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Es war im Juli des Jahres 23 christlicher Zeitrechnung. Die Stadt Antiochia war damals die Königin des Orients und nach Rom vielleicht die mächtigste und volkreichste Stadt der Welt, und auch in der Verschwendung und Sittenverderbnis wetteiferte sie mit ihrer größeren Schwester an der Tiber.
Ein Transportschiff fuhr aus den blauen Gewässern des Meeres in die Mündung des Orontes ein. Es war Vormittag. Die Hitze war groß; dennoch befanden sich alle, die von diesem Vorrechte Gebrauch machen konnten, auf Deck, unter anderen auch Ben Hur. Die letzten fünf Jahre hatten den jungen Israeliten zum Manne herangereift. Wenn auch das weiße Linnengewand, das er trug, die Umrisse seiner Gestalt einigermaßen verhüllte, so hatte seine Erscheinung doch etwas ungewöhnlich Anziehendes.
Die Galeere hatte unterwegs an einem der Häfen von Cyprus angelegt und einen Juden von ehrwürdigem Aussehen aufgenommen. Dieser war ruhig, zurückhaltend und gegen alle väterlich wohlwollend. Ben Hur richtete einige Fragen an ihn, die Antworten gewannen sein Vertrauen und führten schließlich zu einem längeren Gespräche.
Während die Galeere in die Landungsbucht des Orontes einlief, traf sie auf zwei andere Schiffe, die schon auf hoher See in Sicht gekommen waren und jetzt ebenfalls in die Flußmündung segelten. Diese zogen nur kleine Flaggen von hellgelber Farbe auf. Über die Bedeutung dieser Signale wurden verschiedene Vermutungen ausgesprochen. Endlich wandte sich ein Mitreisender an den ehrwürdigen Hebräer und bat ihn um Auskunft hierüber.
»Ja, ich kenne die Bedeutung der Flaggen,« erwiderte er; »sie bezeichnen nicht die Nationalität, sie sind nur ein Kennzeichen des Eigentümers.«
»Kennst du ihn?«
»Er wohnt in Antiochien. Sein unermeßlicher Reichtum hat die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt, und was über ihn gesprochen wird, ist nicht immer liebevoll. In Jerusalem lebte vor Jahren ein Fürst aus uralter Familie, namens Hur.« Judah zwang sich zu äußerer Ruhe, sein Herz aber schlug schneller.
»Der Fürst war ein Kaufmann mit ausgesprochenem Geschäftstalente. Er setzte verschiedene Unternehmungen ins Werk, die zum Teil nach dem fernen Osten, zum Teil nach dem Westen reichten. In großen Städten gründete er Zweiggeschäfte. Jenes in Antiochien stand unter der Leitung eines Mannes namens Simonides, der trotz seines griechischen Namens ein Israelit war, einige behaupten, er sei früher Leibeigener der Familie gewesen. Der Fürst kam auf dem Meere um. Seine Geschäfte wurden indes weitergeführt und standen nach wie vor in Blüte. Nach einiger Zeit suchte das Unglück die Familie heim. Der einzige Sohn des Fürsten suchte, kaum erwachsen, den Prokurator Gratus in einer Straße Jerusalems zu töten. Der Versuch mißlang um ein Haar. Seitdem hat man von ihm nichts mehr gehört. Der Zorn des Römers traf das ganze Haus, nicht ein Träger des Namens Hur blieb am Leben. Das Vermögen wurde eingezogen, nichts, was als Eigentum der Familie ermittelt werden konnte, entging diesem Schicksal. Der Prokurator heilte seine Wunde mit einer goldenen Salbe.« Die Zuhörer lachten.
»Du willst sagen, er behielt das Vermögen für sich,« sagte einer von ihnen.
»So heißt es,« entgegnete der Jude; »ich erzähle nur nach dem Hörensagen. Dieser Simonides also, welcher der Geschäftsleiter des Fürsten hier in Antiochien war, begann bald darauf auf eigene Rechnung Handel zu treiben und wurde in unglaublich kurzer Zeit der erste Handelsmann der Stadt. Nach dem Beispiele seines Herrn sandte er seine Karawanen nach Indien, und auf dem Meere hat er gegenwärtig so viel Schiffe, daß sie eine königliche Flotte bilden könnten. Man sagt, nichts mißlinge ihm. Seine Kamele gehen nur an Altersschwäche zu Grunde, seine Schiffe versinken nie. Und würfe er einen Holzsplitter in den Fluß, so käme er ihm als Gold zurück.«
»Wie lange betreibt er so sein Geschäft?«
»Keine zehn Jahre.«
»Er muß einen guten Fang gehabt haben.«
»Ja! Es heißt, der Prokurator habe von des Fürsten Vermögen nur das eingezogen, was zur Hand war, die Pferde, das Kleinvieh, die Häuser, Ländereien, Schiffe und sonstige Güter. Das Geld konnte nicht gefunden werden, obschon ungeheure Summen vorhanden gewesen sein mußten. Was damit geschah, ist bis jetzt ein ungelöstes Rätsel.«
»Mir nicht,« bemerkte einer der Zuschauer mit eigentümlichem Lächeln.
»Ich verstehe dich,« entgegnete der Jude. »Andere hatten denselben Gedanken; daß der alte Simonides damit sein Geschäft begründete, ist allgemeine Meinung. Der Prokurator ist oder war wenigstens derselben Ansicht, denn zweimal in fünf Jahren ließ er den Kaufmann vor Gericht schleppen und der Folter unterwerfen.«
Judah preßte das Tau, welches er hielt, mit aller Kraft.
»Man sagt,« fuhr der Erzähler fort, »daß kein Knochen im Leibe des Mannes ganz blieb. Als ich ihn das letztemal sah, saß er, ein formloser Krüppel, in einem Armsessel, von Kissen gestützt.«
»So hat man den Armen gefoltert!« riefen mehrere Zuhörer gleichzeitig aus. »Krankheit hätte ihn nicht so entstellen können. Doch hatte die Folter keinen Erfolg. Was er besaß, gehörte ihm von Gesetzes wegen und er machte davon gesetzlichen Gebrauch – das war alles, was sie von ihm herauspressen konnten. Jetzt indes ist er vor Verfolgung sicher. Er hat einen von Tiberius selbst unterschriebenen Erlaubnisschein zum Betrieb des Handels.« Hier endete die Erzählung.
Judah begab sich in die Steuermannskajüte. Er war ganz in Gedanken vertieft und achtete kaum auf die Ufer mit ihren herrlichen Obst- und Weingärten, die sich vom Meere bis zur Stadt hinzogen. Nur einmal erwachte er auf kurze Zeit aus seinen Träumereien und blickte auf, als nämlich jemand auf den Hain der Daphne zeigte, der von einer Krümmung des Flusses aus sichtbar wurde.
»Der Hain der Daphne«, sagte der Jude erklärend zu einem Fremden, »ist etwas, was sich nicht beschreiben läßt. Er wurde von Apollo begonnen und auch vollendet. Er zieht ihn dem Olymp vor. Die Leute gehen hin, um ihn nur mit einem Blick zu sehen, und können nicht mehr fortkommen. Sie haben ein Sprichwort, das alles sagt: Besser ein Wurm sein und sich von den Maulbeeren Daphnes nähren, als eines Königs Gast.«
»Du rätst mir also, ferne zu bleiben?«
»O nein! Du wirst hingehen. Jedermann geht hin, zynische Philosophen, kaum erwachsene Jünglinge, Frauen und Priester – alle gehn hin. Die Verehrer des Gottes und seiner penäischen Jungfrau haben den Ort gebaut; in seinen Hallen und Pfaden und tausend Ruheplätzen werdet ihr Sitten und Gewohnheiten und Annehmlichkeiten finden wie sonst nirgends. Doch seht dort die Stadtmauer, das Meisterwerk des Xeräus, des Fürsten aller Baumeister!«
Aller Augen folgten seinem Finger.
»Dieser Teil wurde auf Befehl des ersten Seleukiden gebaut. Die dreihundert Jahre, seit denen die Mauer steht, haben sie zu einem Teil des Felsens gemacht, worauf sie ruht.« Als die Matrosen jetzt das Segel einzuziehen begannen und das Schiff sich langsam nach der Werft unter der Mauer wandte, suchte Ben Hur den vornehmen Juden auf.
»Erlaube, daß ich dich noch einen Augenblick belästige. Deine Erzählung von dem Kaufmanne hat in mir die Neugierde erregt, ihn kennen zu lernen. Du nanntest ihn Simonides?«
»Ja. Er ist ein Jude mit einem griechischen Namen.«
»Wo kann ich ihn finden?«
Der Angeredete erhob sein Haupt und dachte einen Augenblick nach.
»Man sollte meinen,« sagte er dann, »der reichste Kaufmann in Antiochien müsse ein seiner Wohlhabenheit entsprechendes Haus bewohnen. Doch wenn du ihn bei Tage treffen willst, so folge dem Flusse bis zu jener Brücke, unter derselben befindet sich eine Wohnung in einem Gebäude, das wie ein Strebepfeiler an der Mauer aussieht.«
»Ich danke dir.«
»Der Friede unserer Väter sei mit dir!«
»Und mit dir.«
Hiermit trennten sie sich.
Mit dem Gepäck Ben Hurs beladen, nahmen zwei Gepäckträger auf der Werft seine Weisungen entgegen. Er hatte erst beabsichtigt, seiner militärischen Würde entsprechend in der Zitadelle Wohnung zu nehmen. Aber die Geschichte des Simonides verfolgte ihn, und er änderte plötzlich seinen Entschluß, um sich in eine Herberge führen zu lassen.
In kurzer Zeit war er in eine öffentliche Herberge gebracht, die, einfach aber geräumig gebaut, einen Steinwurf weit von der Brücke lag, unter welcher Simonides wohnte. Während der Nacht ruhte er auf dem Dach der Herberge. In seinem Innern beschäftigte ihn der Gedanke: Nun werde ich endlich von der Heimat hören – von der Mutter, von der lieben kleinen Tirzah. Wenn sie noch am Leben sind, werde ich sie finden. Am folgenden Tage machte sich Ben Hur in aller Frühe auf, um nach dem Hause des Simonides zu gehen. Er hoffte hier sicherlich etwas von den Seinen zu erfahren, wenn dieser Mann wirklich ein Diener seines Vaters gewesen war. Aber würde er ihn als den Sohn seines frühern Herrn anerkennen? Das hieße seinen Reichtum und seine Handelsherrschaft aufgeben, die sich auf dem Fluß wie auf der Werft so königlich vor den Blicken Ben Hurs entfaltet hatte. Und was für den Kaufmann noch schwerer wog, es hieße seine Arbeit inmitten eines staunenswerten Erfolges abbrechen und sich freiwillig von neuem in Dienstbarkeit begeben. Der bloße Gedanke an ein solches Verlangen schien eine ungeheuerliche Kühnheit. Der diplomatischen Umschweife entkleidet, bedeutete es soviel als: Du bist mein Sklave; gib mir alles, was du hast, und – dich selbst. Dennoch schöpfte Ben Hur für die Zusammenkunft Mut aus dem Vertrauen auf sein Recht und aus der Fülle der Hoffnung, die sein Herz belebte. Er trat beherzt in das Haus. Das Innere stellte ein geräumiges Warenlager dar, wo, wohlgeordnet und sorgfältig eingeteilt, Güter aller Art aufgehäuft und verwahrt waren. Während er langsam zwischen den aufgestapelten Waren hindurchschritt, schien es ihm unglaublich, daß der Mann, dessen Genie sich hier so glänzend erprobte, ein Leibeigener seines Vaters gewesen sein sollte. Endlich trat ein Mann auf ihn zu und redete ihn an.
»Was wünschest du?«
»Ich wollte den Handelsmann Simonides sprechen.«
»Bitte, mir zu folgen.«
Durch zahllose enge Pfade zwischen den Warenballen schreitend, gelangten sie endlich zu einer Treppenflucht. Nachdem sie dieselbe erstiegen hatten, fand sich Ben Hur auf dem Dache des Warenlagers und sah vor sich einen Bau, der am passendsten als ein über dem andern erbautes kleineres Haus beschrieben wird, das, vom Landungsplatz aus unsichtbar, sich westlich von der Brücke unter dem freien Himmel erhob. Das von einer niedrigen Mauer umsäumte Dach glich einer Terrasse, die zu seinem Erstaunen mit den lieblichsten Blumen geschmückt war. Den süßen Duft einatmend, folgte Ben Hur dem Führer.
Am Ende eines dunkeln Ganges im Innern blieben sie vor einem halb aufgezogenen Vorhang stehen. Der Führer rief hinein: »Ein Fremder, welcher den Herrn zu sprechen wünscht!« Eine helle Stimme antwortete: »Laß ihn in Gottes Namen eintreten!«
Das Gemach, in das der Besucher geführt wurde, war das Geschäftszimmer des Kaufmanns, die in Fächer eingeteilten Wände enthielten zahlreiche Folianten. Im übrigen zeugte die Einrichtung von Geschmack und Wohlstand. Der Fußboden war mit so dicken Wollteppichen von grauer Farbe belegt, daß der Fuß des Eintretenden geräuschlos darin bis zur Hälfte versank.
In der Mitte des Zimmers befanden sich zwei Personen: in einem weiten, hochlehnigen, mit weichen Kissen belegten Armstuhl ruhte ein Mann, zu seiner Linken stand, auf die Rücklehne gestützt, ein Mädchen, das bereits zur Jungfrau herangereift war. Beim Anblick der beiden fühlte Ben Hur, wie das Blut ihm die Stirn rötete. Er verbeugte sich, sowohl um Fassung zu gewinnen, als aus Achtung, und bemerkte so nicht die Erhebung der Hände als das Zittern und Zusammenzucken, womit der Sitzende ihn empfing.
»Wenn du der Handelsherr Simonides und ein Jude bist« – Ben Hur hielt einen Augenblick inne –, »dann sei der Friede des Gottes unseres Vaters Abraham mit dir und – den Deinigen!«
»Ich bin Simonides, von dem du sprichst, und ein Jude,« antwortete der Mann mit merkwürdig klarer Stimme. »Ich bin Simonides, und ein Jude. Und ich erwidere den Gruß mit der Bitte, mir zu sagen, wer mich besucht.«
Ben Hur betrachtete indes den Mann. Wo seine Figur eine gesunde Fülle hätte zeigen sollen, war nur eine formlose Masse, in die Tiefen der Kissen begraben und mit einer gesteppten Seidendecke von dunkler Farbe bedeckt. Diese Masse krönte ein königlich edel geformter Kopf – der Kopf eines Staatsmannes und Eroberers – unten breit und mit hochgewölbter Stirn, oben bedeckt mit dünnen, schneeweißen Haaren. Ihm streckte Ben Hur seine offenen Hände, die innere Fläche nach oben, entgegen, als wolle er ihm den Frieden bieten, den er doch zu holen gekommen war.
»Ich bin Judah, der Sohn Ithamars, des letzten Hauptes der Familie Hur, und ein Fürst von Jerusalem.«
Des Kaufherrn rechte Hand, schmal, dünn, durch Leiden bis zur Entstellung abgemagert, lag auf der Decke. Sie schloß sich krampfhaft; im übrigen konnte man nicht das geringste Zeichen irgendeines Gefühles an ihm bemerken, nichts, was auf Überraschung oder Neugierde schließen ließ. Ruhig antwortete er: »Die Fürsten Jerusalems aus edlem Geblüt sind stets willkommen in meinem Hause! Esther, bring dem jungen Manne einen Sessel!«
Das Mädchen brachte einen und stellte ihn vor Ben Hur. Dabei begegneten sich ihre Augen.
»Der Friede des Herrn sei mit dir!« sprach sie sittsam. »Setze dich und ruhe!«
Ben Hur setzte sich nicht, sondern sagte höflich: »Ich bitte den guten Herrn Simonides, mich nicht für einen Eindringling zu halten. Als ich gestern den Fluß herausfuhr, hörte ich, er habe meinen Vater gekannt.«
»Ich kannte den Fürsten Hur. Wir waren Geschäftsgenossen in mehreren Unternehmungen. Doch, ich bitte, setze dich! Und Esther, bring Wein für den jungen Mann! Nehemias spricht von einem Sohne Hurs, der einst über halb Jerusalem herrschte, eine alte Familie, wahrlich, sehr alt! Es ist kaum denkbar, daß ihr direkter Nachkomme einen Becher Wein von den echten Trauben Soreks, gereift auf der Südseite der Hügel Hebrons, verschmähen wird.«
Esther hatte bereits aus einem Kruge, der auf einem Tische in der Nähe des Armstuhles stand, in einen silbernen Becher geschenkt und reichte denselben jetzt dem Jünglinge mit gesenktem Blicke. Dieser berührte leicht ihre Hand, um sie sanft zurückzuschieben. Wieder begegneten sich ihre Augen. Er bemerkte, daß sie klein von Gestalt war und ihm kaum bis an die Schultern reichte, aber sie war anmutig und hatte ein schönes, reizendes Gesicht mit schwarzen, unaussprechlich sanften Augen. »Simonides,« sprach dann der Jüngling fest, »bei seinem Tode hatte mein Vater einen vertrauten Diener deines Namens; man sagte mir, du seiest derselbe.«
Eine jähe Bewegung durchzuckte die verrenkten Glieder unter der Decke. Die magere Hand ballte sich. Dann sagte er in ruhigem Tone:
»Ich bin im Verkehre mit den Menschen alt geworden, alt vor meiner Zeit. Wenn jener, der dir erzählte, wovon du eben sprachst, ein Freund von mir war, der meine Geschichte kennt, so wird er dich überzeugt haben, daß ich nicht anders als mißtrauisch gegen die Mitmenschen sein könne. Der Gott Israels stehe dem bei, der am Ende seines Lebens sich zu diesem Geständnis gezwungen sieht. Es gibt nur wenige, die ich liebe, aber es gibt doch welche. Zu diesen gehört eine Seele, die« – er führte die Hand des Mädchens zärtlich an die Lippen – »eine Seele, die bis zu dieser Stunde selbstlos mir gehörte und mir ein so süßer Trost war, daß ich sterben müßte, wenn sie jetzt mir entrissen würde.«
Esther senkte den Kopf, bis ihre Wange die seinige berührte. »Meine andere Liebe ist nur noch eine Erinnerung, ich kann von ihr bloß sagen, daß sie wie ein Segen des Herrn eine ganze Familie umfaßt, wenn ich nur« – seine Stimme sank und zitterte – »wenn ich nur wüßte, wo sie sind.«
Ben Kurs Gesicht rötete sich vor Erregung. Einen Schritt vortretend, rief er ungestüm: »Meine Mutter, meine Schwester! Sie sind's von denen du redest!«
Esther blickte auf, als ob diese Worte an sie gerichtet wären. Simonides gewann wieder seine Ruhe und sagte kalt: »Höre mich zu Ende! Weil ich bin, der ich bin, und um der Liebe willen, von der ich gesprochen habe, bring zuerst, wie es recht und billig ist, Beweise für deine Abkunft. Dann erst werde ich auf deine Frage über mein Verhältnis zum Fürsten Hur Antwort geben. Hast du schriftliche Beweise? Oder hast du Zeugen in Person?«
Ben Hur antwortete nicht. Ein solches Verlangen hatte er nicht vorausgesehen. Jetzt, da dasselbe an ihn gestellt wurde, kam ihm wie nie zuvor die erschreckende Einsicht, daß die drei auf der Galeere zugebrachten Jahre alle Beweise seiner Persönlichkeit vernichtet hatten. Er hatte wohl Bekannte, aber was wußten sie über ihn? Wäre Quintus Arrius zugegen gewesen, was hätte er anders über ihn aussagen können, als wie er ihn gefunden habe und daß er glaube, er sei der Sohn Hurs, wie er behaupte? Judah hatte seine Verlassenheit schon früher gefühlt; bis tief in sein Innerstes empfand er sie jetzt.
»Simonides,« sagte er endlich, »ich kann nur meine Geschichte erzählen. Ich werde es aber nur tun, wenn du bis dahin dein Urteil zurückhältst und mich wohlwollend anhören willst.«
»Sprich,« sagte Simonides, »sprich und ich werde um so lieber hören, da ich nicht geleugnet habe, daß du derjenige bist, für den du dich ausgibst.«
Ben Hur nahm nun das Wort und erzählte seine Lebensgeschichte, zwar kurz, aber mit jener Wärme, welche die Quelle aller Beredsamkeit ist. Er schilderte zunächst seine Schicksale bis zu dem Augenblick, da er mit Arrius in Misenum landete, und fuhr dann fort:
»Mein Wohltäter genoß die Liebe und das Vertrauen des Kaisers, der ihn mit Ehren und Auszeichnungen überhäufte. Der edle Mann nahm mich in gesetzlicher Form an Sohnes Statt an, und ich war nach Kräften bestrebt, mich ihm erkenntlich zu zeigen. Kein Sohn ehrte seinen Vater mehr, als ich ihn. Er wollte mich zum Gelehrten ausbilden lassen, er hätte mir die berühmtesten Lehrer der Kunst, der Philosophie, der Rhetorik verschafft. Ich lehnte sein dringendes Anerbieten ab, denn ich war ein Jude und konnte den Herrn, unsern Gott, den Ruhm der Propheten und die heilige Stadt, von David und Salomo auf den Hügeln gebaut, nicht vergessen. Du fragst mich, warum ich überhaupt die Wohltaten des Römers annahm? Ich liebte ihn, sodann hoffte ich mit seiner Hilfe den nötigen Einfluß und die Mittel zu erlangen, um das Geheimnis zu entsiegeln, das über dem Schicksal meiner Mutter und Schwester liegt. Von einem dritten Beweggrund will ich nur erwähnen, daß er mich bestimmte, mich den Waffen zu widmen und alles zu lernen, was zur gründlichen Kenntnis der Kriegskunst für unerläßlich gilt. In beharrlicher Verfolgung meines geheimen Zieles verließ ich Rom und kam nach Antiochien, um den Konsul Maxentius auf dem Feldzuge gegen die Parther, den er soeben vorbereitet, zu begleiten. In der Handhabung aller Waffen ein Meister geworden, will ich mir jetzt jene höheren Kenntnisse erwerben, die zur Führung von Mannschaften auf dem Schlachtfelde befähigen. Der Konsul hat mich in seine nächste Umgebung aufgenommen. Gestern hörte ich zufällig auf dem Schiff deinen Namen und deine Geschichte. Und so bin ich zu dir gekommen.«
Der Kaufmann schwieg; seine Züge blieben kalt und unbeweglich wie Marmor.
»O guter Simonides,« sagte Ben Hur in schmerzerfülltem Tone, »ich sehe, du bist nicht überzeugt, du mißtraust mir noch. Und da ich keine Beweise habe, daß ich der Sohn meines Vaters bin, will ich mich entfernen, um dich nicht weiter zu belästigen. Nur sei versichert, daß ich weder deine Rückkehr in die Dienstbarkeit, noch Rechenschaft von deinem Vermögen suchte. In jedem Falle hätte ich gesagt, was ich jetzt sage: Alles, was die Früchte deines Geistes und deiner Arbeit sind, ist dein; besitze es in Frieden. Ich bedarf dessen nicht im geringsten. Ehe der edle Arrius, mein zweiter Vater, jene Fahrt unternahm, die seine letzte sein sollte, setzte er mich zum Erben seines Vermögens ein, ich wurde fürstlich reich. Der Hauptanlaß meines Kommens war nur die eine Frage: Was weißt du von meiner Mutter und von Tirzah, meiner Schwester?«
Tränen rannen über Esthers Wangen herab; der Kaufmann aber blieb hart; mit fester Stimme sprach er:
»Wie gesagt, ich kannte den Fürsten Hur. Ich erinnere mich, vom Unglück gehört zu haben, welches seine Familie traf. Derjenige, der die Witwe meines Freundes in solches Elend stürzte, ist derselbe, der, von gleichem Geiste getrieben, seither auch mich verfolgte. Ich gehe noch weiter und sage dir, daß ich die eifrigsten Nachforschungen über die Familie angestellt habe, allein ich habe dir über sie nichts zu berichten.«
Ben Hur seufzte tief auf.
»Dann – dann ist wieder eine Hoffnung zunichte,« rief er, mit seinen Gefühlen kämpfend. »Ich bin an Enttäuschungen gewöhnt. Ich bitte dich, meine Zudringlichkeit zu verzeihen, und wenn ich dich belästigt habe, vergib es mir um meines Kummers willen. Mein Leben kann fürder nur noch einen Zweck haben – die Rache. Lebet wohl!«
Beim Türvorhang angekommen, wandte er sich nochmals um und sagte einfach: »Ich danke euch beiden!«
»Der Friede begleite dich!« erwiderte der Kaufmann.
Kaum hatte Ben Hur das Zimmer verlassen, da veränderte sich der Gesichtsausdruck des Simonides. Er gab mit einer auf dem Tisch stehenden Glocke ein Zeichen, worauf ein Mann, sich tief verneigend, eintrat.
»Hierher, Malluch, näher zum Stuhle!« gebot der Herr. »Ich habe einen Auftrag, der erfüllt werden muß, und sollte die Sonne aus ihrer Bahn gehn. Höre! Soeben geht ein junger Mann nach den Warenräumen hinab, er ist schlank gewachsen, hat ein angenehmes Äußeres und die Kleidung der Israeliten. Folge ihm so treu wie sein Schatten, und jede Nacht sende mir Bericht, wo er sich aufhält, was er tut und in welcher Gesellschaft er sich befindet. Kannst du, ohne entdeckt zu werden, seine Gespräche belauschen, so berichte sie mir Wort für Wort, wie überhaupt alles, was du über seine Person, seine Gewohnheiten, seine Absichten und seinen Lebenslauf in Erfahrung bringst. Verstehst du? Geh schnell!«
Der Mann grüßte wie zuvor und ging.
Darauf rieb sich Simonides lachend die mageren Hände.
»Was für ein Tag ist heute, Tochter?« fragte er in seiner fröhlichen Stimmung. »Was für einen Tag haben wir? Ich will ihn mir als einen Tag des Glückes merken. Sieh lachend nach, Esther, und lachend sag' es mir!«
Seine Fröhlichkeit erschien ihr unnatürlich, und sie sah ihn fragend an.
»Esther, mein gutes Kind,« sagte Simonides zärtlich, »um dir zu schildern, warum ich heute glücklich bin, muß ich dir meine Geschichte erzählen. Ich verbarg sie dir bisher, weil du ja noch ein halbes Kind warst. Ich wurde im Tale Hinnon auf der Südseite des Berges Sion in einer Gruft geboren. Meine Eltern waren jüdische Leibeigene und pflegten die Feigen- und Olivenbäume und die zahlreichen Weinstöcke in den königlichen Gärten beim Teiche Siloa. Als Knabe half ich ihnen. Sie gehörten jener Klasse an, die an immerwährende Dienstbarkeit gebunden ist. Sie verkauften mich an den Fürsten Hur, der damals nach dem Könige Herodes der reichste Mann Jerusalems war. Dieser sandte mich in sein Warenhaus nach Alexandrien in Ägypten, wo ich großjährig wurde. Ich diente ihm sechs Jahre; im siebenten wurde ich nach dem Gesetze Mosis frei.«
Esther klatschte leicht in die Hände.
»Du bist also nicht seines Vaters Leibeigener!«
»Höre nur weiter, Tochter! Als meine Dienstzeit abgelaufen war, kam ich nach Jerusalem hinauf, um das Osterfest zu feiern. Mein bisheriger Gebieter gewährte mir gastliche Aufnahme. Ich liebte ihn bereits und bat ihn, mich in seinem Dienste zu belassen. Er willigte ein und ich diente ihm weitere sieben Jahre, aber als gedungener Sohn Israels. In seinem Namen leitete ich den Handelsverkehr zu Wasser und auf dem Lande; ich führte Karawanen bis nach Susa und Persepolis im Osten und in die noch ferneren Seidenländer. Es waren gefahrvolle Reisen, meine Tochter, aber der Herr segnete alles, was ich unternahm. Eines Tages war ich Gast des Fürsten in seinem Hause in Jerusalem. Eine Dienerin trat ein und reichte auf einer Platte einige Schnitten Brotes. Sie kam zuerst zu mir. Damals sah ich deine Mutter zum ersten Male und liebte sie, und diese Liebe nahm ich als Geheimnis meines Herzens mit mir. Nach einer Weile kam die Zeit, da ich den Fürsten besuchte, um sie zum Weibe zu begehren. Er teilte mir mit, daß sie eine Leibeigene auf Lebenszeit sei, erklärte sich aber bereit, um mir zu willfahren, sie freizulassen, wenn sie es wünsche. Sie erwiderte meine Liebe, fühlte sich aber in ihrer Stellung glücklich und nahm die angebotene Freiheit nicht an. Ich bat und flehte und kam in langen Zwischenräumen immer wieder. Ihre Antwort lautete stets, sie wolle mein Weib werden, wenn ich ihr Genosse in der Dienstbarkeit würde. Unser Vater Jakob diente zweimal sieben Jahre um seine Rahel. Konnte ich nicht ein Gleiches für die meinige tun? Deine Mutter aber wollte, daß ich gleich ihr lebenslänglich dienen sollte. Ich ging fort, kehrte aber wieder zurück. Sieh her, Esther!«
Er zeigte auf sein linkes Ohrläppchen.
»Siehst du die Narbe der Pfrieme?«
»Ich sehe sie,« antwortete sie; »o, nun erkenne ich, wie sehr du meine Mutter liebtest!«
»Sie nicht lieben, Esther! Sie war mir mehr als die Sulamitin dem königlichen Sänger, sie war mir wie eine Quelle im Garten, wie ein Brunnen lebendigen Wassers, wie die Ströme des Libanon! Mein Herr brachte mich auf meine Bitte zu den Richtern, führte mich dann an die Tür seines Hauses, stach die Pfrieme durch mein Ohr in den Türpfosten, und ich war sein Leibeigener auf Lebenszeit. So gewann ich meine Rahel. War jemals eine Liebe der meinigen gleich?«
Esther beugte sich zu ihm herab und küßte ihn. Schweigend gedachten sie der Toten.
»Mein Gebieter ertrank im Meere,« fuhr der Kaufmann fort. »Das war der erste Schmerz, der über mich kam. Trauer herrschte in seinem Hause und in dem meinigen hier in Antiochien, wo ich schon damals wohnte. Nun, Esther, merk' auf! Als der gute Fürst verunglückte, war ich bereits erster Verwalter seines Vermögens, alles, was er besaß, stand unter meiner Leitung und Obsorge. Urteile danach, wie sehr er mich liebte und mir vertraute! Ich eilte nach Jerusalem, um der Witwe Rechenschaft abzulegen. Sie beließ mich in meiner Stellung. Ich wandte nun noch größeren Fleiß auf. Das Geschäft blühte und wuchs von Jahr zu Jahr. Zehn Jahre vergingen, dann kam das Unglück, von dem, wie du hörtest, der junge Mann erzählte – der Zufall, wie er ihn nannte, der den Prokurator Gratus traf. Der Römer behauptete, es sei ein Versuch gewesen, ihn meuchlings zu ermorden. Unter diesem Vorwand zog er mit Roms Erlaubnis das ganze unermeßliche Vermögen der Witwe und der Kinder für sich ein. Hier blieb er jedoch nicht stehn. Um jeder Umstoßung des Urteils vorzubeugen, beseitigte er alle Beteiligten. Von jenem schrecklichen Tage an ist die Familie Hur verschollen. Der Sohn, den ich als Kind sah, wurde zu den Galeeren verurteilt. Die Witwe und die Tochter schmachten wohl in einem der vielen Kerker Judäas, die, einmal hinter den Unglücklichen geschlossen, wie Gräber versiegelt sind.«
In Esthers Augen glänzten Tränen.
»Du hast ein gutes Herz, Esther, wie deine Mutter. Doch höre weiter! Ich ging nach Jerusalem hinauf, um meiner Wohltäterin zur Seite zu stehen. Am Stadttor wurde ich ergriffen und in ein tiefes Verlies der Burg Antonia gebracht, weshalb, wußte ich nicht, bis Gratus selbst kam und von mir die dem Hause Hur gehörigen Gelder verlangte. Er wußte, daß sie nach jüdischem Geschäftsgebrauche auf meine Anweisung hin auf allen Handelsplätzen der Welt ausgefolgt wurden. Er befahl mir, ein diesbezügliches Schriftstück zu unterzeichnen. Ich weigerte mich. Er hatte bereits die Häuser, Ländereien, Waren, Schiffe und das ganze bewegliche Eigentum derer, denen ich diente, an sich gerissen, ihr Geld hatte er noch nicht. Ich sah, daß ich ihr zerstörtes Glück wieder aufbauen könne, wenn der Herr mir gnädig war. Ich widersetzte mich dem Verlangen des Tyrannen. Er ließ mich foltern, mein Wille blieb fest, er setzte mich wieder in Freiheit, ohne etwas erreicht zu haben. Ich kam nach Hause und begann von neuem unter dem Namen Simonides von Antiochien, anstatt unter dem des Fürsten Hur von Jerusalem. Du weißt, Esther, wie das Glück mir günstig war und die Millionen des Fürsten in meinen Händen sich wunderbar vermehrten. Du weißt auch, wie ich drei Jahre später auf der Reise nach Cäsarea abermals von Gratus gefangen und zum zweiten Male auf die Folter gespannt wurde, damit ich bekenne, daß meine Güter und die Gelder seinem Konfiskationsbefehle unterworfen seien. Er erreichte seinen Zweck ebensowenig wie das erstemal. Gebrochenen Körpers kam ich nach Hause und fand meine Rahel aus Furcht und Angst um mich gestorben. Der Herr, unser Gott, lenkte – und ich lebte. Vom Kaiser selbst erkaufte ich mir die Freiheit von Verfolgung und die Erlaubnis, in der ganzen Welt Handel treiben zu dürfen. Heute ist das, was meinen Händen zur Verwaltung anvertraut wurde, zu Talenten herangewachsen, die einen Kaiser bereichern könnten.« Stolz hob er das Haupt.
»Vater,« antwortete sie mit leiser Stimme, »hat nicht der rechtmäßige Eigentümer sich eben jetzt gemeldet?«
Noch immer war sein Blick auf sie gerichtet, aber er beantwortete ihre Frage nicht. »Höre nun,« sagte er mit lauter Stimme, »höre, weshalb ich heute so heiter bin. Als der junge Mann vor mich hintrat, glaubte ich seinen Vater in der Anmut und Kraft seiner Jugend zu sehen. Ich konnte mich kaum enthalten, aufzujubeln. Ich sehnte mich, ihn bei der Hand zu nehmen und ihm die Schätze zu zeigen, die ich erworben, und ihm zu sagen: Sieh, alles das ist dein! Ich bin dein Diener, bereit, jetzt abberufen zu werden! Aber in diesem Augenblick stürmten drei Gedanken auf mich ein und hielten mich zurück. Ich will Gewißheit haben, daß er der Sohn meines Herrn ist – das war der erste Gedanke. Ist er der Sohn meines Herrn, so will ich seine Art und Gesinnung näher kennen lernen. Bedenke, Esther, was ich und andere Israeliten durch Römerhand erlitten haben. Sage mir, meine Tochter, soll es keine Sühne geben für alles das, was unser Volk erlitten hat? Lautet nicht das Gesetz: Aug' um Auge, Hand um Hand, Fuß um Fuß? O, in all diesen Jahren habe ich von Rache geträumt, um sie gebetet, für sie vorgesorgt. Ich schöpfte Geduld aus dem Anwachsen meines Vermögens, da ich dachte und hoffte, dasselbe werde mir, so wahr der Herr lebt, das Mittel sein, die Übeltäter zu bestrafen. Und da der junge Mann von seiner Ausbildung im Waffenhandwerk sprach und ihren Zweck mir nicht nennen wollte, wußte ich, während er noch redete, daß er Rache heiße. Und das, Esther, war der dritte Gedanke, der mich ruhig und hart bleiben ließ, während er für sich sprach, und mich freudig stimmte, als er gegangen war.«
Esther liebkoste die welken Hände des Vaters und sagte, als ob sie gleich ihm im Geiste die kommenden Ereignisse voraussähe: »Er ist fort. Wird er wiederkommen?«
»Ja; Malluch, der treue Diener, folgt ihm und wird ihn zurückbringen, sobald ich bereit bin.«