Lewis Wallace
Ben Hur
Lewis Wallace

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Vierundzwanzigstes Kapitel.

Dreißig Tage waren seit jener Nacht verflossen, da Ben Hur Antiochien verließ, um mit Scheik Ilderim in die Wüste zu ziehen. Etwas Wichtiges war inzwischen geschehen. Valerius Gratus wurde durch Pontius Pilatus ersetzt!

Die Erwirkung der Abberufung des ersteren kostete Simonides ganze fünf Talente in römischer Münze, die er bar an Sejanus, den damals einflußreichsten Günstling des Kaisers, zahlte. Er tat dies, um Ben Hur einen Dienst zu erweisen und die Gefahren zu verringern, denen er ausgesetzt war, während er in und um Jerusalem nach seinen Angehörigen forschte. Zu einem so frommen Zwecke bestimmte der treue Diener seine Gewinste aus den Wetten mit Drusus und dessen Gefährten. Diese wurden, nachdem sie ihre Wetten bezahlt hatten, naturgemäß Feinde Messalas. Was diesen anbetraf, so war die Frage seiner Zahlungsweigerung in Rom noch nicht entschieden.

So kurze Zeit auch seit dem Wechsel in der Regierung Palästinas verstrichen war, so wußten die Juden doch bereits, daß er für sie keine Änderung zum Besseren bedeute.

Die Kohorten, welche die Besatzung der Burg Antonia ablösen sollten, zogen bei Nacht in die Stadt ein. Das erste, was den Bewohnern der umliegenden Häuser am nächsten Morgen in die Augen fiel, war, daß die Mauern der alten Burg mit militärischen Abzeichen geschmückt waren. Zum Unglück bestanden diese in Büsten des Kaisers, zwischen denen sich römische Adler und Reichsäpfel befanden. Eine erregte Menge zog nach Cäsarea, wo Pilatus noch weilte, und beschwor ihn, die verhaßten Bilder zu entfernen. Schließlich sah Pilatus ein, daß es besser sei, dem Volke diesmal nachzugeben, und er ließ die Bilder und Abzeichen nach Cäsarea bringen, wo Gratus mit mehr Rücksicht auf die Gefühle der Juden die verhaßten Gegenstände während der elf Jahre seiner Amtszeit aufbewahrt hatte.

Der schlimmste Mann vollbringt zuweilen eine gute Tat, so auch Pilatus. Er verfügte eine genaue Untersuchung aller Gefängnisse in Judäa sowie die Anfertigung einer Liste der in Gewahrsam gehaltenen Personen mit Angabe der Vergehen, wegen welcher sie verhaftet worden waren. Die Untersuchung brachte überraschende Enthüllungen. Hunderte von Personen wurden in Freiheit gesetzt, gegen die überhaupt keine Anklage vorlag. Viele andere kamen ans Licht, die man längst unter die Toten gezählt hatte. Was aber noch erstaunlicher war, es wurden Kerker aufgetan, die nicht nur dem Volke zu der Zeit unbekannt, sondern tatsächlich selbst von den Gefängnisbehörden vergessen worden waren. Ein solcher Fall ereignete sich auch in Jerusalem.

Die Burg Antonia, welche die heilige Fläche des Berges Moriah zu zwei Dritteilen einnahm, war ursprünglich von den Makedoniern als Schloß erbaut worden. Später wandelte sie Johannes Hyrkanus in eine Festung zur Verteidigung des Tempels um, die zu seiner Zeit für uneinnehmbar galt. Dann kam Herodes mit seinem kühneren Geiste. Er verstärkte die Mauern und erweiterte sie und schuf so ein gewaltiges Gebäude, das alles enthielt, was zu einer starken, nach feiner Absicht unzerstörbaren Festung gehörte, als: Arbeitsräume, Kasernen, Zeughäuser, Vorratskammern, Zisternen und zuletzt, aber nicht als unwichtigsten Teil, Gefängnisse in jeder Abstufung. Er ließ den mächtigen Fels ebnen und tiefe Höhlungen in denselben graben, welche er überbaute. Die ganze Gebäudemasse verband er mit dem Tempel durch einen prachtvollen Säulengang, von dessen Dach aus man die Vorhöfe des heiligen Hauses überblicken konnte. In solchem Zustande befand sich die Burg, als sie von Herodes in die Hände der Römer überging. Mit schnellem Blick erfaßten diese ihre hohe Bedeutung und ihre Vorteile als festen Punkt und benutzten sie zu Zwecken, wie sie den Absichten dieser neuen Herren dienlich waren. Während der Verwaltung des Gratus war sie eine mit einer Besatzung versehene Zitadelle und ein unterirdisches, von den Aufwieglern gefürchtetes Gefängnis gewesen.

Der Befehl des neuen Prokurators, womit ein Bericht über die Gefangenen eingefordert wurde, war, sobald er in der Burg Antonia angelangt war, vollzogen worden. Die zusammengestellte Liste lag, zur Absendung bereit, auf dem Tisch des kommandierenden Tribuns, der müde und ungeduldig in seinem Amtszimmer saß. Plötzlich erschien ein Mann in der Tür eines angrenzenden Raumes. Er rasselte mit einem Bund Schlüssel, deren jeder so schwer wie ein Hammer war, und zog sofort die Aufmerksamkeit des Tribuns auf sich.

»Ah, Gesius, tritt ein!« sagte letzterer.

Indes der Ankömmling sich dem Tische näherte, hinter dem der Tribun in einem Lehnstuhle saß, wandten alle Anwesenden ihre Blicke ihm zu, und da sie einen gewissen Ausdruck der Besorgnis und Unruhe auf seinem Gesichte bemerkten, wurden sie stille, um zu hören, was er mitzuteilen habe.

»O Tribun!« begann er, sich tief verbeugend; »ich fürchte auszusprechen, was ich dir zu sagen habe.«

»Wieder ein Versehen – ha, Gesius?«

»Könnte ich mich überzeugen, daß es sich nur um ein Versehen handelt, so würde ich mich nicht fürchten.«

»Also ein Verbrechen – oder, noch schlimmer, eine Pflichtverletzung? Du magst den Kaiser verspotten oder die Götter lästern und leben. Ist aber die Beleidigung gegen die Adler gerichtet – ah, du weißt, Gesius – fahre fort!«

»Es sind jetzt etwa acht Jahre, seit mich Valerius Gratus zum Gefängnisschließer hier in der Burg machte,« sagte der Mann bedachtsam. »Ich erinnere mich noch des Morgens, da ich die Pflichten meines Amtes übernahm. Tags zuvor hatten ein Auflauf und Straßenkämpfe stattgefunden. Wir erschlugen viele Juden, hatten aber auch auf unserer Seite Verluste. Die Ursache des Aufruhrs war, wie man erzählte, ein Mordanschlag gegen Gratus, der durch einen von einem Dache geschleuderten Stein getroffen und vom Pferde gestoßen wurde. Ich fand ihn mit verbundenem Kopfe hier sitzen, wo du sitzest, Tribun. Er teilte mir meine Ernennung mit und gab mir diese Schlüssel. Sie waren mit Ziffern nach den Nummern der Zellen bezeichnet. Ich sollte sie, sagte er, als Abzeichen meines Amtes betrachten und nie aus den Händen lassen. Auf dem Tische lag eine Pergamentrolle. Er rief mich zu sich und öffnete die Rolle. »Hier sind Pläne der Zellen,« sagte er. Es waren deren drei. »Dieser«, fuhr er fort, »zeigt die Zellenordnung des oberen Stockwerkes, der andere beschreibt dir das mittlere Stockwerk und der dritte gehört zum unteren Stockwerk. Ich vertraue sie dir an.« Ich nahm sie aus seiner Hand in Empfang und er setzte hinzu: »Hier in dieser Zelle des unteren Stockwerks, die mit V bezeichnet ist, werden drei Männer gefangen gehalten, verwegene Leute, die auf irgendeine Weise in den Besitz eines Staatsgeheimnisses zu gelangen wußten und jetzt ihre Neugierde büßen, und Neugierde in solchen Dingen« – er warf mir einen strengen Blick zu – »ist schlimmer als ein Verbrechen. Deshalb sind sie blind und ihrer Zungen beraubt und auf Lebenszeit dort eingekerkert. Außer Nahrung und Wasser sollen sie nichts erhalten, dies aber ist ihnen durch eine Öffnung in der Mauer, die mit einem Schieber verschlossen ist, zu reichen; du wirst sie leicht finden. Hörst du, Gesius?« Ich antwortete bejahend. »Gut!« fuhr er fort. »Noch eins, das du nicht vergessen darfst, oder« – er blickte mich drohend an – »die Tür zu ihrer Zelle soll nie geöffnet werden, zu keinem Zwecke. Niemand darf hinein- oder herausgelassen werden, auch du selbst darfst die Zelle nicht betreten.« »Aber wenn sie sterben?« fragte ich. »Wenn sie sterben,« erwiderte er, »soll die Zelle ihr Grab sein. Sie sollen dort sterben und begraben sein, dazu wurden sie hineingebracht. Die Zelle ist aussätzig. Verstehst du.« Damit entließ er mich.«

Gesius hielt inne und zog aus der Brusttasche seiner Tunika drei durch Alter und Gebrauch schon sehr vergilbte Pergamentblätter hervor. Unter diesen suchte er eines heraus und breitete es auf dem Tische vor dem Tribun aus, indem er einfach sprach: »Dies ist das untere Stockwerk.«

Alle Anwesenden blickten auf den Plan. [*Anmerkung des Lektors: In der Vorlage ist hier eine einfache Skizze abgebildet. Man kann es der Einbildungskraft des Lesers überlassen, sich den Grundriss vorzustellen.]

»Es ist genau der Plan, Tribun, wie ich ihn von Gratus habe. Sieh, hier ist Zelle Nummer V,« sagte Gesius.

»Ich sehe,« entgegnete der Tribun. »Fahre nun fort. Die Zelle ist aussätzig, hatte er gesagt.«

»Ich möchte gern eine Frage an dich stellen,« bemerkte der Schließer bescheiden.

Der Tribun nickte.

»Hatte ich unter den Umständen nicht ein Recht, den Plan für richtig zu halten?«

»Was hättest du anders tun können?«

»Nun, er ist nicht richtig.«

Der Tribun blickte überrascht auf.

»Er ist nicht richtig,« wiederholte der Schließer. »Er zeigt bloß fünf Zellen im selben Stockwerke, während doch sechs vorhanden sind.« »Sechs, sagst du?«

»Ich will dir zeigen, wie das Stockwerk in Wirklichkeit aussieht – oder vielmehr, wie ich glaube, daß es aussieht.«

Auf einem seiner Notiztäfelchen zeichnete Gesius seinen Plan und reichte ihn dem Tribun. [*Anmerkung des Lektors: Auch hier kann auf die Abbildung verzichtet werden – s. S. 243]

»Du hast wohl getan,« sprach der Tribun, die Zeichnung prüfend, und glaubte, daß die Erzählung zu Ende sei. »Ich will den Plan richtigstellen oder, noch besser, einen neuen zeichnen lassen und ihn dir geben. Morgen früh kannst du ihn holen kommen.«

Mit diesen Worten erhob er sich.

»Doch höre mich weiter, Tribun! War es nicht meine Pflicht, zu glauben, daß drei Gefangene in der Zelle seien, – Staatsgefangene – blind und ohne Zungen?«

»Natürlich!« sagte der Tribun.

»Nun, auch dieses war nicht richtig. Acht Jahre lang habe ich für drei Männer Speise und Trank durch die Öffnung in der Mauer verabreicht, ohne die Zelle je zu betreten. Gestern ging ich an jene Tür, neugierig, die Unglücklichen zu sehen, die wider alles Erwarten so lange gelebt hatten. Das Schloß widerstand dem Schlüssel. Wir rüttelten ein wenig und die Tür stürzte, aus den verrosteten Angeln fallend, zu Boden. Ich trat ein, fand aber nur einen Mann – alt, blind, ohne Zunge und nackt. Das Haar fiel ihm in steifen Strähnen über den Oberkörper herab. Seine Haut glich dem Pergamente dort. Er streckte seine Hände aus; die Fingernägel waren gekrümmt und verschlungen wie die Krallen eines Vogels. Ich fragte ihn, wo seine Gefährten seien. Er schüttelte verneinend den Kopf. In der Erwartung, daß wir die anderen finden würden, durchsuchten wir die Zelle. Der Fußboden war trocken, ebenso die Wände. Wären die Männer dort eingeschlossen gewesen und zwei von ihnen gestorben, so hätten wenigstens die Gebeine noch vorhanden sein müssen.«

»Deshalb glaubst du –«

»Ich glaube, daß überhaupt nur ein Gefangener während der acht Jahre dort war.«

Der Tribun blickte den Schließer scharf an und sprach: »Sagtest du nicht eben erst, daß für drei Männer acht Jahre lang Speise und Trank verabreicht worden sei?«

Die Anwesenden zollten dem Scharfsinn ihres Vorgesetzten Beifall, doch Gestus schien hierdurch nicht eingeschüchtert.

»Du weißt die Geschichte erst zur Hälfte, Tribun. Wenn du sie ganz kennst, wirst du mir beistimmen. Du weißt, was ich mit dem Manne tat: daß ich ihn ins Bad sandte, ihn scheren und kleiden ließ, ihn an das Tor der Burg führte und ihm sagte, daß er frei sei und gehn könne. Ich wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Heute kam er zurück und wurde zu mir geführt. Durch Zeichen und Tränen gab er mir endlich zu verstehn, daß er in seine Zelle zurückzukehren wünsche, und ich ordnete es an. Als man ihn fortführen wollte, riß er sich los, küßte meine Füße und bat mich mit rührendem stummen Flehen mitzugehn, und ich ging. Das Geheimnis der drei Männer wollte mir nicht aus dem Sinn. Ich war darüber nicht beruhigt. Jetzt bin ich froh, daß ich seiner Bitte nachgab.«

Die ganze Gesellschaft hörte in atemloser Stille zu.

»Als wir wieder in der Zelle waren, und der Gefangene es merkte, erfaßte er schnell meine Hand und führte mich an eine Öffnung, ähnlich jener, durch welche wir ihm die Nahrung zu reichen pflegten. Wenn auch weit genug, um deinen Helm hindurchzulassen, war sie gestern doch meinen Augen entgangen. Noch immer meine Hand haltend, brachte er sein Gesicht nahe an die Öffnung und ließ einen tierischen Schrei hören. Ein schwacher Laut kam als Antwort zurück. Ich war erstaunt, zog ihn hinweg und rief hinein: ›Wer da?‹ Anfangs erfolgte keine Antwort. Ich rief abermals, und nun vernahm ich die Worte: ›Sei gepriesen, o Herr!‹ Was mich noch mehr in Erstaunen setzte, war, daß die Stimme wie die einer Frau klang. Ich fragte: ›Wer bist du?‹ und erhielt zur Antwort: ›Eine Frau aus Israel, die hier mit ihrer Tochter begraben ist. Hilf uns schnell, oder wir müssen sterben!‹ Ich hieß sie guten Mutes sein und eilte hierher, um deinen Willen kennenzulernen.«

Der Tribun erhob sich hastig.

»Du hattest recht, Gesius,« sprach er. »Mir sind nun die Augen geöffnet. Der Plan war eine Lüge und die Geschichte von den drei Männern nicht minder. Es hat bessere Römer gegeben als Valerius Gratus.«

»Ja,« sprach der Schließer. »Ich brachte aus dem Gefangenen heraus, daß er von dem ihm gereichten Essen regelmäßig den Frauen mitgeteilt hatte.«

»Nun läßt sich alles erklären,« erwiderte der Tribun. Wie sein Blick auf seine Freunde fiel, kam ihm der Gedanke, wie gut es sei, Zeugen zu haben, und er setzte hinzu: »Laßt uns die Frauen befreien. Kommt alle!« Gesius war gern bereit.

»Wir werden die Mauer durchbrechen müssen,« sagte er. »Ich fand wohl die Stelle, wo sich die Tür befunden hatte, aber sie ist mit Steinen und Mörtel wohl ausgefüllt.«

Der Tribun wandte sich an einen Schreiber und sprach: »Laß Arbeiter mit Werkzeugen kommen. Beeile dich; aber halte den Bericht zurück, denn ich sehe, daß er wird abgeändert werden müssen.« Die Unglücklichen, die in dem Verlies lebendig begraben gewesen, waren niemand anders als Ben Hurs Mutter und Schwester. Gratus hatte sie hier einkerkern lassen, weil gerade diese Zelle am leichtesten in Vergessenheit geraten konnte, und auch weil sie vom Aussatz angesteckt war. Durch Sklaven ließ er sie bei Nacht hier hineinführen, und diese Sklaven wurden dann, nachdem sie noch die Tür vermauert hatten, in weite Ferne verschickt. Sie direkt zu töten, wagte der Römer doch nicht, und um ihnen die Möglichkeit zu lassen, ihr Leben fortzufristen, suchte er sich einen Sträfling, der geblendet und seiner Zunge beraubt worden war, und verschloß ihn in die einzige mit der ihrigen in Verbindung stehende Zelle, damit er ihnen Nahrung und Wasser reiche. Unter keinen Umständen konnte dieser Unglückliche das Geheimnis verraten oder offenbaren, wer die Gefangenen seien oder wer ihr Urteilsprecher. Dieses schlaue Verfahren, das zum Teil von Messala eingegeben war, sollte dem Römer unter dem Schein einer über eine Mörderbande verhängten Strafe den Weg bahnen zur Einziehung des Vermögens der Familie Hur, von dem übrigens auch nicht ein Teil jemals in die kaiserliche Schatzkammer gelangte. Der letzte Schritt in Ausführung dieses Planes war, daß Gratus den früheren Gefängnisschließer ohne Umstände entließ, neue Pläne zeichnen ließ, in denen die Zelle VI ausgelassen war, und sie einem neuen Schließer übergab.

Acht Jahre lang hatten die Mutter und Schwester Ben Hurs ein qualvolles Leben geführt. Durch eine einzige kleine Öffnung drang ein wenig frische Luft und bei Tag ein schwacher Lichtstrahl herein, kaum genügend, das Dunkel ein wenig zu erhellen. Wie viele Stunden hatten sie vor dieser kleinen Lichtöffnung gesessen, und ihre Gedanken waren hinausgewandert, um den verlorenen Sohn und Bruder zu suchen. Es gewährte ihnen einen süßen Trost, daß sie sich sagen konnten: »Solange er lebt, sind wir nicht vergessen. Solange er unser gedenkt, ist Hoffnung!«

In ihrem Aussehen hatte sich übrigens eine Veränderung vollzogen, die sich weder durch die Zeit, noch durch die Marter der langen Einkerkerung erklären ließ. Die Mutter war ehedem ein schönes Weib, die Tochter ein schönes Kind gewesen. Jetzt konnte selbst die Liebe nichts Ähnliches von ihnen sagen. Ihr Haar war lang und ungekämmt und von seltsam weißer Farbe. Ihr Anblick machte in unerklärbarem Abscheu schaudern und erbeben. Es mochte dies eine Wirkung des trügerischen Lichtscheines sein, der trübe durch das drückende Dunkel schimmerte. Oder sie litten vielleicht an den Qualen des Hungers und Durstes, da sie weder zu essen noch zu trinken erhalten hatten, seit ihr Diener, der Sträfling, fortgeschickt worden war.

Tirzah, an die Mutter gelehnt und sie halb umschlingend, stöhnte in mitleiderregender Weise.

»Sei ruhig, Tirzah! Sie werden kommen. Gott ist gut. Wir haben seiner gedacht und nicht vergessen zu beten, so oft drüben im Tempel die Trompeten erschollen. Das Licht, siehst du, ist noch hell, die Sonne steht noch am südlichen Himmel und es ist kaum mehr als die siebente Stunde. Es wird gewiß jemand zu uns kommen. Haben wir Vertrauen! Gott ist gut.«

Tirzah hob wie flehend die Hände und stöhnte wieder: »Wasser, Mutter, Wasser, nur einen Tropfen!«

Die Mutter starrte in äußerster Hilflosigkeit umher. »Geduld, Tirzah, sie kommen, bald werden sie hier sein!«

Es kam ihr vor, als hörte sie ein Geräusch in der Nähe des kleinen Schiebers in der Scheidemauer, durch den allein sie in der Wirklichkeit mit der Welt Verkehr hatten. Und sie täuschte sich nicht. Gleich darauf tönte der Schrei des Sträflings durch die Zelle. Auch Tirzah hörte ihn und beide standen auf, sich noch immer umschlungen haltend.

»Gepriesen sei der Herr in Ewigkeit!« rief die Mutter mit der Inbrunst neugestärkten Glaubens und wiedererwachender Hoffnung.

»Wer da?« hörte sie jetzt fragen, und dann: »Wer bist du?«

Die Stimme war ihnen fremd. Was tat es? Abgesehen von Tirzahs Gesprächen waren dies die ersten und einzigen Worte, die die Mutter seit acht Jahren gehört hatte. Der Umschwung war mächtig – vom Tod zum Leben – und so plötzlich!

»Eine Frau aus Israel, die hier mit ihrer Tochter begraben ist. Hilf uns schnell oder wir müssen sterben!«

»Seid guten Mutes, ich werde sogleich wiederkommen!«

Die Frauen schluchzten laut. Sie waren gefunden, Hilfe nahte. Gleich zwitschernden Schwalben flogen ihre Hoffnungen von einem Wunsch zum andern. Sie waren gefunden, sie würden befreit werden. Das spärliche Licht der Zelle leuchtete ihnen wie der strahlende Tag, und alle Leiden, Hunger und Durst und drohende Todesnähe vergessend, sanken sie zu Boden und weinten, noch immer eng umschlungen.

Und diesmal sollten sie nicht lange warten. Der Tribun handelte ungesäumt. »He, da drinnen!« rief er durch die Öffnung.

»Hier!« sagte die Mutter, sich erhebend.

Und jetzt hörte sie es an einer anderen Stelle der Mauer hallen wie von Schlägen gegen die Mauer. Es waren rasche Schläge, nicht dumpf, sondern mit eisernen Werkzeugen geführt. Sie sprach kein Wort, auch Tirzah schwieg. Sie wußten, was all dies zu bedeuten habe, und horchten, – der Weg zur Freiheit wurde ihnen gebahnt. Mit kräftigem Arm und geschickter Hand bearbeiteten die Männer draußen die Mauer, dann und wann fiel ein Stein polternd zu Boden, die Freiheit kam näher und näher. Dann – o Glück! – schimmerte durch einen Spalt der rötliche Schein von Fackeln und durchdrang das Dunkel der Zelle wie der freundliche Strahl der Morgensonne.

Jetzt fiel inwendig ein Stein, und noch einer – dann eine große Masse, und die Tür war offen. Ein mit Staub und Mörtel bedeckter Mann trat ein und blieb, eine Fackel hoch emporhaltend, stehn. Es folgten noch zwei oder drei Männer mit Fackeln und stellten sich an die Seite, um den Tribun einzulassen.

Achtung vor dem weiblichen Geschlechte ist nicht eine willkürlich festgesetzte Förmlichkeit, denn sie ist die beste Anerkennung der demselben eigentümlichen Würde. Der Tribun blieb stehn, denn sie flohen vor ihm – nicht aus Furcht, sondern aus Schamgefühl, indes nicht aus Schamgefühl allein! Aus dem Dunkel der Ecke, in der sie sich zu bergen suchten, drangen diese Worte an sein Ohr, die traurigsten, schrecklichsten, verzweiflungsvollsten, die eine menschliche Zunge sprechen kann:

»Nahe dich uns nicht – unrein, unrein!«

Die Männer hielten unbeweglich die flackernden Fackeln und sahen einander starr an.

»Unrein, unrein!« erscholl es wieder aus der Ecke in leisem, zitterndem, äußerst schmerzvollem Klageton. Ein ähnlich schmerzerfüllter Seufzer mag sich der Brust des Menschen entrungen haben, als die Tore des Paradieses sich hinter ihm schlossen und er sehnsüchtig zurückblickte.

Sie und Tirzah waren – Aussätzige!

Furchtbar waren die Bestimmungen, die im Orient für Aussätzige galten. Wie Tote wurden sie behandelt, selbst die nächsten Angehörigen durften nur aus der Ferne zu ihnen sprechen. In zerrissenen Kleidern mußten sie einhergehen und den Mund verhüllt halten, außer wenn sie den Warnungsruf: »Unrein! Unrein!« ausstießen. In verlassenen Grabhöhlen und Wüsten wohnten sie, und der Tod war ihre einzige Hoffnung. Einst – den Tag oder das Jahr hätte sie nicht angeben können, denn unten im schaurigen Grabe hatte sie auch die Zeitrechnung verloren – einst fühlte die Mutter einen trockenen Schorf in der Fläche der rechten Hand, einen unbedeutenden Ausschlag, den sie abzuwaschen versuchte. Er blieb hartnäckig an der Stelle haften, indes beachtete sie kaum das Anzeichen der beginnenden Krankheit, bis Tirzah sich beklagte, daß auch sie von dem nämlichen Übel ergriffen sei. Sie fühlten dabei nicht so sehr Schmerz als vielmehr ein beständig zunehmendes Unbehagen. Später begannen ihre Lippen auszudörren und aufzuspringen. Die Nägel an den Fingern lösten sich ab, und die Mutter erkannte, daß es Aussatz war.

Aber in ihrer Mutterliebe begrub sie ihre Erkenntnis in ihrem Herzen und war nur bestrebt, vor ihrer Tochter zu verbergen, von welcher Krankheit sie befallen war. Bis die Krankheit sich immer mehr ausbreitete und Tirzah endlich die furchtbare Wahrheit erkannte. Da beteten sie in der ersten furchtbaren Verzweiflung um einen baldigen Tod.

Indes hatten diese unglücklichen Frauen doch noch ein Band, das sie an die Erde knüpfte. Uneingedenk ihrer eigenen Verlassenheit, hielten sie sich einigermaßen aufrecht, indem sie von Ben Hur redeten und träumten. Mit der Hoffnung, einst wieder mit ihm vereinigt zu werden, tröstete die Mutter die Tochter und diese die Mutter, und beide zweifelten keinen Augenblick, daß auch er ebenso treu ihrer gedenke und ebenso heiß nach dem Wiedersehen sich sehne. In dieser Weise sprachen sie sich gegenseitig Mut zu auch in dem Augenblick, da Gesius sie rief, nachdem sie zwölf Stunden lang Hunger und Durst gelitten hatten.

Mit Schaudern vernahm der Tribun den Warnungsruf vor dem Aussatz, aber er blieb doch.

»Wer seid ihr?« fragte er.

»Zwei vor Hunger und Durst sterbende Frauen. Aber«, setzte die Mutter ohne Zögern hinzu, »nahe dich uns nicht und berühre weder den Boden noch die Wände. Unrein, unrein!«

»Erzähle mir deine Geschichte, Weib, – wie du heißt, wann du hierhergebracht wurdest, durch wen und warum!«

»Einst lebte in dieser Stadt Jerusalem ein Fürst Ben Hur, der Freund aller edlen Römer, der selbst den Kaiser seinen Freund nannte. Ich bin seine Witwe und diese hier ist sein Kind. Wie soll ich dir sagen, warum wir hier eingekerkert wurden, da ich es selbst nicht weiß, wenn es nicht etwa unseres Reichtums wegen geschah? Valerius Gratus kann dir sagen, wer unser Feind war und wann unsere Gefangenschaft ihren Anfang nahm. Ich weiß es nicht. Sieh, was aus uns geworden ist – o sieh und hab' Erbarmen!«

So drückend schwer auch die Luft infolge von Pestgeruch und Fackelrauch war, so rief der Römer doch einen Fackelträger an seine Seite und schrieb die Antwort fast Wort für Wort nieder. Sie war kurz und bündig, aber vielsagend und enthielt zugleich eine Geschichte, eine Anklage und eine Bitte. Eine ungebildete Person hätte sie unmöglich so geben können; er konnte nicht anders als Mitleid haben und glauben.

»Dir soll geholfen werden, Weib!« sprach er, sein Täfelchen zu sich nehmend. »Ich werde dir Speise und Trank bringen lassen.«

»Und Kleidung und Wasser zur Reinigung, bitten wir, edler Römer!«

»Wie du willst,« erwiderte er.

»Gott ist gut!« sagte die Mutter unter Schluchzen. »Möge sein Friede stets mit dir sein!«

»Noch eins,« fügte er hinzu; »ich werde dich nicht mehr sehen können. Mache deine Vorbereitungen, denn heute nacht werde ich dich an das Tor der Burg bringen und in Freiheit setzen lassen. Das Gesetz kennst du. Lebe wohl!«

Er sprach noch mit den Männern und verließ die Zelle.

Kurz nachher erschienen Sklaven und brachten einen großen Steinkrug mit Wasser, ein Waschbecken und Handtücher, eine Platte mit Brot und Fleisch und einige Kleidungsstücke für Frauen. Nachdem sie alles in einiger Entfernung von den Gefangenen auf den Boden gestellt hatten, liefen sie eilig hinaus.

Ungefähr um die Mitte der ersten Nachtwache wurden die beiden an das Tor geführt und auf die Straße befördert. So schaffte sie der Römer sich vom Halse und sie waren in der Stadt ihrer Väter wiederum frei.

Sie blickten zu den Sternen empor, die freundlich wie vor alter Zeit am Himmel funkelten; dann fragten sie sich: Was nun? Und wohin?


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