgaben, wo sie in froher Festesstimmung und unter Gesängen Fleisch brieten und aßen. Ben Hur hielt sich nirgends auf. Er eilte vorwärts, um bei der Herberge das Pferd zu besteigen und zu den Zelten am Kidron zurückzukehren. Unterwegs sah er einen Aufzug mit sich bewegenden Fackeln und glaubte inmitten des Rauches und der Funken glänzende Speerspitzen zu bemerken, ein Zeichen der Anwesenheit römischer Soldaten. Was hatten sie, die alles beb-spöttelnden Legionäre, in einem religiösen Aufzuge der Juden zu tun? Es war etwas Unerhörtes und er stand still, um zu sehen, was es bedeute.

In der Hoffnung, den besonderen Zweck einer solchen Ausrüstung entdecken zu können, trat Ben Hur so tief in die Straße, daß der Zug hart an ihm vorüberkommen mußte, und er jeden Teilnehmer genau betrachten konnte. Die Fackeln und Laternen wurden von Dienern getragen, von denen jeder mit einem Knüttel oder zugespitzten Stabe bewaffnet war. Ihre Aufgabe schien darin zu bestehen, zwischen den Steinen der Straße den besten Weg für gewisse Würdenträger zu suchen, die sich im Zuge befanden – Älteste und Priester, Rabbiner mit langen Bärten, buschigen Augenbrauen und scharf gebogenen Rasen, sowie Männer aus jener Klasse, die im Rate des Kaiphas und Annas Einfluß besaßen. Wohin mochten sie gehn? Zum Tempel gewiß nicht, denn dahin führte ein anderer Weg. Und war ihr Geschäft ein friedliches, wozu die Soldaten? Als der Zug sich an Ben Hur vorbeizubewegen begann, wurde seine Aufmerksamkeit besonders auf drei nebeneinander gehende Personen gelenkt. In dem Mann zur Linken dieser Gruppe erkannte er einen Hauptmann der Tempelwache, der zur Rechten war ein Priester. Der mittlere war anfangs nicht erkennbar, denn er stützte sich im Gehen auf die Arme des anderen und hielt den Kopf so tief auf die Brust gesenkt, daß sein Gesicht unsichtbar war. Er hatte das Ansehen eines Gefangenen, der sich vom Schrecken der Verhaftung noch nicht erholt hat oder einem traurigen Ziele – der Folter oder dem Tod – entgegengeht. Mit großer Kühnheit trat Ben Hur rechts an die Seite des Priesters und schritt neben ihm weiter. Wenn nur jetzt der Mann seinen Kopf erheben wollte! Und wirklich tat er es, so daß das Licht der Laternen voll in sein Gesicht fiel. Es war blaß, verstört, angstvoll, der Bart wirr, die Augen trübe, eingesunken und verzweiflungsvoll. Während der langen Zeit, die Ben Hur in der Nähe des Nazareners zugebracht, hatte er die Jünger ebensowohl wie den Meister kennengelernt, und als er jetzt das schreckensbleiche Gesicht sah, rief er aus: »Ischariot!«

Langsam wandte der Mann seinen Kopf zur Seite, bis seine Augen Ben Hur trafen, und seine Lippen bewegten sich, als wolle er sprechen. Aber der Priester verhinderte es.

»Wer bist du? Pack' dich!« sprach er zu Ben Hur, ihn wegschiebend.

Der junge Mann nahm die unsanfte Behandlung gutmütig hin und schloß sich später, eine sich bietende Gelegenheit rasch benützend, wieder dem Zuge an. Dieser bewegte sich die Straße abwärts, dann durch die mit Menschen gefüllten Niederungen zwischen dem Hügel Bezetha und der Burg Antonia und weiter am Teich Bethesda vorbei zum Schaftor. Da es Osternacht war, standen die Torflügel offen. Die Wachen waren fort und nahmen irgendwo an einem Mahle teil. Als der Zug unangehalten hindurchkam, lag vor ihm die tiefe Schlucht des Kidron, gegenüber der Ölberg mit seinem Schmuck von Zedern und Ölbäumen, die unter dem vom Silberlicht des Mondes übergossenen Himmel noch dunkler erschienen. Nun ging es durch die Schlucht und über die Brücke, welche den Talgrund überspannte. Nach einer kurzen Strecke wandten sie sich nach links einem Ölgarten zu, den eine von der Straße aus sichtbare Steinmauer umgab. Ben Hur wußte, daß dort nichts sei als einige alte, knorrige Bäume, Gras und ein aus einem Felsen gehauener Trog, in welchem nach der Sitte des Landes Öl gepreßt wurde. Indes er, noch mehr verwundert, dachte, was wohl eine solche Gesellschaft zu einer solchen Stunde an einen so einsamen Ort führen könne, hielt der Zug mit einemmal an. Vorn wurden erregte Stimmen laut. Ein kalter Schauer durchlief sie Mann für Mann, alle taumelten rückwärts und fielen wie blind übereinander. Die Soldaten allein blieben in der Reihe.

In einem Augenblick hatte sich Ben Hur von der Menge getrennt und war nach vorn geeilt. Dort fand er einen Torweg ohne Tor, der in den Garten führte, und er blieb stehn, um die Szene zu überschauen.

Vor dem Eingang stand ein Mann in weißer Kleidung und unbedeckten Hauptes, die Arme auf der Brust gekreuzt – eine schlanke, etwas vorgebeugte Gestalt mit langem Haar und schmalem Gesichte, in der Haltung der Ergebung und Erwartung. Es war der Nazarener!

Hinter ihm, dem Eingange zunächst, standen in einer Gruppe seine Jünger. Sie waren aufgeregt, während er das Bild vollkommener Ruhe bot. Das Fackellicht, das rötlich auf ihn fiel, gab seinem Haare einen rötlicheren Schimmer, als es von Natur hatte, doch sein Antlitz verkündete, wie immer, Milde und Erbarmen.

Dieser so ganz unkriegerischen Gestalt gegenüber stand der Volkshaufe – gaffend, schweigend, zitternd vor Furcht – bereit, beim ersten Zeichen seines Zornes die Flucht zu ergreifen. Ben Hur warf einen schnellen Blick von ihm auf die Rotte, dann auf Judas, der in ihrer Mitte sichtbar war, und der Zweck ihres Erscheinens lag klar vor seinen Augen. Hier stand der Verräter, dort der Verratene, und die mit Knütteln und Stöcken Bewaffneten waren hierhergeführt, um ihn gefangen zu nehmen.

Dies war jenes Ereignis, auf das sich Ben Hur jahrelang vor-bereitet hatte. Der Mann, dessen Verteidigung er sich gewidmet hatte, befand sich in Lebensgefahr, er aber rührte sich seltsamerweise nicht. Vielleicht hielt ihn auch die erhabene Ruhe zurück, in welcher der geheimnisvolle Mann der Rotte gegenüberstand, denn sie erinnerte ihn an die dem Nazarener innewohnende Macht, die mehr als hinreichend war, ihn aus der Gefahr zu erretten. Friede und Wohlwollen, Liebe und Sanftmut waren der Inhalt seiner Lehre gewesen; wird er seine Predigt in die Tat umsetzen? Wird er sich verteidigen? Und wie? Ein Wort, ein Hauch, ein Gedanke genügte. Daß jetzt eine sichtbare Offenbarung einer außerordentlichen, übernatürlichen Macht erfolgen werde, hielt Ben Hur für sicher, und in diesem Glauben wartete er. Noch immer legte er an den Nazarener seinen eigenen – den rein menschlichen Maßstab.

Jetzt ertönte die klare Stimme Christi: »Wen suchet ihr?«

»Jesum von Nazareth,« antwortete der Priester.

»Ich bin es.«

Auf diese so einfachen Worte hin, die ohne Leidenschaftlichkeit oder Erregung gesprochen wurden, wichen die Angreifer einige Schritte zurück, die Furchtsamen unter ihnen sanken zu Boden. Und sie hätten vielleicht von ihm abgelassen und sich entfernt, wäre nicht Judas auf ihn zugeschritten.

»Sei gegrüßt, Meister!«

Mit diesem Freundesgruß küßte er ihn.

»Judas,« sprach der Nazarener mild, »mit einem Küsse verrätst du den Menschensohn? Wozu bist du gekommen?«

Da er keine Antwort erhielt, sprach der Meister wieder zu der Menge: »Wen fürchtet ihr?«

»Jesum von Nazareth.«

»Ich habe es euch gesagt, daß ich es bin. Wenn ihr also mich suchet, so lasset diese gehn.«

Auf diese Worte traten die Rabbiner an ihn heran, und ihre Absicht merkend, kamen einige der Jünger, für die er sich verwendet hatte, näher. Einer derselben hieb einem Manne ein Ohr ab, ohne indes den Meister von der Gefangennahme zu retten. Und Ben Hur rührte sich noch immer nicht! Während die Soldaten ihre Stricke zurechtrichteten, vollbrachte der Nazarener sein größtes Liebeswerk – nicht das größte dem Werke nach, sondern das größte als Offenbarung seiner dem Menschen unbegreiflichen Feindesliebe.

»Lasset ab, nicht weiter!« sprach er, und heilte den Verwundeten, indem er sein Ohr anrührte.

Freunde und Feinde waren gleich erstaunt – die einen, daß er solches tun könne, die anderen, daß er es unter diesen Umständen tat.

Gewiß wird er nicht zulassen, daß sie ihn binden, dachte Ben Hur.

»Stecke dein Schwert in die Scheide! Soll ich den Kelch, den mir der Vater gegeben hat, nicht trinken?« Von dem ihn verteidigenden Jünger wandte sich der Nazarener an seine Häscher:

»Wie gegen einen Räuber seid ihr ausgezogen mit Schwertern und Prügeln, um mich zu fangen. Täglich war ich bei euch im Tempel und ihr habt mich nicht ergriffen. Aber das ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.«

Die Rotte faßte Mut und umringte ihn. Und als Ben Hur sich nach den Getreuen des Nazareners umblickte, waren sie verschwunden – nicht einer blieb zurück.

Die Menge schien es um den Verlassenen mit der Zunge, mit Händen und Füßen sehr geschäftig zu haben. Dann und wann wurde der Gefangene zwischen den Fackelstöcken, inmitten des Rauches, zwischen den sich rastlos hin und her bewegenden Männern oder über ihren Köpfen auf Augenblicke für Ben Hur sichtbar. Nie war ihm jemand so erbarmungswert, so freundlos und verlassen erschienen! Doch, dachte er, der Mann hätte sich verteidigen können – mit einem Hauch hätte er seine Feinde zu Boden schmettern können, aber er wollte nicht. Was war das für ein Kelch, den der Vater ihm zu trinken gegeben hatte? Und wer war der Vater, dem er so gehorchen mußte? Geheimnis über Geheimnis – nicht eines, sondern viele!

Alsbald setzte sich die Rotte, die Soldaten an der Spitze, in Bewegung, um nach der Stadt zurückzukehren. Ben Hur wurde besorgt, er war mit sich selbst unzufrieden. Dort, wo in der Mitte des Haufens die Fackeln brannten, war, das wußte er, der Nazarener zu finden. Plötzlich kam ihm ein Entschluß: er wollte versuchen, in seine Nähe zu gelangen. Nur eine Frage wollte er an ihn stellen.

Er legte sein langes Obergewand und das Kopftuch ab, warf beides auf die Gartenmauer, eilte der Rotte nach und schloß sich ihr an. Sich durch die letzten Nachzügler drängend, erreichte er mit vieler Mühe endlich den Mann, der die Enden des Strickes trug, womit der Gefangene gebunden war.

Der Nazarener schritt langsam, mit gesenktem Haupte und auf den Rücken gebundenen Händen. Seine Haltung war gebeugter als gewöhnlich, er schien alles vergessen zu haben, was um ihn vorging. Einige Schritte vor ihm gingen Priester und Älteste, miteinander redend und gelegentlich zurückblickend. Als sie sich endlich der Brücke in der Schlucht näherten, nahm Ben Hur dem Knechte, der den Strick hielt, denselben aus den Händen und trat hinter ihn.

»Meister, Meister!« sagte er eilig dem Nazarener ins Ohr. »Hörst du, Meister? Ein Wort, nur ein Wort! Sag' mir, gehst du freiwillig mit diesen?«

Die Leute drängten sich an ihn heran und er hörte zornige Fragen: »Wer bist du. Mann?«

»O Meister,« sprach Ben Hur im Tone größter Angst, »ich bin dein Freund und Anhänger. Sag' mir, ich bitte dich, wenn ich Rettung bringe, wirst du sie annehmen?«

Der Nazarener blickte nicht auf und gab auch nicht das geringste Zeichen, daß er ihn erkenne, doch jenes Etwas, das stets, wenn wir einen Leidenden teilnahmsvoll ansehen, von seinem Kummer erzählt, zeigte sich auch jetzt wirksam. Laß ihn allein, schien es zu sagen. Von seinen Freunden ist er verlassen, die Welt hat ihn verleugnet. Und dazu sah sich Ben Hur jetzt gezwungen. Ein Dutzend Hände drangen auf ihn ein und von allen Seiten erschollen Rufe: »Er ist einer von ihnen. Ergreift ihn, schlagt ihn nieder – tötet ihn!«

In plötzlicher Aufwallung seiner Leidenschaft, wie sie ihm öfters seine Kräfte wiedergegeben hatte, richtete sich Ben Hur empor, drehte sich einmal mit ausgestreckten Armen herum, schüttelte die Hände ab und durchbrach den sich rasch um ihn schließenden Kreis. Die Hände, die nach ihm griffen, rissen ihm die Kleider vom Leibe, und er lief nackt davon. Die Schlucht und die dort mehr als anderswo herrschende Dunkelheit boten ihm freundlichen Schutz.

Er holte sein Kopftuch und Obergewand von der Gartenmauer und folgte dem Zuge bis zum Stadttor. Von da begab er sich zur Herberge und ritt auf seinem schnellen Pferde zu den Zelten der Seinigen bei den Königsgräbern.

Auf dem Wege gab er sich das Versprechen, am nächsten Morgen den Nazarener auszusuchen. Er wußte nicht, daß der Freundlose geradeswegs zum Hause des Annas geführt worden war, um noch in der Nacht verhört zu werden.

Das Herz des jungen Mannes pochte heftig, als er sein Lager aufsuchte, und er konnte keinen Schlaf finden. Denn jetzt löste sich sein erhofftes jüdisches Königreich deutlich in das auf, was es war – in einen Traum. Sein ganzes Leben schien ihm plötzlich inhaltlos zu werden, und die Zukunft lag in schwarzem Dunkel vor ihm. Alles, was er wußte, war, daß er sich jetzt einem Wendepunkte seines Lebens näherte, auf den der kommende Tag und der Nazarener entscheidenden Einfluß nehmen sollten.


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